Tödlicher Lärm
…überlegen Sie es sich gut weiter zu schnarchen. Es könnte registriert werden. Könnte Unmut hervorrufen. Könnte sie töten…
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Langsam fängt es an; langsam, verhalten und leise. Anfänglich langsam, dann immer intensiver. Stetig nimmt die Lautstärke zu. Nimmt ihr die Luft zum Atmen. Wie das Hochdrehen des Lautstärkereglers an einer Stereoanlage. Einer sehr, sehr gewaltigen Stereoanlage. Es ist wie bei einem Wettbewerb – aber es gibt keinen Gegner. Nur einen Zuhörer. Einen Zuhörer wider Willen. Den Willen hat man ihr genommen. Den eigenen Willen zumindest. Geduldig lässt sie es geschehen. Alles Gewohnheit - schlechte, verzichtbare Gewohnheit. Doch so wie sie es jeden Tag erduldet, erduldet sie es auch heute. Doch heute ist es anders. Es ist still. Totenstill. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Ein ängstliches, angespanntes, alles abwartende Lächeln. Kein Lächeln, das sich von Freude nährt. Eher von zarter Scheu. Sie hat wenig gelächelt in den letzten Jahren. Eigentlich nie. Es gab wenig zu lächeln in den letzten Jahren. Nur hinnehmen, alles hinnehmen. Stumm erduldet hat sie nur – alles hingenommen, nichts hinterfragt. Wieso auch, geändert hätte es nichts. Alles lief in scheinbar geraden Bahnen. Alles schien irgendwie vorbestimmt. Alles schien irgendwie glatt und kalt. Hätte sie sich weigern sollen, sich dem Unausweichlichen nicht fügen? Langsam streichen ihre Fingerkuppen über seinen Brustkorb, seinen Hals, seinen Wangen. Glatt fühlt er sich an. Glatt, kalt und perfekt. Kein Geräusch stört diese weihevolle Stille, dieses besondere Gefühl absoluter Reinheit. Ja, auch Lärm kann schmutzig sein. Kann Ohren zumüllen. Kann jede Freude nehmen. Kann jede Freude am Schlafen rauben. Ihre Hand verweilt an seiner Wange – noch wagt sie keinen Blick. Will nichts riskieren; riskieren dass dieser Moment der Realität weicht – und sich dann für immer verliert. Zu perfekt ist dieser Augenblick, und so voll Schönheit – und enden soll er nie.
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Wie durch Watte dringen die Geräusche der Umgebung an ihre Ohren. Sie ist bloß Zuhörerin, Zuhörerin wider Willen – wie sie es immer ist. Und trotzdem verlangt man von ihr aufzustehen; aufzustehen und dieses Ensemble der Perfektion zu verlassen. In weiter Ferne fragen Männerstimmen, ob sie am Geschehen teilnehme, alles verstünde. Aufstehen solle sie, um dem Gericht die Ehre zu erweisen. Sie macht mit. Sie gehorcht. So wie sie immer mitgemacht und gehorcht hat. Natürlich steht sie auf und nickt zustimmend. Zustimmend, wie sie immer genickt hat, wenn man ihr Einverständnis eingefordert hatte. Befehlen können sie ihr, aber keiner kann ihr die Zeiten der Perfektion nehmen; der Perfektion und Vollkommenheit - und der Stille. Langsam gleiten ihre Finger über seinen Brustkorb, seinen Hals, seinen Wangen. Glatt fühlt er sich an. Glatt, kalt und perfekt. Der perfekte Liebhaber war er gewesen. Hat nichts gefordert – hat nur gegeben. Stille und Ruhe hat er gegeben. Hat nie seinen Pyjama, oder das Bettzeug verschwitzt. Nein, so etwas hätte er nie getan. Er war perfekt, kalt und glatt. Sie weiß, dass sie nicht zu ihm würde zurückkehren dürfen. Alles Schöne, alles Perfekte so vergänglich! Man wird verhindern, dass sie nebeneinander glücklich sind. Es war ihr vom Anfang an klar, dass dieses Glück endlich ist. Das gemeinsame Glück würde auffallen und Neider finden – und man würde es beenden; und so ist es auch gekommen. So kalt, glatt und unweigerlich.
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Schemenhaft ziehen die Bilder ihres Abtransportes an ihr vorüber. Die Schreie der Menschen, das Entsetzen. Die Menschen, die nicht verstehen, was sie hier tun. Die alles zunichtemachen, was sie sich aufgebaut hat. Ihre ganze Existenz steht auf dem Spiel. Ein Spiel, das sie verlieren wird. Soviel ist ihr klar. Die vielen Menschen mit ihren vielen Fragen. Und keine Stille mehr. Keine Stille mehr, bis auch sie schreit. Schreit und nicht mehr aufhören kann. Ihr Körper windet sich im Krampf. Ihr Körper kann das Geschehen nicht dulden. Ihr Körper kann aber nichts ausrichten. Einfach zu viele Menschen. Zu viele Menschen die nicht verstehen. Sie muss jetzt alles, was ihr in den letzten Jahren widerfahren ist hinausschreien. Allen Lärm der Vergangenheit. Ein nichtendender Strom der Verzweiflung bahnt sich verzweifelt den Weg zu den vielen Ohren. Jenen Ohren der vielen Menschen um sie, die nicht verstehen. Erst jetzt kommt die Spritze. Erst jetzt umhüllt sie eine trügerische Stille. Erst jetzt entspannen sich ihre Muskeln. Erst jetzt kann man sie auf die Trage legen und fixieren. Und plötzlich ist es still. Still, kalt und unwirklich.
