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Okay
Als ich aus der Straßenbahn aussteige, bleibe ich im Spalt zwischen der Tür und dem Bahnsteig hängen. Ich sehe den nassen Boden schon auf mich zukommen, kann mich aber gerade noch so halten. Es hat seit Tagen ununterbrochen geregnet. Heute, wo ich das Haus verlassen muss, hat es einfach so aufgehört. Trotzdem ist das Wetter irgendwie unangenehm. Eine Art Nebel steht zwischen den Häusergassen und hüllt die Welt in einen Schleier. Alles wirkt ein bisschen surreal, als wäre ich kilometerweit von allem entfernt.
Ich war noch nie in diesem Viertel der Stadt. In der Mitte der Straße stehen große alte Eichen, umrahmt von alten Sandsteinhäusern. Die Fenster sind beschlagen. Ich muss nur geradeaus die Straße herunter. Und dann am besten nicht die Hausnummer zweiundsechzig übersehen. Das Pflaster ist uneben. Immerhin befinde ich mich auf der richtigen Straßenseite. Heute habe ich Glück. Irgendwie. Meine Hände fühlen sich eisig an, obwohl es eigentlich nicht kalt ist.
Ich verpasse die Hausnummer nicht. Das Haus ist aber auch kaum zu übersehen. An der Hauswand befindet sich ein riesiges Schild, damit auch ja jeder weiß, weshalb man ins Gebäude geht. Ich hatte mir das alles ein bisschen diskreter vorgestellt. Mühsam drücke ich die schwere Holztür auf, als mir geöffnet wird. Direkt vor mir befindet sich ein moderner Aufzug, der sicher nachträglich eingebaut wurde. Das ganze Treppenhaus wirkt irgendwie unproportional. Ich muss in den zweiten Stock. Die Aufzugstür klemmt.
An der Anmeldung sitzt eine junge Frau. Sie fragt nach meiner Versichertenkarte. Ich könne schon mal ins Wartezimmer, die Karte brächte sie mir gleich wieder. Es dauert nicht lange, bis ich aufgerufen werde und in das Behandlungszimmer darf. Die Einrichtung ist so, wie ich sie erwartet habe. In der Ecke steht eine Couch, gegenüber ein Sessel. Alles ist schwarz und weiß gehalten, einige Bilder an der Wand sind die einzigen Farbtupfer im Raum. Ich vermisse einen esoterischen Flair. Die ältere Frau mit den kurzen grauen Haaren reicht mir die Hand und stellt sich als Frau Winter vor. Meinen Namen kennt sie schon, ich habe eigentlich gar keine Lust mit ihr zu reden. Sie schiebt den Sessel zur Seite und setzt sich auf die Couch.
“Erzählen Sie mal, Frau Schneider, warum sind Sie heute hier?”
“Naja, mein Hausarzt meinte ich soll mal zu Ihnen.”
“Nur deshalb sind Sie hier?”
Ich schweige und schaue aus dem Fenster.
“Na gut, dann …”, sie schaut auf ihre Unterlagen. “Also, ihr Hausarzt meint Sie sollen her kommen, weil Sie Zeugin eines Unfalls geworden sind, ja?”
Ich schaue sie an, während ich über eine passende Antwort nachdenke. Ihr Gesicht verrät mir nichts.
“Ich denke Zeugin trifft es nicht wirklich.”
“Wie würden Sie es denn formulieren?”
“Involviert.”
“Ach so”, antwortet sie knapp und mustert mich und meinen Rollstuhl von oben bis unten. Kalt erwischt. Ich schiebe meine Unterlippe vor und nicke langsam. “Gut kombiniert”, denke ich mir.
Sie schweigt eine Weile, muss wohl ihr Gedanken ordnen. Auf der Straße scheppert etwas.
“Erzählen Sie mir doch einmal, wie dieser Unfall abgelaufen ist.”
Ich bin überrascht, hatte mit einer anderen Frage gerechnet.
“Ich bin mit meinem Fahrrad die Landstraße lang gefahren. Ein Auto hat mich überholt, ist in das entgegenkommende Auto gefahren und dann auf die Seite über mich gekippt. Ich bin also quasi ein Nebenprodukt.”
“Warum ein Nebenprodukt?”, fragt sie und schaut mich leicht schockiert an.
“Ich war ja nicht wirklich beteiligt.”
“Aber die Verletzungen haben Sie doch.”
“Offensichtlich.”
Eine kurze Pause entsteht, etwas Wasser läuft langsam die Scheibe herunter.
“Hatten Sie noch andere Verletzungen?”
Ich schiebe mein Pony zur Seite und fahre dabei an der langen Narbe entlang, die sich fast über meine gesamte Stirn zieht.
“Kotflügel”, sage ich.
Sie schaut mich fragend an. Ich verstehe nicht was sie möchte.
“Kotflügel?”, sagt sie schließlich.
“Das Teil am Auto?”, sage ich verständnislos. Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass mich ihre Nachfrage aus dem Konzept gebracht hat.
“Wieso Kotflügel?”
“Naja, der Kotflügel vom Auto.”
Sie antwortet nicht, sieht mich nur erwartungsvoll an.
