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P
Vor siebenhundertdreizehn Tagen wurde P von einem Regenwurm gefressen. Nicht, dass diese Zeitspanne für ein Phosphoratom relevant ist, es ist immerhin schon seit viereinhalb Milliarden Jahren unterwegs. Es war ihm gleich, samt dem Überbleibsel eines Eschenblattes in den Schlund des Wurms gesogen zu werden. Nach Durchlaufen der hundertsechsundzwanzig Segmente dieses stattlichen Exemplars wurde P Teil eines kleinen Haufens Regenwurmexkremente und damit zu Humus. Das war es, was ein Atom machte: Es bestand und wanderte, wie ein Nomade, der sich im Strom des Geschehens treiben ließ.
Während dieses feuchtwarmen Sommers spülten viele Regenschauer P in seiner Verbindung mit mehreren Os ins Erdreich. Andreas Weber, Diplom-Lebensmittelchemiker, liebte es, sich solche Verbindungen bildlich vorzustellen. Wie das Phosphoratom mit seinen winzigen, offenen Elektronenärmchen die Sauerstoffatome in Empfang nahm, denn in ihrer Verbindung waren sie stabiler als jedes für sich.
Ziemlich genau so war es bei Andreas und seiner Verlobten. Wie P und O, so hatten auch er und Franka einen vollständigen Kern. Nach außen hin jedoch hatte jedem Einzelnen von ihnen etwas gefehlt, ein wenig Liebe, ein paar Elektronen, etwas Zweisamkeit, durch die alle Beteiligten einen vollständigeren Zustand erreichten. Nachdem er jahrelang nicht die richtige Partnerin hatte finden können, nahm er Franka mit offenen Armen in sein Leben auf und teilte es jetzt mit ihr.
Knappe zwei Jahre bevor P von Frankas geliebtem Diplom-Lebensmittelchemiker gegessen wurde, sickerte es also mithilfe von Wasser – einer besonders glücklichen Dreisamkeit von einem O und zwei Hs – samt vier anderen Os aus dem Regenwurmhaufen in den Boden. Dieses Fleckchen Erde lag nicht weit vom Haus, in das Andreas und Franka eingezogen waren. Ohne es zu wissen lief Andreas bei seiner täglichen Joggingrunde in genau dem Moment an der Stelle vorbei, in dem ein unterirdischer Pilz P in die Wurzel eines Birnenbaums transportierte, um dafür ein wenig C zu bekommen.
Zwei Sommer später war es so heiß, dass Andreas Weber auf einer dieser Runden vor Anstrengung schwindelig wurde und er eine Pause brauchte. Nicht ahnend, dass seine Schlappheit nicht allein durch die Hitze bedingt war, flüchtete er in den Schatten eines Birnenbaums. Nachdem Andreas sich etwas besser fühlte, pflückte er sich eine reife Birne und verschlang sie. So passierte es, dass P, welches zuvor vom Birnenbaum in genau diese Frucht integriert wurde, als Teil des Fruchtfleisches Andreas’ Speiseröhre hinabglitt und im Magen landete. Als Andreas sich einigermaßen erholt hatte, trug er P in seinem Bauch nach Hause.
»Na, Schatz, wie war’s?«
»Geht so. War ziemlich kaputt, bin nicht weit gekommen.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass du noch warten sollst. Mit deinem Husten und der Hitze.«
»Hast ja recht«, sagte Andreas und gab ihr einen verschwitzten Kuss auf die schmalen Lippen. »Ich geh mal duschen.«
»Mach das. Und vergiss nicht, dass wir heute Mittag bei den Nachbarn zum Grillen eingeladen sind.«
Statt zu den Nachbarn fuhren sie ins Krankenhaus: Während Andreas das kalte Wasser auf den Kopf rauschte, wurde er von einem Hustenanfall gepackt, dessen Auswürfe das Wasser um seine Füße für kurze Zeit rot färbten. Erschrocken rief er nach seiner Frau, kurz darauf waren sie sich in ihrer Umarmung so nah wie das P den Os.
Inzwischen hatte eine Mannschaft von Enzymen P und alle anderen Nährstoffe aus den Birnenstücken in Andreas’ Magen befreit. Auf der Fahrt ins Krankenhaus wurde P unbemerkt aus dem Dünndarm des Diplom-Lebensmittelchemikers in eine der vielen kleinen Blutgefäße befördert, die den langen Schlauch umschließen wie die Hyphen eines Pilzes die Wurzeln der Bäume. Das verlobte Paar saß im Wartesaal, als P aus Andreas’ Blut gefiltert und in eine Zelle des linken Lungenflügels transportiert wurde. Es war jedoch nicht irgendeine Zelle. Sie war Teil eines kleinen Haufens aus mittlerweile vielen Millionen Zellen, deren gemeinsame Urahnin bereits zu mutieren begann, als Andreas noch nicht von der Existenz seiner jetzigen Verlobten wusste.
Von der Existenz des kleinzelligen Bronchialkarzinoms erfuhr er erst ein paar Wochen später, als die mutierte Zellfamilie unweit seines Herzens so weit gewachsen war, dass sie die Onkologen auf computertomografischen Bildern erkennen konnten. Onkelogen, hatte Andreas bei einem seiner Besuche im Krankenhaus verstanden, als er sechs Jahre alt war. Damals lag dort sein an Krebs erkrankter Opa, und er dachte, dass die Ärzte eine spezielle Art von Onkeln waren. Heute war er schlauer.
Inzwischen hatte P längst seinen Platz in der DNA der Bronchialkarzinomzelle eingenommen. Was das Ganze für Andreas und Franka bedeutete, davon wusste P nichts.
