- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 19
Stichting oder ein Satz zu viel
Die Sonne steht im Zenit und verwandelt das Schärenmeer in einen gleißenden Spiegel. In Farbe und Breitwand erstreckt sich die felsige Insel vor den drei Ermittlern der Stockholmer Mordkommission.
Das letzte Wegstück bis zum Einsatzort legen die Kriminalisten zu Fuß zurück. Nach dem Geschaukle der Überfahrt eine Wohltat, wie Kurtbeck findet. Er schaut auf den Sandweg und schweigt, ist mit den Gedanken beim Debakel von Düsseldorf. 4:2 für Deutschland. Wie ein Phantomschmerz sucht ihn die Erinnerung regelmäßig heim. Wenn er jetzt nicht aufpasst, dann steigert er sich wieder maßlos in seine Wut hinein.
Wallanda schiebt die Sonnenbrille aus der blonden Mähne auf die Nase und trällert: „Jo, jo, vid Waterloo Napoleon fick ge sig.“
Mangell summt die Melodie mit.
Das hat Kurtbeck gerade noch gefehlt. Sangesfreudige Teamverstärkung. Andererseits, gibt es da nicht diese Binsenweisheit: Wer schaffen will, muss fröhlich sein? Aber deswegen müssen die Neuen doch nicht gleich so in die Vollen gehen. Ärgerlich schlägt er nach den Steckmücken, die seltsamerweise nur um seinen Kopf sirren.
Als sie um die Kurve biegen, bietet sich ihnen ein Bild des Grauens. Selbst die Vögel sind verstummt. Ein Mann sitzt zitternd auf der Treppe zum blutrot getünchten Holzhaus. Der Nachbar, der die Polizei alarmiert hat. Er ist mindestens so grün im Gesicht wie das Laub einer jungen Birke, auf dem Kurtbeck Erbrochenes entdeckt.
Der braucht noch, bis er wieder auf die Beine kommt, denkt Kurtbeck.
Doch Mangell scheint das anders zu sehen: „Sie halten sich aber schon zu unserer Verfügung!“, reißt er den Kerl aus der Schockstarre.
Je tiefer sie in das Innere des Hauses vordringen, umso dicker wird die Luft. Meine Fresse, Verwesungsgeruch. Wallanda spendiert eine Runde Mentholbalsam, das sich die Männer dankbar unter die Nasen reiben.
„Cool!“, sagt Mangell.
Doch der Gestank ist nichts gegen die schrille Stimme. „Dass ihr mir nicht wieder wie eine Herde wildgewordener Bullen durch meinen Tatort trampelt!“
Dem alten Kommissar schwant Schlimmes, noch bevor er sie sieht, die Fleisch gewordene Heimsuchung, Ingwer Swensson, Kriminaltechnik und Gerichtsmedizin in Personalunion. Er seufzt und sein Instinkt sagt ihm, dass diese Frau für heute nicht die letzte Katastrophe bleiben wird. Breitbeinig, eine Hand in die Seite gestemmt, fängt sie die kleine Gruppe im Türrahmen zur Wohnküche ab und schwenkt den Glasfaserpinsel, von dem Rußpulver rieselt.
Trotzdem verschafft sich Kurtbeck einen ersten Überblick. Zwei Leichen. Eine männliche lehnt mit dem Oberkörper an der Wand, eine weibliche liegt gekrümmt, umgeben von Porzellanscherben, auf den Dielen. Im eigenen Blut. Vorsicht! Keine voreiligen Schlüsse, ermahnt er sich. Neben dem Leichnam findet sich ein blutverkrustetes Brotmesser, die Klinge scharf wie sein Verstand. Die Tatwaffe.
Dann schwenkt sein Blick wie das Auge einer Kamera über den liebevoll gedeckten Frühstückstisch und ihm fällt ein, dass er heute noch nichts zu sich genommen hat. Er scannt das Stillleben der unberührten Delikatessen: Die Wurst- und Käsescheiben gebogen wie Pferdesattel, die Butter breitgelaufen wie die Hüften der Swensson. Er schüttelt sich. Nur das Knäckebrot im Weidenkörbchen trotzt den sommerlichen Temperaturen. Zeitlos und schön liegt es in der gestärkten Serviette.
„So viel steht fest“, flüstert Mangell neben Kurtbecks Ohr: „Tötungsdelikt.“
Kurtbeck seufzt erneut. Womit hat er das verdient?
