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Rotkäppchen und der Fotograf
Zu Rosenmontag entschied sie spontan, sich zu verkleiden. Dieses Mal zog sie einen roten Regenponcho aus dem Schrank, den ihr die Großmutter geschenkt hatte und den sie nie trug, weil sie damit wie Rotkäppchen aussah.
Für Karneval hingegen war er perfekt. Sie legte sich die Kapuze über den Kopf, sodass der Poncho wie ein Umhang herabhing, dazu trug sie eine weiße Bluse und darüber ein schwarzes Korsagen-Top, das sich eng um ihren schlanken Körper legte. Außerdem malte sie die Wangen mit Lippenstift rot an.
So ging sie zum Rosenmontagsumzug. Sie nahm einen Stoffbeutel mit, um Süßigkeiten zu sammeln.
Auf den Straßen drängten sich die Leute. Die Frau hatte keine Lust, auf der Stelle zu stehen und stundenlang zu warten, daher ging sie am Straßenrand dem Umzug entgegen. Wenn sich eine Gelegenheit ergab, hielt sie an und sammelte die Süßigkeiten auf, die um sie herum auf dem Boden landeten.
Doch vor allem hielt sie Ausschau nach Wölfen, nur zum Spaß.
Sie tippte einem auf die Schulter. "Hallo, ich bin Rotkäppchen." Der Mann im Wolfskostüm grinste breit. "Du bist ja mutig." Sie lachte höflich und ging weiter. Ein Wolf stand auf der anderen Straßenseite. Hier eine Gruppe von Leuten in schwarzen Kapuzenshirts mit Wolfsohren, aber sie nannten sich: Schafe im Wolfspelz. Die zählten nicht. Sie entdeckte einen Wolf in ihrem Alter, der neben einer jungen Frau stand - lieber nicht, da wollte sie keine Eifersucht stiften.
Weiter stromaufwärts. Manchmal waren die Straßen so eng und voller Leute, dass sie nur mühsam voran kam. Dann wieder gab es genug Platz, dass sie ein gutes Stück Strecke zurücklegte. Wenn es sich anbot und sie niemanden störte, ging sie zeitweise auf der Straße.
Einen älteren Mann im Wolfskostüm sprach sie an. "Hallo, ich bin Rotkäppchen." Er lachte. "Sieh zu, dass du Land gewinnst", scherzte er. Sie nickte höflich und machte sich aus dem Staub.
Nach einigen Stunden erreichte sie das Ende des Zugs und die Menge begann, sich zu zerstreuen. Ihr Beutel war gut gefüllt, trotzdem suchte sie weiterhin den Boden nach Süßigkeiten ab, die übersehen worden und nicht zertreten oder in einer Pfütze gelandet waren.
Auf dem Weg nach Hause in einer Nebenstraße stieg ein Mann aus einem Auto und bemerkte sie.
"Hallo, darf ich dich mal was fragen? Du hast eine tolle Figur. Bist du Model?"
Die Frau lächelte höflich und verlangsamte ihren Schritt. "Nein, ich bin kein Model."
"Warte, warte." Er kam auf sie zu, als sie im Begriff war, weiterzugehen. Seine schwarzen Haare und die gebräunte Haut passten zu seinem spanischen Akzent. "Hast du Lust zu modeln? Du hast die perfekte Figur dafür und dein Gang, wie du hier so langgekommen bist, ich habe gleich gesehen, dass du Talent hast. Du bist nur noch nicht entdeckt worden." Er redete so schnell und viel, dass sie bei seinem Akzent nicht alles verstand.
"Oh." Sie winkte lächelnd ab. "Dafür habe ich eigentlich keine Zeit. Ich habe schon einen gut bezahlten Job."
"Warte, hör zu." Er berührte sie sanft am Arm. "Ich bin Fotograf, mein Atelier ist gleich da vorne. Lass mich dir ein paar meiner Fotos zeigen. Ich kann dich ganz groß rausbringen, ich zeige dir, was ich meine. Das wird dir gefallen."
"Ich kümmere mich sonst nicht viel um mein Aussehen, ich bin mehr so der Denk-Typ ..."
Er fuhr fort, auf sie einzureden: "Nur Fotos angucken, ich tu dir nichts. Ich bin schwul, ich bin überhaupt nicht an Frauen interessiert. Du kannst nackt vor mir herumlaufen, das interessiert mich nicht. Ich habe ja ständig Models um mich herum. Komm, ich zeige dir Fotos von meinen Models."