Der Diplom-Lebensmittelchemiker tat sein Bestes, mit der Diagnose klarzukommen. Wozu sich aufregen, eine unsichtbare Gewalt anprangern, sie beschimpfen, er habe doch nie geraucht, sich nicht allzu schlecht ernährt. Das Problem mochte in seinen Genen liegen, wie P jetzt, denn viele Mitglieder seiner Familie waren von dieser Krankheit heimgesucht worden. Das war es, was Franka sagte: heimgesucht. Wie ein Dämon. Andreas glaubte nicht an Dämonen, er war Chemiker, wusste, wie die Welt funktioniert. Und so wusste er auch, dass es keine paranormale, böse Macht war, die sich in seinen Körper eingenistet hatte, sondern konnte es sachlich und fachlich erklären. Ein Schutzmechanismus war ausgefallen, der Zellen daran hinderte, sich weiter zu teilen. Wie ein Airbag im Auto defekt sein und den Unfalltod des Fahrenden herbeiführen kann: Pech, in der Natur der Dinge liegend, nicht zu ändern.
Eine Behandlung lehnte Andreas ab, sie hätte höchstens ein paar Wochen rausgeholt, vielleicht zwei Monate, aber wozu? Franka war am Boden zerstört, für sie war ihr Mann das Wichtigste im Leben, heiraten wollte sie ihn und mit ihm das Leben teilen. Sie mochte seine Art, die Dinge etwas anders zu sehen, aber wie konnte sie sich damit abfinden, dass er ihr genommen würde? Sie weinte viel, Andreas tröstete sie. Manchmal umgekehrt. Er ging weiter zur Arbeit so lang es ging, konzentrierte sich auf seine Chemie. Doch immer öfter driftete er ab, wenn er im Labor saß, schaute aus dem Fenster und stellte sich die Chemie seines eigenen Körpers vor. Besonders dann, wenn die Gewissheit über das baldige Ableben dieses Körpers sich in den Kopf desselben drängte und ihn Gefühle überkamen wie Verzweiflung und Verwirrung, welche ihn bisher nicht allzu oft belästigt hatten. In diesen Momenten erinnerte er sich an das Wunder, dass dieser komplexe Körper überhaupt funktionierte, nicht nur jede einzelne Zelle – für sich bereits erstaunenswert −, sondern vor allem die Gesamtheit der körperlichen Prozesse. War es da nicht überraschend, dass nicht viel öfter etwas schieflief?
»Ich weiß, also habe ich keine Angst«, sagte er sich.
Hundertsechzehn Tage später passierte es. Auf der Palliativstation im gleichen Krankenhaus, in dem Andreas seine Diagnose bekam. Nachdem sein Herz aufhörte zu schlagen − das hatte der Lebensmittelchemiker seiner Frau noch erklärt − war es kein P, sondern ein O, welches den Tod bedingte, oder besser gesagt seine Abwesenheit: »Der Zweck, den der Sauerstoff in den Zellen erfüllt, ist sehr simpel«, sagte er, was ihm half, sich mit dem baldigen Sterben auseinanderzusetzen. Jedenfalls glaubte er das. Und so erzählte er ihr über die Kette von Molekülen in den Mitochondrien aller Zellen, in der Elektronen von einem zum anderen transportiert würden, so wie Dachdecker sich Ziegel zuwarfen. Die freiwerdende Energie werde in kleinen Molekülen gespeichert, die alle Prozesse am Laufen hielten. Und der Sauerstoff, den wir einatmen, sagte er, werde dafür benötigt, die Elektronen am Ende der Transportkette aufzunehmen, nichts weiter. Ein O breite seine winzigen Elektronenärmchen aus, nehme zwei Elektronen und zwei Hs auf, und so werde aus Sauerstoff und Wasserstoff ein Wassermolekül: H2O. Das sei alles. War das nicht erstaunlich und wunderschön? Seine Worte brachten Franka zum Weinen.
Nach drei Tagen Dämmerzustand gab es dann in den Zellen von Andreas’ Körper keine neuen Os mehr, die über die Blutbahn ständig jede der etwa fünfzig Billionen Zellen mit seinen sechzig Billiarden Mitochondrien erreichten, weil seine Lunge aufhörte zu atmen. Die Kette stoppte und es gab keine Energie mehr zum Leben, keine Lebensenergie, sodass der Lebensmittelchemiker schließlich starb.
Und so kam es, dass P mitsamt aller Os, Cs, Hs, Ns und einigen anderen Elementen in einer Urne landete. In etwas mehr als drei Kilogramm dunkelgrauer, grober Asche. Eine Weile stand sie bei Franka im Wohnzimmer und brachte sie immer wieder zum Weinen. Manchmal dachte sie an Andreas’ Sicht der Dinge, seine Faszination über die Chemie des Lebens, die Os und die Hs und die Ps, und sie musste schmunzeln, lachen sogar, bevor der nächste Schwall an Tränenflüssigkeit sich seinen Weg auf ihre Wangen bahnte.
Wenige Wochen später nahm Franka die etwa drei Kilogramm, die von ihrem Diplom-Lebensmittelchemiker übriggeblieben waren, auf einem Spaziergang mit in den Wald und streute sie unter einem Baum in die Erde, so wie ihr geliebter Andreas es gewollt hatte.
»Stell dir nur vor, wie diese gewaltige Menge an Atomen, die mir für eine Weile von der Natur überlassen wurde, sich dort in der Erde wieder mit dem Rest vermischt. Ich habe sie gegessen und getrunken, in Form von Gemüse und Obst und Getreide und Wasser, allesamt aus dem Boden. Jetzt gehen sie dorthin zurück. Ist das nicht unglaublich? Ist das nicht schön?«, hatte er sie gefragt, und sie hatte genickt und gedacht, sie sollen noch nicht zurückgehen.
Wenige Monate später wurde P von einer Made gefressen.