Wallanda kichert. „Na ja, ist kein Zufall, dass es hier von Polizisten nur so wimmelt.“
„Weiß man schon, wer die Opfer sind?“, fragt Kurtbeck die Swensson, die gerade etwas Graues von der Wand hinter der männlichen Leiche kratzt.
„Ein Ehepaar aus Malmö, sind erst zugezogen, Künstler, sagt der Nachbar.“
„Einbruchspuren?“
„Nein, und die Tür war unverschlossen, sagt der Nachbar.“
„Fehlt was?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Was sagt der Nachbar?“, fragt Kurtbeck und lässt den grimmigen Blick der Swensson wie Regen auf Friesennerz von sich abperlen.
Mangell schaltet sich ein: „Gewalteinwirkung?“
Ingwer Swensson hebt eine Augenbraue und entgegnet: „Stichting?“
„Was bitte?“
„Kleiner Scherz.“ Außer ihr lacht keiner.
„Wär ich nicht draufgekommen“, brummt Kurtbeck und fügt in Gedanken hinzu: Dusselige Kuh!
„Und kannst du uns sagen, Ingwer, wie lange die schon hier rumliegen?“, versucht Wallanda einzulenken.
„Ich sag mal grob zwei Tage, die Leichenstarre ist noch nicht vollständig gelöst, aber Genaueres …“
„ … nach der Obduktion“, ergänzen die Ermittler unisono.
Endlich packt die Gerichtsmedizinerin ihr Equipment zusammen und gibt den Tatort frei: „Euer Spielplatz!“
Die drei Kriminalisten stehen schweigend im Halbkreis vor den toten Körpern, betroffen, betreten, bis Wallanda ruft: „Ist das nicht der Wallöö?“
„Der Wallöö?“, echot Kurtbeck, kniet sich nieder, greift dem Mann zärtlich unters Kinn und will den Kopf anheben. Widerstand. „Beim Heiligen Bernadotte, er ist es. Dann kann die Tote doch nur Sjööwalda sein.“
Was für ein Verlust! Ein Ziehen in der Herzgegend lässt ihn innehalten, er fasst sich an die Brust und hofft inständig, dass die beiden Grünschnäbel nicht den Schauer des Entsetzens wahrnehmen, der ihn befangen macht.
Doch da kommt sie schon, die Frage: „Alles klar, Herr Kommissar?“
Die zwei sollen sich in Zukunft gut abfedern, wenn sie wieder mal über seine Toleranzschwelle stolpern. Mit eiserner Willenskraft ignoriert er die Impertinenz und geht zur Tagesordnung über. Scheiß drauf!
Viel mehr erregt der Stapel Tageszeitungen sein Interesse. Er sondiert: Svenska Dagbladet, Internationalen, Salzkrokant-Posten und Dagens Nyheter. Die Schlagzeile springt ihn an. Ist man denn nirgendwo sicher? Verfolgt ihn diese Schmach bis zum Arsch der Welt? Er kann nicht anders, er muss den Artikel lesen: „Schweden verabschiedet sich mit einem phantastischen Spiel von der Weltmeisterschaft 1974. Die Zuschauer werden das Spiel als fußballerisches Kleinod in der Schatzkiste ihrer Erinnerung aufbewahren.“
Diese Schmierfinken. Man kann sich alles schön reden. Zuschauer, dass er nicht lachte, allesamt Claqueure. Die Sprechchöre im Rheinstadion klingen immer noch wie ein boshafter Tinnitus in seinen Ohren nach: „Hi, ha, ho, Schweden ist k. o.!“ Ärgerlich wirft er die Zeitung neben den Käse. Käseblatt!
Cut.
Kurtbeck steht am Fenster und beobachtet das Gewusel der Fußgänger auf der Kungsholmsgatan. Diese Narren, überhastet und ziellos laufen sie vor dem Leben davon, oder hinter ihm her. So genau kann er das von hier oben nicht erkennen.
Ein energisches Klopfen reißt ihn mitten aus seinen Überlegungen. Er zuckt zusammen, als die Svensson im Türrahmen steht. Entsetzt muss er mit ansehen, wie sie sich mit einer Pobacke auf seinem Schreibtisch niederlässt.
„Hab was für dich“, plappert sie los, als wären sie beste Freunde. „Die Hosenträger des männlichen Opfers weisen starke Gebrauchsspuren auf. Lange hätten die’s eh nicht mehr getan.“
„Ach!“ Schon bei der Tatortbegehung war ihm so ein Verdacht gekommen.
