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Stachelig
Als Kind fand ich im Herbstlaub vor dem Zaun einen Igel. Ich nahm ihn auf, legte seinen dichten Stachelpelz auf meine Hand, wiegte ihn sachte auf dem Rücken. Wenn ich stillhielt und eine Weile wartete, rollte er sich auseinander, Arme und Beine angelegt, Augen geschlossen, der weiche Bauch freigelegt. Gut fühlte sich die Handvoll Stacheln an, junges Leben in kleiner Kinderhand, leicht und doch schwer. Ich pustete gegen den hellen Flaum und sah sein Krampfen, kurz darauf bot er seine Unterseite wieder dar. Als ich die Nase senkte, roch er nach warmer Erde.
Was ich da tue, rief Mutter aus dem Sprossenfenster, Maden, Milben und Würmer würden ihn bevölkern. Durch mich würde das Ungeziefer ins Haus kommen!
Ich ließ ihn zurückfallen ins gelbe Laub, spreizte die Finger und schüttelte die Hand, als könnte ich so neben dem Gewürm auch die Mutterworte loswerden, die an mir klebten. Der Igel hatte sich zusammengekrümmt und seinen Stachelpanzer geschlossen. Nichts Weiches lag mehr frei. Mit der Stiefelspitze stieß ich ihn unter einen Busch und lief ins Haus.
Trotzig werfen die Agaven ihre Blütenstände in die Höhe und sterben schnell, bevor die neue Generation landet. Auf die Art nehmen sie die Dorfperipherie in Beschlag, recken ihre schwarzen Dornen gen Himmel, Dorfbewohner und Haustiere.
Junge Dörflinge ritzen mit Klappmessern Buchstaben und Zahlen in das dicke Agavenfleisch. Die Pflanze lässt mit Geduld und Sonne die Wunden und Liebesschwüre vergrauen, der Rest wächst sich aus. Früher haben sie die Agaven als Zaunersatz gebraucht, heute haben sich die Reihen gelichtet. Plastik und Beton kostet weniger Mühe.
Der Pfad streift den Dorfrand, schneidet durch Bruthitze, Busch und roten Lehm eine Tangente an den winzigen neuen Platz mit grünem Dorfbaum. Markttag. Es riecht nach blasigem Landbrot, frischem Ziegenkäse und Meersalz. Darunter dünstet eine Melange aus Urin, Dreck und vergehender Fauna den Sommermorgen aus.
Das Dorf hat sich verändert, die Schilder sind neu, Free WLAN, Coffee und vegan food. Damals gab es im Dorf kein Zimmer für Fremde. Dafür gab es zwei Bars, in denen Einheimische sich trafen, laut tranken und zusammen rauchten. Das heutige Dorf ist rauchfrei, gefällig bunt und hat neue Einnahmequellen entdeckt.
Weiße Mietwagen drücken sich neben rostige Pickups. Kleine Töpferwaren klappern auf Ladeflächen. Erinnerungsstücke. Stehrümchen, hättest du gesagt. Zwei Olivenschälchen, für grüne und schwarze. Und vier getöpferte Shots für den leckeren Anis, der zuhause lange nicht so gut schmeckt, doch neben dem Túnel im Regal – Ach, da wart ihr also auch! – macht er eine exzellente Figur. Es geht um was. Blitzende Touristengebisse grinsen mit vergilbten Zahnstümpfen um die Wette. Geld wechselt Hände, Zeitungspapier raschelt. Muito obrigado – you're welcome!
Hinter der weiß behausten Dorfstraße mit ihrer Schilderparade führt der Pfad zurück ans Meer und die Steilküste. Paraglider kreisen über den Hügeln, hängen mit ihren Seilen an der Sonne und fahren Runde um Runde im glühenden Kettenkarussel.
Die Abbruchkante ist hart, unten wartet lautes Rauschen. Ein Geländer aus Holz soll verhindern, dass jemand selbstvergessen geradeaus geht und vor dem Schild aufschlägt, das dort an der Felswand angebracht wurde. Dort neben dem Rinnsal aus Süßwasser, von dem die Wildcamper, die es damals gab, gelebt haben.