Auf einmal erschien ihr die Idee nicht so schlecht. Offen sein für neue Erfahrungen. Einmal modeln.
"Okay, nur Fotos angucken."
Als er vorausging, kamen ihr Zweifel. Was tat sie hier?
Er schloss die Haustür zu einem Wohngebäude auf. Während sie ihm durch das Treppenhaus folgte, holte sie einen Kugelschreiber heraus und hielt ihn als Waffe bereit, für den Fall der Fälle.
Das Atelier sah aus wie eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung. Die großen Fenster erhellten das Wohnzimmer. Abstrakte Bilder an der Wand. Der Mann zeigte auf eins mit stilisierten Flügeln und einem Schriftzug. "Das sind Engel - an deren Existenz ich glaube." Sie nickte verständnisvoll.
In der Mitte stand eine weiße Couch auf dem hellen Teppich - hier achtete jemand auf gutes Aussehen.
"Leg doch deine Sachen ab." Der Mann zeigte auf die Couch. "Möchtest du einen Cocktail?"
"Nur Wasser, bitte."
Nichts Schlimmes passierte. Sie legte den Poncho, den Beutel und den Kugelschreiber ab und folgte dem Mann in die kleine Küche. Er goss Wasser aus dem Wasserhahn ein und erzählte, dass er hier keine Vorräte hatte, weil er nur zeitweise zum Arbeiten herkam. Und er erzählte von seinem Partner. "Im Mai werden wir heiraten", sagte er glücklich und sie freute sich für ihn.
Dann ging er zurück in die Stube und kramte Klamotten aus Kartons hervor, die im Zimmer verteilt standen, während er von Fotoshootings erzählte und einige Kleider hochhielt. "Wie findest du das?"
"Oh, das ist überhaupt nicht meins", erklärte sie mit Blick auf die herunterhängenden Stoffbahnen, Dekolleté bis zum Bauchnabel. Er zog ein anderes hervor und hielt ihr ein dezentes, dunkelblaues Kleid an den Körper. "Zieh das bitte für mich an. Da drüben ist das Bad, da kannst du dich umziehen. Du kannst auch abschließen, wenn du Angst hast, dass ich reinkomme, wenn dir das angenehmer ist. Du könntest dich auch hier umziehen, würde mir nichts ausmachen, ich gucke nicht, interessiert mich nicht. Oh, und zieh den BH untendrunter aus."
Mit leichtem Unwohlsein ging sie ins Bad, wo sie ihre Sachen ablegte. Die Situation wurde langsam skurril. Sie legte ihre Bluse, ihre Hose und ihren BH zu einem Bündel zusammen und streifte sich das eng anliegende Kleid über. Fühlte sich gut an. In Socken kam sie heraus. Der Mann legte ihr die Hände auf die Schultern, sodass die Ballen ihre Brüste berührten. "Du siehst wunderbar aus. Du hast die richtige Figur zum Modeln. Stell dich gerade hin, Brust raus. Geh ein paar Schritte."
Während sie sich drehte, kramte er ein paar Hackenschuhe hervor. "Zieh die auch bitte an."
"Oh, ich kann die nicht lange tragen, sonst bekomme ich Schmerzen im Fuß. Ich schaue mal, wie lange es geht."
"Ja, schau mal, ich muss dich sehen in diesen Schuhen, deine Pose, deine Figur, wie du dich bewegst, damit ich dich beurteilen kann."
Also zog sie auch ihre Socken aus. Auf den hohen Absätzen machte sie einige Schritte - die Bewegung hatte sie nicht verlernt.
Doch der Mann war schon wieder am Kramen und hielt ihr einen hautfarbenen, halbdurchsichtigen Tanga vor das Gesicht.
"Nein, nein", sagte sie mit fester Stimme. "Das geht zu weit. Das kann ich nicht anziehen."
"Mädchen, hör zu." Er überschüttete sie mit einem Wortschwall. "Ich muss sehen, wie du darin aussiehst. Nur ganz kurz, ich verspreche es. Ich muss die Farbe an dir sehen."
"Nein, wirklich nicht", sagte sie, fest überzeugt, nicht nachzugeben.
"Ich guck dir nichts weg, ich bin schwul, ich bin wie deine Freundinnen. Du hast auch kein Problem, sowas vor deinen Freundinnen zu tragen. Nur ganz kurz, du kannst ihn gleich wieder ausziehen. Es ist nur wegen der Farbe."
