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Restzeit
Es war ein sonniger letzter Tag für den Mann. Das Großstadtpanorama war überzogen von Glanz, im Fluss spiegelte sich die Sonne in Form tausender schwirrender Lichtperlchen und auf dem breit angelegten Fußgängerweg herrschte ein heiteres Durcheinander. Touristen aus aller Welt genossen hier die Aussicht auf die Skyline der Stadt und das reichhaltige Angebot an Straßencafés mit Terrasse, untermalt von den wehmütigen Klängen eines Akkordeonspielers, welcher hier seinen Tagesunterhalt zu verdienen hoffte.
Trotz des schönen Wetters war es kalt und windig. Der Mann drückte seinen Hut fester auf den Kopf, den Schal zog er eng zu. Der kleine Koffer lastete unangenehm in seiner rechten Hand, die Linke löste diese bald ab. Er hatte noch viel Zeit bis zur Abreise. Er würde den Zug zum Flughafen erst am späten Nachmittag nehmen. Da die Innenstadt für ihn nichts Neues mehr enthielt, was sich zu sehen noch gelohnt hätte, flanierte er hier, am befestigten Flussufer umher, um sich die Zeit zu vertreiben. Er blickte auf die Wasseroberfläche, erfreute sich am flinken Tanz des Lichtes und sann etwas über die Unendlichkeit nach.
Den Fußgängerweg hier war er schon ein paar Male abgelaufen, am besten blieb er einfach stehen und genoss die Musik des Straßenmusikers, Töne aus einem fernen Lande, vermutlich Osteuropa, vielleicht Russland. Windböen trugen die Töne davon, gaben der Musik einen leicht flimmernden Klang, mal kräftig laut, mal leise und dünn. Der Mann rückte erneut seinen Hut zurecht und warf einen großzügigen Betrag in die Mütze des Spielers, der ihn mit einem schwermütigen Nicken bedachte.
Ohne ein Ziel spazierte der Mann nun doch weiter, sah sich um, erkannte stumme, bekannte Bilder, nichts, was noch seine Neugier weckte, was sich noch lohnen würde anzufangen. Eine Brücke über den Fluss lud ein ins Zentrum, er folgte den zahlreichen Menschen, die sie überquerten, war drüben, blieb stehen, sah die langen Einkaufsstraßen. Kaffees hatte er genug getrunken und auf ein weiteres Museum hatte er auch keine Lust mehr. Die Wege waren ohnehin zu weit und er war hier genug gelaufen. Der Mann drehte wieder um, überquerte die Brücke, spazierte umher, kam wieder zur Stelle von vorhin, aber der Akkordenspieler war nicht mehr da. Er entdeckte eine Bank, auf die er sich setzte.
Für eine unbestimmte Zeit saß er dort, den Koffer auf seinen Schoß gelegt. Die Wintersonne stand tief, er sah auf die Uhr und war recht froh. Langsam würde es Zeit für den Zug sein.
Man fand den Mann tot auf einer Bank im Vorstadtbereich. Ein Hut lag ein paar Meter weiter im Gras, der Wind hatte ihn wohl verweht, und konnte die wenigen weißen Haare auf dem leblosen Haupt des Mannes nicht mehr verbergen. Sein Gesicht war grau und faltig, sein körperlicher Zustand abgezehrt. Ein kleiner Koffer lag auf ihm.