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Ohne Träume

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05.04.2004
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Ohne Träume

"Ohne Träume lebt man in einem Alptraum, jede Nacht ein schneller Tod, jedes Erwachen eine schmerzhafte Geburt, und jeden Tag aufs neue der gleiche Alptraum wieder, der sich über Jahre, Jahrzehnte bis in die Unendlichkeit streckt."

Sie konnte sich noch genau an die Worte dieses grauhaarigen kleines Mannes erinnern, den sie zufällig an dem Bistro im Bahnhof kennengelernt hatte.

"Das klingt ziemlich verzweifelt, traurig." Was hätte sie darauf auch sonst erwidern können?

Er schien ihre Antwort gar nicht gehört zu haben.

"Es ist die Strafe für ein ungelebtes Leben: bloßes Existieren. Ein Tag wie jeder andere, beliebig", brummelte er mit leeren Augen, nippte an seinem Rotwein und stellte das Glas entschlossen auf den Tisch zurück. "Aber es ist immerhin ein Leben, man sollte dankbar dafür sein! Jedes Leben, auch das elendeste, ist besser als der Tod."

"Nein!" platzte es trotzig aus ihr heraus. Sie wunderte sich selbst über ihre übermäßige Reaktion.

"Nein!", wiederholte sie. "Es gibt Schlimmeres als den Tod. Weitaus Schlimmeres! Sie haben es nur noch nicht erlebt. Seien Sie froh, seien Sie dankbar dafür."

Sie spürte, daß sie nicht länger bleiben konnte. Es war nicht fair ihm gegenüber, ihn jetzt einfach so sitzen zu lassen in seiner Einsamkeit, aber es ging nicht anders. Sie mußte doch auch an sich selbst denken – vor allem an sich selbst. Schließlich war es ja doch nur eine Zufallsbekanntschaft, was ging sie sein ungelebtes Leben an? Sie hatte genug mit ihrem eigenen zu tun, gelebt oder nicht. Dem geht es doch offensichtlich ganz gut, was will er denn? Das war kein Penner, das sah man sofort. Der hatte schon sein Auskommen, Frührentner wahrscheinlich, trägt frisch gewaschene Klamotten, ist gesund und hat vielleicht nur ein wenig zu viel Zeit für sich und seine Gedanken. Was jammert er da anderen die Ohren voll? Es ist schon seltsam, daß gerade diejenigen, die am wenigsten zu klagen hätten, eben das am lautesten tun. Lebensüberdruß offensichtlich.
Keine Träume mehr – pah! Soll der doch mal schauen, wie er sich mit Träumen den Bauch vollschlägt! Nichts zu fressen zu haben, keine Wohnung, auch im Winter – das sind Probleme. Echte, wirkliche, handfeste Probleme. Da ist Träumen reiner Luxus.

Unvermittelt traf sie ein harter Schlag auf den Hinterkopf. Brennende Wut stieg in ihr hoch, die aber sofort von einer Welle tiefer, kreatürlicher Angst verschlungen wurde.

"Träumst du, oder was?" fauchte der Mann hinter ihr. Sein Atem roch nach kaltem Rauch und schlechtem Bier.

"Muß ich denn immer alles selber machen?" knurrte er und stieß sie achtlos zur Seite, um in der engen Küchenzeile an die Kühlschranktür zu kommen, brach eine Bierdose aus der Plastikumhüllung und knallte die Tür wieder zu.

"Altes Drecksluder!" zischte er, "Du wirst auch jeden Tag dämlicher. Wenn ich dich nicht aus deinem Dreck herausgeholt hätte …" Er nahm einen Schluck und schlurfte zurück ins Wohnzimmer.

Sie unterdrückte ihr Heulen. Hätte ja alles nur noch schlimmer gemacht. Er hatte ja doch recht. Er hat immer recht. Sie sollte zufrieden sein. Sie hatte auch keine Träume mehr, was wollte sie denn noch?

 

Hallo Hajku!

Deine Geschichte gefällt mir ausgesprochen gut! :)
Sehr gekonnt verbindest Du den ersten Teil mit dem zweiten durch die Gedanken übers Leben und Träumen, und darüber, daß man doch froh sein kann, daß es einem nicht noch schlechter geht...
Man kann Deiner Protagonistin eigentlich nur wünschen, daß sie ihr Leben finden wird. :)

Bei der direkten Rede machst Du manchmal Beistriche (Kommas), manchmal nicht, ansonsten saubere alte Rechtschreibung. :)

»"Altes Drecksluder!" zischte er, " du wirst auch jeden Tag dämlicher.«
– Hier beginnt aber mit „Du wirst“ auf jeden Fall in der direkten Rede ein neuer Satz. ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Beeindruckend, wie Du Deine Prot von der moralisierenden Person, die dem anderen vorwirft, sich nicht mit den realen Problemen zu beschäftigen, um sie selbst dann in einer solchen Situation zu finden.

Komplexe, gute, kurze Geschichte.

Grüße

hexy

 

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