Sie ertrug die Diskussion nicht länger. "Nur ganz kurz. Drei Minuten."
"Drei Minuten, in Ordnung."
Sie verschwand ins Bad und zog den Slip aus. Die Situation war seltsam. Er nahm ihr Stück für Stück alles und sie fragte sich, wie weit das noch führen würde. Er war schwul. Er konnte nicht zu weit gehen.
Elegant auf den Hackenschuhen kam sie aus dem Bad. Da fing er wieder an, auf sie einzureden und ihr zu erzählen, dass sie lockerer werden müsse, dass er dafür sorgte, dass sich seine Models auf den Shootings wohl fühlten - bis sie den Wortschwall durch ein Heben der Hand unterbrach und sagte: "Zwei Minuten."
"Zwei Minuten. Okay, wir haben noch zwei Minuten. Ich habe dir versprochen, dass es nur kurz sein wird. Du kannst ihn jederzeit ausziehen. Leg dich mit dem Rücken auf die Couch und schieb das Kleid bis zum Bauch hoch." Er holte ein Maßband und einen Zettel hervor.
Sie legte sich hin. Er maß die Breite ihrer Hüfte am Bund des Tangas und die Breite ihrer Oberschenkel am schrägen Bund entlang. Kurz hob er den Bund mit einem Finger an. Die Messwerte schrieb er auf den Zettel. Dann wies er sie an, das Kleid wieder runterzulassen und aufzustehen.
"Du bist so steif, du musst lockerer werden. Zeig mir, wie locker du bist. Tanzt du gerne?"
Ja, sie hatte ein Jahr lang einen Tangokurs und ein halbes Jahr Salsa gelernt.
"Lass uns Salsa tanzen." Er kreiste die Hüften und zog sie in der Salsa-Tanzhaltung eng an sich. Sie spürte seine trainierten Muskeln durch sein lila Hemd und dachte, dass er sie leicht überwältigen könnte, wenn er wollte. Diese Nähe war unangenehm. Sie erstarrte.
"Du musst lockerer werden." Er strich an seinem Körper herab. "Stell dir vor, ich wäre dein Freund. Irgendwer, den du magst. Mach dich locker." Er ergriff sie wieder, drängte sich an sie, doch sie blieb verkrampft.
"Hör mal. So geht das nicht. Ich brauche dein Feuer, deine Energie." Er überschüttete sie wieder mit einem Redeschwall, bis sie die Hand hob. "Eine Minute." Er fuhr mit seinen Erklärungen fort, bis sie entschied, dass die Zeit um war und sie ging zurück ins Bad, wo sie sich den eigenen Slip anzog. Kam heraus.
"Was macht dir denn Spaß?", fragte er. "Wobei bist du locker?"
"Kämpfen", sagte sie und dachte an den Selbstverteidigungskurs, den sie regelmäßig besuchte.
"Okay, ich kann Taekwondo, dann lass uns kämpfen." Er stellte sich in Position, machte eine theatralische Bewegung, in der er mit beiden Armen durch die Luft kurvte und führte einen kontrollierten Faustschlag aus, den er kurz vor ihrem Gesicht stoppte.
"Ähm, für gewöhnlich sind meine Trainingspartner weniger kooperativ", versuchte sie vorsichtig zu umschreiben: Warum sollte sie reagieren, wenn er nicht die Absicht hatte, sie zu treffen?
Zur Demonstration, was sie meinte, gab sie ihm blitzschnell einen Klapps auf die Stirn - seine Deckung war weit offen, doch er reagierte nicht.
"Wir machen das anders", entschied er. "Wir müssen Vertrauen aufbauen. Du kannst mir alles erzählen, wie einer deiner Freundinnen. Wir können über alles reden." Sie nahmen auf der Couch platz. "Ich verstehe das, ich bin auch misstrauisch gegenüber anderen Leuten. Auch ich wurde schon ausgenutzt. Ich war mit einem zusammen, der wollte nur Sex mit mir haben, da habe ich eines Tages gesagt: Ich will das nicht, ich habe auch Gefühle. Komm, wir können über alles reden. Was sind deine Erfahrungen? Ich brauche dein Feuer. Erzähl mir von deinem letzten Kuss."
Sie erinnerte sich - die Selbstverteidigungsgruppe in der Sporthalle wartete am Rand auf der Bank darauf, dass der Kurs endete, der vor ihnen stattfand. Ihr Freund kam herein, die langen, blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, den beleibten Körper locker von einem weißen T-Shirt bedeckt. Sie richtete sich mit einem Lächeln von der Bank auf, um ihn mit einem Kuss zu begrüßen, doch er drehte den Kopf weg und sie setzte einen fassungslosen Ausdruck auf, ohne irgendwas zu sagen.
