Mitglied
- Beitritt
- 16.09.2018
- Beiträge
- 262
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Stacheln
Wenn ich meinen Vater beschreiben müsste, würde ich mit Äußerlichkeiten beginnen. Glatze, Tattoos, Bart. Muskulöse Arme und ein Bauch, die Arme hatte er von der Arbeit, den Bauch, weil er trank: Nach jeder Schicht, egal, ob früh oder spät, wenn er mir einen Kuss gab, roch es nach Bier, Bier mit einem Spritzer Zitronenkonzentrat, und sein Bart stach mir in die Haut.
Wenn ich meine Mutter beschreiben müsste, würde ich mit ihrem Wesen beginnen. Sie war einfühlsam und gleichzeitig herrisch. Intelligent und aufopfernd und sensibel und gleichzeitig … hart und entschlossen in ihren Handlungen. Und ich wüsste für alles eine Erklärung. Ich wüsste, wo die Härte herkommt und ich wüsste sie zu verteidigen, doch wenn ich das Wesen meines Vaters beschreiben sollte, müsste ich mir zuerst eine Strickleiter besorgen, eine Taschenlampe und eine Karte, am besten einen Dolmetscher, einen Höhlenforscher und einen Archäologen, und alle drei müssten sie in eine tiefe Schlucht hinabsteigen, um sein Geheimnis zu ergründen. Und keiner von ihnen würde wieder zurückkehren, so viel ist sicher.
Und trotzdem steige ich immer wieder selbst in diese Schlucht hinab, kaum, dass ich im Bett liege und meine Augen schließe. Denn vielleicht habe ich etwas übersehen. Etwas, das man nur mit geschlossenen Augen sieht.
Es war Sommer. Vielleicht war ich sechs. Vielleicht war mein Vater neunundzwanzig, meine Schwester acht, und mit ihr war ich draußen, in der Siedlung, während meine Eltern in einer der unzähligen Gartenhütten im Schatten der Fabrik saßen, von denen jede einzelne aussah wie notdürftig zusammengeflickt: Aus Teerpappe und Wellblech und Holzlatten, später sollte genau diese Hütte in Flammen stehen, aber damals ahnte davon keiner etwas, und so saßen sie zusammen, abgeschaffte Männer und ihre Frauen, die sich vor allem auf eines einigen konnten: Darauf, dass das Schaffen dazugehört, dass das Jammern nichts hilft, was half, war das Zusammensein, das Nicht-Alleinesein, die wissenden, genauso müden Blicke der anderen und das Bier. Und weil wir dafür zu jung waren, meine Schwester und ich, weil wir uns schon früh sattgesehen hatten an den gelben, glasigen Augen der Männer, an den Bierdeckelhäusern und den Marlboro-Aschenbechern, blieben wir draußen. Da, wo es nicht so eng war. Wo wir durchatmen konnten, wo der Sternenhimmel so hoch war, wie er es nur in der Kindheit ist, und hier, im Schein der Laternen, im Gebüsch, entdeckten wir den Ball.
Wahrscheinlich gehörte er dem Sohn vom Türken. Oder der Tochter. Der Tochter, die uns vor einigen Abenden im Licht derselben Laternen den Mittelfinger gezeigt hatte, bevor sie in der Türkensiedlung verschwunden war. Der Tochter, die mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging, vielleicht, weil sie mich an das Mädchen bei Mowgli erinnerte, das singende Mädchen mit dem Wasserkrug auf dem Kopf, und genau wie im indischen Dschungel trennten auch mich und das Mädchen Welten: Ich hier, zwischen VHS-Kassetten und Pokémon-Karten, sie da, dort, wo die baufälligen Häuser aus verputztem Backstein standen, wo noch mit Holz geheizt wurde, wo die Wäsche im Vorhof an der Leine trocknete statt zuhause im Trockner.
Jeder kannte den Türken mit seinem Schnauzbart und seiner Schiebermütze und jeder kannte seinen Garten, jeder hörte das Geschrei. Jeder kannte den Taubenschlag. Jeder wusste, dass der Sohn vom Türken die freilaufenden Katzen der Siedlung mit Stöcken jagte, jeder wusste, dass Tauben dreckig sind und wahrscheinlich war der Ball vom Sohn vom Türken genauso dreckig, dachten wir damals, und trotzdem – oder gerade deswegen – holten wir den Ball aus dem Gebüsch, als wäre er unser eigner und spielten ihn uns einander zu, so lange, bis die Tür der Hütte geöffnet wurde und das gedämpfte Stimmengewirr aus der Hütte wie Zigarettenqualm in den Nachthimmel hinaufstieg. Kurz zeichnete sich die Silhouette meines Vaters deutlich vor dem schummrigen Rechteck aus Licht ab. Kurz hielten meine Schwester und ich den Atem an, bevor die Tür wieder geschlossen wurde und alles in Schatten tauchte und der Schatten meines Vaters zum Komposthaufen schlich, wo es kurz darauf klang, als hätte jemand den Gartenschlauch angestellt.
