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Stille Wasser
Stille
Wasser sind nicht nur tief, sondern auch Spiegel, darin die Sonne wie in einem zweiten Himmel versinkt, einem Himmel auf Erden, der in kühlen Tiefen gründet. Sein Abglanz lädt zum Schauen und Betrachten ein, und wer guten Willens ist, erkennt sich auch darin, Blick auf Blick, festgesaugt im eigenen Auge. Schon der leiseste Hauch aber genügt, und der Spiegel wird blind, Sterne tanzen an seiner Oberfläche in verwirrenden Mustern, gekräuselte Wellenornamentik anstelle von Bildern einer gedoppelten Welt. Dieser hier scheinen sie schon nicht mehr anzugehören, diese flüchtigen Zauberwesen aus Zufall und Licht. Ihr flirrender Reigen bleibt unbegreiflich, dem Menschen verborgen ihr rhythmisches Gesetz und unerkennbar Harmonie und Sinn. Vielleicht erwecken sie vergessene Wünsche wieder zum Leben; vielleicht auch lassen sie deine Träume und Hoffnungen heller erstrahlen. Doch darauf kommt es nicht an. Dem Wasserspiegel ist es gleich, wer sich darin betrachtet. Seine Aufgabe ist es, die Stille sichtbar zu machen.
Im Fluß aber liegt kein Erkennen. In strömendem Wasser kommt der Mensch nicht zur Ruhe; es treibt ihn mit, es treibt ihn ab, unermüdlich in immer raumgreifenderen Schleifen zu Tale eilend frißt er sich seinen Platz in die Welt, den einen lebensspendender Quell, vielen anderen todbringende Katastrophe. Seine Lebendigkeit macht ihn zum Schöpfer wie zum Mörder gleichermaßen. Er sät den Tod, und Leben pflanzt sich darin ein. Manchmal sät er auch nur Tod. Aber das Leben ist stärker und zieht am Ende auch den wildesten Sturzbach wieder zurück in die Stille, in die namenlosen Weite des Meeres, die elementare Grenzenlosigkeit seiner selbst. Dorthin zieht es uns; wir wissen es nicht eher, ehe wir nicht angekommen sind.
© Hans Jürgen Kugler