„Die Farbe verschossen, das Elastan zerbröselt, sah ganz übel aus unter dem Elektronenmikroskop“, sagt Ingwer. „Ja, schau nicht so! Nicht ungewöhnlich für Polyurethan.“
Für einen Augenblick ist es ihm, als wolle sie lächeln, doch da ist er auf dem Holzweg.
„Vielleicht hilft dir die Info ja weiter, Kurtbeck.“
Jetzt hat er seinen Text vergessen. Er räuspert sich. „Danke, Ingwer!“ Er reibt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Merkwürdiger Fall, sinniert er, und das hätte sie mir auch am Telefon sagen können.
Die Swensson gibt Mangell die Klinke in die Hand. Ein Verkehr wie auf der Kungsholmsgatan.
„Es gibt interessante erste Ergebnisse“, erstattet Mangell Bericht.
„Schieß los!“
„Der Brotkorb, du erinnerst dich?“
Kurtbeck nickt. Wie könnte er den Brotkorb vergessen.
„Die Spur führt direkt ... jetzt halt dich fest!, direkt in ein großes, bekanntes Möbelhaus, ach was sag ich, in das größte, bekannteste Möbelhaus überhaupt.“ Mit gedämpfter Stimme fügt er hinzu: „Zu Ingvar und Kamprad, nach Elmtaryd und Agunnaryd.“
„Nein?“
„Doch! Das Körbchen, lustigerweise GODMORGON“, Mangell gluckst, „wurde am 25. Juni um 12:18 Uhr MEZ bezahlt, 33,99 Kronen in bar, kein Kundenrabatt, von einer weiblichen Person, die Beschreibung passt auf Sjööwalda.“
„Na, da nehmen die Ermittlungen ja so richtig Fahrt auf. Das wirft ja dann ein ganz anderes Licht auf den Fall.“ Der Kommissar klopft Mangell ermutigend auf den Rücken. „Weiter so!“
Der Diensteifer der neuen Generation überrascht ihn doch. Da hatte er sich wohl gewaltig in dem Jungen getäuscht, von ihm würde man noch hören. Oder lesen. Verdammt, wie in aller Welt konnte das passieren? Gleich zwei fatale Fehlschlüsse an einem Tag, das war dem alten Fuchs noch nie passiert. Wen wundert‘s, er lief total neben der Spur, seit der Endstand der zweiten Finalrunde an seinen Nerven zerrte.
Nach und nach trudeln die Teilnehmer der Konferenz im Besprechungsraum römisch zwei des Stockholmer Polizeipräsidiums ein.
Kurtbeck sieht genervt auf seine Armbanduhr. „Macht hin, Leute!“, nuschelt er. Das Spiel wird in zwei Stunden angepfiffen. Jeder hatte eine zweite Chance verdient, findet er. Auch die Vollpfosten der Nationalelf. Doch sogar ein Sieg über die Jugoslawen würde sich nur wie ein labberiges Trostpflaster anfühlen.
Ingwer Swensson betritt den Raum, stakst wie ein Model für Übergrößen zur Stirnseite des Tisches und reißt sofort die Regie an sich. „Ich machs kurz und knackig: Außer den Eheleuten Wallöö und Sjööwalda war niemand im Haus“, doziert sie. „Den Todeszeitpunkt konnte ich zwischen acht und zehn eingrenzen. Der Frühstückstisch bestätigt meine Expertise. Auf dem Spurenträger – dem Brotmesser – die Fingerabdrücke von beiden, die Papillaren von Wallöö im getrockneten Blut, logisch, wesentlich deutlicher erkennbar.“
Leichen pflastern ihren Weg, überlegt Kurtbeck und der Slogan läuft wie das Endlosband einer Leuchtreklame hinter seiner Stirn entlang.
„Es kommt noch besser“, fährt sie fort. „Sjööwalda wurde mit dreizehn Messerstichen attackiert …“
Ja, ja, die magische Dreizehn, lässt Kurtbeck seine Gedanken weitertreiben. Hellström hatte dreizehn Schüsse gehalten. Eigentlich ein Teufelskerl. Und jetzt, fahnenflüchtig. In der Hölle soll er schmoren, der Vaterlandsverräter. Kurtbeck hört gerade noch, wie Ingwer sagt:
„ … der Stich ins Herz war tödlich. Es kommt eben doch auf die Länge an. Oder was glaubst du, Kurtbeck?“ Sie schaut ihn mit einer Intensität in die Augen, die ihm den Schweiß auf die Stirn treibt.