Keine dreißig Jahre später sollte mein Vater in einen Beutel pissen, nachdem man ihm die Blase ausgeschabt hatte, aber davon wusste er noch nichts, als er dort unter dem Wellblechdach stand und seinen Reißverschluss zuzog und dann, nach kurzem Zögern, nach kurzer Schattenschmelze – Vorder- und Hintergrund wurden eins, mein Vater hätte in diesem Moment genauso gut selbst ein Stück Wellblech sein können oder eine Holzlatte –, mit in den Taschen vergrabenen Händen auf uns zukam.
Was ging ihm damals durch den Kopf? Hat er gefragt, was wir da taten? Wo wir den Ball herhatten? Wie uns der Abend gefiel, ob wir Spaß hatten oder lieber heimwollten, ob er uns den Schlüssel geben sollte? Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube nicht. Überhaupt kann ich mich nur an wenig Gesagtes erinnern, wenn ich an meinen Vater zurückdenke, was ich weiß, ist, dass wir dann zu dritt dort standen, meine Schwester, mein Vater und ich, das Rauschen des Fabrikkamins im Hintergrund, der immer über uns thronte, immer Rauch ausstieß, egal ob morgens, mittags oder nachts, Rauch, von dem keiner so recht wusste, was es mit ihm auf sich hatte, keiner, außer vielleicht meinem Vater, der es aber für sich behielt, wie die meisten seiner Gedanken, und stattdessen mit uns Ball spielte, einen stillen Moment lang unter dem schwindelerregend hohen Sternenhimmel. Der ihm wohl schon gar nicht mehr so hoch erschienen war wie uns Kindern. Nicht mehr so fern. Und ich weiß auch nicht mehr, wer von uns letztendlich bemerkt hatte, dass der Ball nicht dem Sohn vom Türken gehören konnte und auch nicht der Tochter, weil er in Wahrheit gar kein Ball gewesen war, sondern ein zusammengerollter, leidender, vielleicht schon toter Igel.
Wenn ich an meinen Vater zurückdenke, sehe ich einen groben Mann mit schwieligen Händen, schwieligen Hände vom Schaffen, dachte ich früher, vielleicht aber auch, weil er uns mit diesen Händen geschlagen hat, denke ich jetzt. Vielleicht haben die Schläge nicht nur bei uns Spuren hinterlassen. Aber in denselben groben Händen sah ich auch Engerlinge liegen: Schmutzigbraune Handflächen und darin die strahlend weißen, fleischigen Larven, die er über den Gartenzaun warf, statt sie mit dem Spaten zu zerdrücken, grobe Hände, die mich gegen die Wand gedrückt haben und gleichzeitig den Engerlingen ein Leben ermöglichten.
Wenn ich an meinen Vater denke, denke ich an Feuer und Igel und Bier und versuche, aus diesen Bruchstücken etwas zusammenzusetzen, das einen Sinn ergibt. Aber gleichzeitig ist alles, was ich sehe, ein Schatten. Ein Schatten mit Stacheln dran, als wollte er sich selbst jetzt noch dagegen wehren, dass man ihm zu nah kommt, ein schon toter, aber immer noch leidender Schatten. Ein harter Kerl und ein Feigling, einer, dem das Schicksal ein Bein gestellt hat, ein Mistkerl, der bekommen hat, was er verdient, der noch viel mehr verdient hätte, was weiß ich.
Wenn ich meinen Vater noch mal sehen könnte, hätte ich viele Fragen, denn als ich ihn noch fragen konnte, habe ich es nie getan, und als du mich fragtest: Sollen wir mal etwas essen gehen, meintest du da: Sollen wir mal reden? Und als ich dir sagte, dass ich nicht mag, dass ich dich nicht mag, als Person, als Mensch, und mich dann so erhaben gefühlt habe, als dir die Tränen in den versoffenen Augen standen – was war das?