Nach dem Kurs, auf dem Weg nach draußen, zwischen Tür und Angel, sozusagen. Kurz vor der gläsernen Doppeltür kündigte er an, dass er mit ihr reden müsste.
"Ähm, der letzte Kuss, an den ich mich erinnere, war eigentlich kein Kuss." Ihre Stimme bebte, als sie davon erzählte. Sie kämpfte mit den Tränen. "Da hat sich mein Freund von mir getrennt."
Der Mann schaute sie schockiert an. "Bitte nicht weinen, nicht weinen, ich kann nicht damit umgehen."
Sie kämpfte die Tränen erfolgreich zurück. "Dann lass uns über was anderes reden."
"Okay, dann denke an einen anderen Kuss. Denk an was Schönes." Er erklärte, er wolle ihre Aura messen. Sie verstand nicht, was er meinte und er überhäufte sie mit irgendwelchen Erklärungen. "Setz dich auf meinen Schoß. Nein, die Beine links und rechts. Stell dir vor, ich wäre dein Freund." Er wollte, dass sie die Arme um ihn legte und sie ließ sich darauf ein, wunder was er jetzt wieder vorhatte. Ihre Gesichter waren nah voreinander. "Jetzt schließe deine Augen. Ich messe deine Aura." Er schloss die Augen und machte einen Kussmund.
Sie stutzte: "Ähm, willst du mich jetzt küssen?"
"Nein, ich werde dich nicht küssen", erklärte er leicht ungeduldig. "Ich messe deine Aura. Ich berühre nur die Lippen. Ich habe nicht vor, dich zu küssen."
Sie schloss die Augen, doch die Sache kam ihr seltsam vor und sie erstarrte erneut. Hielt den Kopf leicht zur Seite gedreht und zuckte zurück als sie spürte, wie seine Hautwärme auf sie zukam.
"Hör mir zu. Du bist viel zu steif. Mach dich locker, sonst kann ich deine Aura nicht messen. Schließ deine Augen. Stell dir einen Mann vor, den du magst." Er schloss wieder die Augen und schürzte die Lippen.
Sie versuchte, sich darauf einzulassen und war sich nicht sicher, ob sie sich irrte. Als sie einen Millimeter Berührung auf ihren Lippen spürte, zuckte sie zurück und stand verwirrt auf.
Leicht enttäuscht nahm er den Zettel mit ihrem Maßen vor. "Deine Aura ist ... praktisch nicht vorhanden." Er schrieb "Aura: schwarz". "Daran müssen wir arbeiten."
Er reichte ihr den Zettel. "Schreib mir deinen Namen auf und wie ich dich kontaktieren kann für das Fotoshooting im Mai. Hast du Whatsapp?"
Sie schrieb ihre Email-Adresse auf.
"Schreib auch deine Telefonnummer dazu."
"Nein, über Email, bitte." Sie reichte ihm den Stift und den Zettel mit ihrer Mailadresse zurück. Stolz, dass sie erfolgreich Nein gesagt hatte.
"Wir müssen an deiner Ausstrahlung arbeiten bis zum Fotoshooting", erklärte er. "Lass uns zusammen in die Sauna gehen. Hast du am Wochenende Zeit?"
Sie nickte. Es wurde Zeit zu gehen und sie zog sich um. Er begleitete sie nach unten und fuhr fort, sie mit einem Redeschwall zu überhäufen. "Ich bin wie der schwule Freund, den du dir immer gewünscht hast. Bald wirst du froh darüber sein, dass wir uns kennen gelernt haben."
Sie nickte und war bereit, es mit dem Modeln wenigstens einmal zu versuchen.
Unten auf der Straße legte er wieder die Hände unter ihren Schultern auf sie, sodass die Unterkanten seiner Handballen auf ihren Brüsten ruhten, während er ihr von den tollen Zeiten erzählte, die sie gemeinsam vor sich hätten. Dann verabschiedeten sie sich voneinander.
Sie blickte auf die Uhr. Zweieinhalb Stunden hatte sie im Atelier verbracht und fragte sich, wohin die Zeit verflogen war. Zweieinhalb Stunden, über die sie nicht würde reden können, ohne sich seltsam vorzukommen und sich zu fragen, ob sie einen Fehler gemacht hatte.