Am Strand unten sind die ersten Surfer, paddeln mit Händen und Geduld hinaus auf den Atlantik. Bevor ihnen aus Kältegründen die Extremitäten abfallen, werfen sie sich in die Wellen und warten auf eine Antwort. Nur ganz wenige sterben, bevor ihre Nachkommen den Boden berühren, was so gut wie nie am Atlantik liegt. Es liegt daran, dass es keine Sicherheit vor dem Leben gibt, dass es sich um uns kümmert und nicht fragt, ob es das darf, was es mit uns macht. Und so landet der eine innerhalb des Zauns, nicht weit vom Stamm und jemand anders springt mutig in die Luft, ohne je das Fliegen gelernt zu haben.
Bei dir lag es auch nicht am Atlantik. Er hat nur etwas geweckt, was in dir schlummerte. Etwas, von dem junge Menschen nicht einmal wissen, dass es das gibt – eine Ausstülpung in deinem Kopf. Aneurysma klingt wie ein griechischer Gott. Einer, der dich vorne anlächelt und dir von hinten ins Knie fickt. Der vor Freude platzt, wenn du auf das Brett springst.
Hinaus in den sternigen Nachthimmel, bling bling, wo die Pinien den harzigen Schwitz des Tages über Macchia und dürres Gras decken. Unter dem Mond scharen sich die Häuser am Meer, drücken sich in den engen Auslass zwischen verbrannten Hügelrücken. Hell verputzte Würfel stapeln sich längs wie quer, drängeln sich unter dem Sonnenabglanz. Gewürfelte Fensteraugen ohne Symmetrie.
Sie riecht latschig, die Nacht, und rauchiger als der stechendgrüne Badeschaum der fliederfarbigen Wanne im Bad ohne Ausblick. Die Fliederwanne, in der ich mich unter Schaum zu verstecken suchte, wenn Mutter ohne Klopfen die Tür aufriss. Strafender Blick über Presslippen. Seitdem riecht latschig auch immer scharf und ein wenig schlecht.
Junge, sagte Mutter, Junge, was soll aus dir werden? Gemeint war nie die Sorge um mich oder eine Andeutung von Interesse an meiner Person. Es war die Furcht vor dem Geschwätz der Nachbarn, dem Dorfgeifer mit stets veränderlichem Ziel, den sie für sich fürchtete und bei anderen mit wachsendem Eifer selbst betrieb.
Nichts! Mutter. Am liebsten nichts!
erwidere ich auf die Frage, die ich nicht zurücklassen kann. Die Frage, die sich in meinem Nacken festgebissen hat.
Ich nehme das Nichts, wickele es um meinen Hals und würge damit die Mutterworte, bis sie blau werden und lasse das ganze Gewese auf das dampfende tiefschwarze Straßenband fallen. Dunkles Touristengold aus EU-Geldern. Touristen mögen weder Lehmpisten noch Schlaglöcher, dafür Klima, morgens einen Galão und die Welt.
Doch jetzt sitzen sie beim Bacalhao, den sie nicht mögen, und beim Loureiro, der ihnen zu leicht ist, und die Welt gehört mir. Der frische Asphalt ist noch brandheiß vom Tag, die Sohlen meiner Sandalen schmatzen leise. Erhöhte Bodenhaftung hilft gegen vieles, auch Vergangenes.
Vor meinen Füßen liegt ein blauer Hedgehog, der sich in der Hitze zusammenkrümmt. Ich trete ihn mit Anlauf die Serpentinen hinunter, Richtung fahlweißer Würfel und Silbermeer. Beim Rollen über die Straße bounct er mit einem Umpf! in die ebenfalls mit EU-Geldern finanzierten Zinkplanken, hangelt sich daran das Tal hinunter, sammelt Ring um Ring, bis er beim Dorf anlangt und die Kirchturmglocke ertönt, wie das finale Kupferglöckchen am Turm der Kugelbahn meiner Kindheit. Bling bling, es ist Mitternacht.