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Man kann nicht sagen, dass alles geplant gewesen wäre. So etwas kann man nicht planen. So etwas kann sie nicht planen. Nein, vielmehr reifte ein Samen in ihrem Kopf. Immer wenn der Lärm neben ihr die Grenze des Erträglichen überschritt, reifte der Samen weiter. Ein langsamer, stetiger Prozess hatte sich in Gang gesetzt. Ein Prozess, bei dem das Böse allmählich den Schrecken verlor. Und wie gesagt, es war anfänglich nur stummer Zorn, aufgestaute Wut. Nur allmählich nahmen die Gefühle und Gedanken Form an. Allmählich ordneten sich die Gedanken und formten konkrete Pläne. Pläne bei denen es keine Verlierer gab. Jeder sollte gewinnen. Jeder sollte das bekommen, was er verdient. Und Gott weiß wie sehr sie sich nach Glück sehnte. Nach Glück und Stille.
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Wenn der Lärm endete, begann ein anderes Martyrium. Dann wurde sie bestiegen. Bestiegen und genommen. Anders kann man es nicht formulieren. Jede Frau, der das wiederfahren ist, kennt dieses Gefühl der stummen Ohnmacht. Kennt das Gefühl des Hasses, dass man dabei empfindet. Die kalte Wut gegen sich selbst, weil man nicht schreit, sich nicht wehrt. Nur alles erträgt – stumm erträgt, bis das Herz erfriert. Doch Gefühle erfrieren nie zur Gänze. Ein stummer Groll bleibt auch noch nach Jahren. Und genau dieser Groll kann reifen. Reifen wie ein Samen im Gehirn. Das Leben sollte ihr noch ein wenig Wärme bieten. Nur ein wenig Wärme und Geborgenheit. Damit könnte sie leben. Das würde ihr kleines Glück sein. Das würde ihr schon genügen. Aber wie sollte sie es anstellen, wie sollte sie alle zufrieden stellen? Nach unendlich scheinenden zehn Minuten findet auch diese Prozedur ihr einschläferndes Ende; man lässt von ihr ab. Dann kommt der Lärm wieder – mächtiger als zuvor. Solche abscheulichen Bedürfnisse hatte „er“ nicht, als er so dalag – glatt, kalt und perfekt. Sicherheitshalber greift sie ihm in den Schritt. Keinerlei Regung. Das Glück, das ihr so lange verwehrt schien war jetzt da. Zufrieden liegt sie da und ein kleiner Seufzer entfährt ihrer Brust. Entsetzt lauscht sie, ob ihr Verhalten Unmut geweckt hat. Doch nichts zu hören. Alles still, alles gut - und aufhören soll es nie!
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Die vielen Lichter stören ihre Gedanken. Die vielen Blaulichter und die Sirenen. Aber da ist auch die Teilnahmslosigkeit, die Watte, seit der Spritze. Wiese kann sie nicht mehr schreien? Wieso hat man ihr ihren Liebsten nehmen können? Wieso lässt man sie nicht in Frieden? Wieso kümmert man sich um sie? Wieso stellt sie niemand diese Fragen, sondern liegt nur da, reglos und teilnahmslos? Sie kann es sich nicht erklären, kann nichts dagegen tun. Endlos scheint die Fahrt, endlos ist auch ihre Trauer. Sie haben „ihn“ nicht mitgenommen, obwohl sie „ihn“ fest umklammert gehalten hatte. Aber die Erinnerung kann ihr keiner nehmen. Die Menschen nicht und nicht die Spritzen. Die Erinnerung wird bleiben – bis zum Tod.
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Der Tod. Immer wieder dieser Gedanke. Nachdem er sie mit einer an Brutalität grenzenden Selbstverständlichkeit und seit einiger Zeit auch ohne Verwendung von Gleitmittel besteigt, reift der Samen in ihrem Kopf zur Frucht. Zu einer tödlichen Frucht. Der Tod würde helfen. Immer wieder dieser Gedanke. Immer schöner wurde dieser Gedanke. Immer schöner wurde der Tod. Sein Tod!
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Newsflash:
„… heute hat man eine stark abgemagerte Frau aus ihrer Wohnung geholt. Sie lag neben einer Schaufensterpuppe und war kaum noch ansprechbar. Nachbarn alarmierten die Polizei, weil es aus der Wohnung stark gerochen hat. Die Leiche des mutmaßlichen Ehemannes lag stark verwest in der Badewanne. Auch war einer Bewohnerin des Hauses aufgefallen, dass schon seit längerer Zeit kein Schnarchen mehr zu hören war…“