„Ähm, … ich glaube gar nichts. Ich ermittle.“ Seine Stimme gewinnt die gewohnte Festigkeit zurück. „Für den Glauben ist der Pfaffe zuständig.“ Irgendwann würde er die Frau eigenhändig erwürgen.
„Na dann, viel Spaß bei den Ermittlungen“, erwidert Ingwer mit einem süffisanten Lächeln. „Sag, wenn du Unterstützung brauchst! Zurück zu Wallöö.“ Sie legt eine Kunstpause ein, es wird totenstill im Raum und das Dia des schaurigen Schauplatzes erscheint. „Er schlug mit dem Schädel so heftig an die Wand …“
„Filmriss!", ruft Mangell, duckt sich aber augenblicklich unter dem strengen Blick der Gerichtsmedizinerin.
„Wenn du mich noch einmal unterbrichst …“, zischt Ingwer, lässt jedoch offen, welche Form der Folter sie für ihn vorgesehen hat. „Wir können davon ausgehen, dass er Sjööwalda niedergestochen hat, dabei ging die Kaffeekanne zu Bruch, dann ist er auf dem Kaffee-Blut-Gemisch ausgerutscht, noch bevor er sich selber die Klinge ins Herz rammen konnte.“
Mangel pfeift durch die Schneidezähne. „Alter Schwede!“
„Einvernehmlicher Gattenmord“, ruft Wallanda, erschrickt offensichtlich über ihre Spontanität, errötet und fasst sich an die Wangen.
Kurtbeck stellt es mit Genugtuung fest. Es ist ein Kreuz mit den Weibern. So weit würde es noch kommen, dass SpuSi-Ingwer sich in seine Ermittlungen drängt, die Konklusionen soll sie mal schön ihm überlassen. Aber das ist auch wieder so ein neumodischer Kram: Profilierung durch Profiling. Kurtbeck muss eingreifen, aber hurtig. Er fasst die Indizienlage zusammen: „So, so, erweiterter einvernehmlicher Gattensuizid. Und wo bitteschön ist das Motiv? Warum sollten die zwei ihr Leben freiwillig und frühzeitig wegwerfen?“ Daran hat die oberschlaue Swensson sicherlich eine Weile zu kauen.
„Na, endlich! Ich dachte schon, du fragst nie“, sagt Ingwer mit Verschwörermiene. „Wallöö war krank, schwer krank. Wegen der datenschutzrechtlichen Bestimmungen und zum Schutz der Privatsphäre, ihr wisst schon ...“ Sie verdreht die Augen. „Ich sage nur: Ein Jahr. Er hätte noch ein Jahr zu leben gehabt. Vertraut mir!“
Die Anwesenden ziehen in betroffener Weise die Köpfe ein, inspizieren die Maserung der Tischplatte und verharren in kollektivem Schweigen.
Lass sie nur reden, denkt Kurtbeck. Er könnte seine Walther PP verwetten, dass die Lücken in der Beweisführung der Swensson tiefer und breiter als der San-Andreas Graben sind. Ein geplanter Abgang vor dem Frühstück, niemals. Er weiß es besser. Er hat als Einziger einen Blick in die Dagens Nyheter – das Corpus Delikti – geworfen, genau wie Wallöö am Morgen des ersten Juli. Selbstverständlich kann Kurtbeck nicht präzisieren, war es die Scham über das Torergebnis oder die unverschämte Schönfärberei durch die Journaille, die den Mann zur Raserei brachte. Oft genug hat er selbst dieses Wunder erlebt, wenn aus einem schleichenden Windje ein Donnerschlag wird, sodass man Angst hat, das Trommelfell zerreißt. Wie gut er Wallöö verstehen kann. Gerade einem gesellschaftskritischen Aufrechten musste die Dreistigkeit der Dagens Nyheter den Boden unter den Füßen wegziehen. Über die Fallhöhe mochte Kurtbeck gar nicht erst nachdenken. Da genügte ein Satz, sogar nur ein Widerwort der Gattin und zack …
Fall gelöst. Er kann die Akte schließen. Kurtbeck spürt wieder den Stich in der Brust und fragt sich, warum er das elende Gefühl nicht abschütteln kann, er habe Vater und Mutter auf einen Streich verloren.