“Der Kotflügel vom Auto hat mich gestreift und geschnitten. Find ich irgendwie ironisch - rückblickend. Weil ich mir in dem Moment sicher ‘Scheiße’ gedacht hab.”
Sie nickt und notiert etwas.
“Können Sie sich an alles erinnern?”
“Fast. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich gefallen bin. Ein paar Sekunden fehlen mir.”
“Und was ist das Erste, an das Sie sich danach wieder erinnern?”
“Das Auto lag neben mir. Auf dem Dach. Ich konnte reingucken.”
Das Fenster ist jetzt fast klar, warme Sonnenstrahlen scheinen auf die Sitzecke. Ich spiele an meinem Armband.
“Er hing da, irgendwie in seinem Sitz, kopfüber und hat mich angeschaut. Er hat geblutet, weil überall Glas von den Scheiben war.”
“Wie haben Sie sich gefühlt?”
“Ich wollte, dass er wegschaut, die Augen zumacht, irgendwas. Aber er hat mich einfach nur angestarrt. So lange, bis sich jemand vor mich gestellt hat.”
Ein kleiner Vogel fliegt am Fenster vorbei. Frau Winter sagt nichts. Sie schaut nur vielsagend. Während ich die Blätter im Wind beobachte, sehe ich, wie sie wieder Notizen macht. Ein Blatt fällt vom Baum.
“Er ist gestorben.”
Sie nickt.
“Ich habe seine Frau getroffen. Sie hat sich entschuldigt oder hat es versucht, ich weiß gar nicht wofür eigentlich. Ist ja nicht ihre Schuld.”
“Manchmal fühlen wir uns schuldig, obwohl wir nicht schuld sind”, stellt Frau Winter fest.
Sie schaut mich erwartungsvoll an. Zum ersten Mal in diesem Gespräch habe ich das Gefühl, genau zu wissen, was sie von mir hören möchte. Aber wahrscheinlich müsste ich lügen.
“Sie hat mir eine Schildkröte geschenkt.”
Ich krame in meinem Rucksack und hole die kleine blaue Schildkröte heraus.
Frau Winter bekommt strahlende Augen.
“Das ist ein Lapislazuli”, erklärt sie mir. Ich lege die Schildkröte auf den Tisch.
“Finden Sie das nicht ironisch?” fragt sie.
“Was?”
“Die Schildkröte.”
“Nein?”
“Denken Sie mal darüber nach, wofür die Schildkröte steht.”
“Sie ist langsam.”
“Und Sie sehen keine Ironie darin, dass Ihnen die Frau eine Schildkröte geschenkt hat? Wo Sie doch jetzt langsamer sind als vor dem Unfall?”
Ich lache kurz. Nein, so hatte ich das noch nicht gesehen. Gemeinsam schauen wir auf die Schildkröte.
“Bedeutet diese Schildkröte etwas für Sie?” fragt sie, ohne die Augen vom Stein zu nehmen.
“Nein.” Die Schildkröte hat kleine dunkle Einschlüsse.
“Eigentlich müsste ich doch jetzt beleidigt sein”, denke ich laut.
“Sie müssen nicht, aber Sie könnten.”
“Sie hätte den Stein behalten sollen.”
“Warum?”
“Ich konnte sie nicht mal anschauen. Sie wollte etwas von mir, das ich nicht sagen konnte.”
“Was meinen Sie, was sie von Ihnen wollte?”
“Vergebung? Ich glaube sie wollte hören, dass es okay ist.”
“Aber es ist nicht okay?”
“Es war nicht okay. Ich könnte immer noch drauf verzichten, aber es ist okay.”
Auf dem Baum streiten zwei Tauben.
Als ich die Praxis verlasse, riecht es nach Sommerregen. Ich kaufe mir in der Bäckerei ein paar Häuser weiter eine Apfeltasche. Am Tag des Unfalls hatte ich eine dabei, kam aber nicht dazu sie zu essen. Seitdem wollte ich keine. Ich fahre mit dem Rücken an eine Hauswand und beobachtete die Menschen, die auf der anderen Straßenseite vorbeigehen. Nach einer Weile schaue ich auf meine Uhr und stelle fest, dass ich schon fast eine Stunde auf dem Gehweg stehe. Ich stecke die leere Papiertüte in meinen Rucksack und gehe zur Straßenbahn. Es sind nur drei Haltestellen, bis ich wieder aussteigen muss. Ein Passant hält mir das Tor zum Schotterweg auf. Mühsam arbeite ich mich über den unebenen Boden. Ich fahre systematisch die Wege des Friedhofs ab, bis ich sein Grab gefunden habe. Es ist still, unterwegs bin ich niemandem begegnet. Unentschlossen stehe ich eine Weile da, mustere den Stein. Er ist hübsch. Unter seinem Namen sind mehrere Kreuze kunstvoll angeordnet. Ich nehme die Schildkröte aus meiner Hosentasche und drehe sie eine Weile zwischen meinen Fingern. Fast lande ich in der matschigen Erde, als ich die Schildkröte und einen Zettel zum Grablicht lege. Das Tor am Eingang schlägt zu und ich manövriere mich schnell aus dem feuchten Rasen. Beim Verlassen des Friedhofs trifft mich das Tor unsanft im Rücken. Aber das ist okay.