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Sarggesang
Eine Kuh ist ein mächtiges Wesen. Steht auf der Wiese und kaut und kaut, aber wiegt eine Tonne und hat vier starke Beine. Kraft ist Masse mal Beschleunigung. Eine Kuh ist ein mächtiges Wesen. Meine Masse ist Null, bei mir beschleunigt sich nichts. Bewegung findet nicht statt. Alles driftet auseinander, so weit auseinander, bis es alleine ist. Alles zerfällt und kriecht auseinander. Die totale Entschleunigung.
Jede Schuppe meines Körpers, jedes Pigment, jedes Atom ist auseinandergestoben; von physikalischen Kräften getrieben. Atome verlieren ihre Bedeutung nach dem Tod. Ob ein Atom einmal in der Kopfhaut saß, in der Leber oder im kleinen Zeh macht keinen Unterschied. Es ist keine Ordnung im Chaos, keine Hierarchie im Nichts, keine Bewegung in der Entropie.
Man zerfällt. Man kann es nicht aufhalten. Der Wille ist zu schwach, besteht selbst nur aus ein paar Atomen und die sind schon lange weg.
Man meint zu Beginn den Prozess aufhalten zu können. Überlegt, ob man den Maden Atome entziehen kann, die über den Augapfel klettern. Redet sich ein, dass die Flüssigkeit, die man verliert, nur Totenbalsam ist. Man denkt: Es wird schon wieder werden. Noch ist nichts verloren, bis einem der Fuß abfällt, dann eine Hand, ein Arm, der Kopf. Das war der schwerste Verlust. Man klammert sich an den Hals, denkt solange da noch eine Verbindung besteht zwischen Kopf und Körper, solange da noch eine Brücke ist, gibt es einen Weg zurück. Aber wenn die Brücke einstürzt, ändert sich nichts.
Es ist nur mehr Raum zwischen Kopf und Körper. Weniger Atome. Mehr Entschleunigung.
Einundzwanzig Gramm wiegt die Seele, man wartet, bis sie aufsteigt. Versucht, sie zu finden. Sie auszumachen. Im Nacken, in der Milz, im Blinddarm. Im Herzen sucht man nach ihr, im Hirn, im Vorderlappen, und auch in den Schläfen. Einundzwanzig Gramm, die müssen doch zu finden sein, denkt man. Einundzwanzig Gramm das bin ich, das ist man, das denkt noch, aber man findet sie nicht und dann hat man keine einundzwanzig Gramm mehr. Alles stiebt auseinander. Alles driftet weg. Alles entschleunigt sich.
Man bleibt.