In der Sonne trocknen Tintenfische auf Gestellen aus vergrauten Ästen. Sie werden darauf vorbereitet, zukünftig eingeweicht in mahlenden Mündern zu verschwinden und dort auf gleichsam behandelten Tomaten den Schlund hinab zu surfen. Letztlich landen sie in einem See aus Vinho Verde, Knoblauchbrot und Magensäure, wo sie kurz erneut das Schwimmen lernen und sich mit einem gerülpsten Adieu Richtung Darmtrakt verabschieden.
Mutters Welt endete am Gartenzaun. In Mutters Küche gab es Kohl, Kartoffeln und Speck. Wegzehrung für die bekannten Bahnen im Gehege aus senkrechter Verlattung.
Ein Zaun ist Schutz und Hürde zugleich. Der Ableger, den sie von sich warf, landete deutlich innerhalb. Und auch, wenn er später manche Hürden überwand, hat er nie abgehoben, geschweige denn das Fliegen gelernt. Dazu fehlte Mutters Wurf Kraft und Reichweite. Er bleibt ein Ableger, der die Peripherie besiedelt und seine schwarzen Dornen gegen Dörflinge und deren Haustiere stellt.
Auch ihm wurde ein Liebesschwur in die Haut geritzt, der mit Zeit und Geduld verblasst. Das ist das Gute an Zeit, Schmerzen verschwinden ebenso spurlos wie Glück. Was bleibt ist ein subkutaner Tintenstich, unempfindlich gegenüber der restlichen Ordnung der Dinge. Mit der Zeit macht er sich breit und wird ungefähr, später kommt es nicht mehr darauf an.
Auch die Erinnerung wird ungefähr, die Augenfarbe, der Geruch, das Lachen. Jeder Versuch das nach oben zu holen, scheitert an der natürlichen Bleiche der wirklichen Ereignisse. Sie werden von Alltag und allerlei Firlefanz überlagert und räumen ihren Platz für die nächste Generation drängender Herzensangelegenheiten. Das Leben dreht sich, auch nach einer Polverschiebung, es drückt den letzten Rest aus seiner Verankerung und sieht zu, wie das Blut ihn wegpumpt. Was bleibt, ist ein Schild mit deinem Namen auf einem Felsen an einem Strand.
Wenn ich Aufnahmen von uns sehe, denke ich, das bin nicht ich, das waren wir nie, dazumal, so unbeschwert und jung. Wir nahmen unsere grünen Triebe und warfen sie in die Luft. So muss es gewesen sein. Doch nur eine fiel vom Brett, bevor sie landeten. Könnten wir weitermachen, wenn wir wüssten, was auf uns wartet?
Möwen tanzen über Wolken, die noch weiß angereichert sind vom Mondlicht, hacken mit Schnäbeln an Kirchturmglocken, zerfliegen das Blau in komplexe Schnittmuster und kreischen aus orangen Schnäbeln ihren Möwenstolz in den Tag.
Mein Handrücken kratzt über das Papier, schabt an der Oberfläche, furcht durch Kommata, Semikolons und Fragezeichen und schreibt doch wieder nur die bekannte Antwort, weil es keine andere geben kann.
Nichts! Mutter. Am liebsten nichts!
Mein Mantra, der Punkt, auf den ich immer zurückfalle, eine Buchstabenschlange, die ihren Schwanz frisst. Auch am heutigen Morgen riecht es latschig und somit ein wenig scharf und schlecht.
Ich habe es ihr nie erklärt, obwohl ich die Antwort parat gehabt hätte. Jetzt ist es zu spät, dabei wäre es einfach gewesen. Die Antwort hat das Leben selbst gegeben.
Ich will nichts werden, weil ich schon in jungen Jahren etwas geworden war, ein stacheliger Golem, der nach Erde riecht, gefährlich für menschliche Wesen mit zu viel Bodenhaftung, die nichts über heimtückische Götter wissen.
Lauft weg, sonst werde ich euch einholen und umarmen, werde euch treten und zusehen, wie ihr Ringe sammelt und Erinnerungsstücke hortet. Wie ihr eng an der Leitplanke talwärts hechelt und lauter sinnlose Dinge tut, bis das Leben sich um euch kümmert und final die Glocke ertönt.