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Nachbar "Die Münze"
Der Nachbar von oben.
Es läutete an der Tür. Es läutete sehr lange und eindringlich. Er wusste, dass es nur der Nachbar von oben sein kann. Dem Läuten folgte ein vehementes Klopfen. Er bewegte sich nicht, verhielt sich still, öffnete nicht. Er wusste es ganz bestimmt, es muss der Nachbar von oben sein. Er wollte jetzt einfach nicht. Und er wusste den Grund für den Besuch, denn er hatte provoziert und es war ja nicht das erste Mal, dass der Nachbar anklopft, um sich zu Beschwerden, bestimmend, aber immer mit einem Grinsen im Gesicht.
Es läutete und klopfte wieder an der Tür. Dasselbe Spiel wie am Vortag. Er wollte nicht, wollte den Nachbarn zappeln lassen. Oder hatte er Angst vor dem Gespräch?
Es läutete und klopfte wiederum an der Tür. Es war Tag 3.
Diesmal öffnete er sofort und versuchte Stärke und Entschlossenheit zu zeigen. Er wusste, wer vor der Tür stehen würde. Und "Tada!", er hatte recht.
Die Tür schwang auf und vor ihm stand der kleine, sommersprossige, rötliche, sportliche, grinsende Nachbar von oben, Rainer.
Dieses Mal wird er ihm die Meinung sagen, dachte Thomas.
„Hallo“, sagte Rainer und grinste dabei.
„Hallo“, erwiderte Thomas.
Er stand angelehnt am Türstock seiner Wohnung, die Türe halb geöffnet. Er wollte ja nicht, dass Rainer zu viel von seiner Wohnung sieht. Seine Hände vergrub er in den Hosentaschen. Die Finger seiner rechten Hand spielten aufgeregt mit der Münze.
„Also, es geht um die Rollos. Könntest du diese in der Früh nicht so laut auf und zu machen“, begann Rainer.
„So halb 6 Uhr ist schon etwas früh.“
Er grinste aus einer Mischung aus Arroganz und Unsicherheit.
„Und mein Schatzi hat so einen leichten Schlaf.“
„Oh, ja. Buh. Das tut mir leid. Hab nicht gewusst, dass es so laut ist“, hörte sich Thomas selber antworten. Er hörte seine eigene Stimme gedämpft wie durch Watte gesprochen. Sein Blick wurde leicht verschwommen, als ob er durch ein Milchglas die Szene beobachten würde. In seinen Ohren pulsierte es. Das Blut pumpte in seinen Ohren.
Verharren, angreifen, davonlaufen.
Plötzlich fingen sich der Türstock und die Umrisse der Person in ihr an zu drehen. Der Boden wurde langsam, aber stetig zur Decke. Die Decke begann sich unter seine Füße zu schieben. Wie die Anrichte im Vorraum drehte sich auch sein Mageninhalt.
Der milchige Blick war nicht mehr weißlich, er wurde schwarz. Thomas glaubte zu fühlen, wie sich sein Mageninhalt langsam seinen Weg aus dem Magen in Richtung Speiseröhre und Mund bahnte. Er spürte das Blut nun auch in seinem Kopf pulsieren.
Mitten in seinem schwarzen Blickfeld schien sich das Schwarz langsam etwas zu lichten, als schien sich ein Vorhang aufzutun. Der Vorhang öffnete sich immer weiter, Stück für Stück. Thomas hörte sich nur etwas murmeln, Angst stieg in ihm auf. Wie auch immer mehr sein Mageninhalt.
Der Vorhang schien den Boden, der nun die Decke zu sein schien, langsam aufzureißen. Panisch fing Thomas an zu blinzeln. Schweiß rann ihm in die Augen.
Der Vorhang präsentierte immer mehr das Schauspiel dahinter.
Die Aufführung zeigte einen Mann mit grauem Bart und Glatze. Auch eine Frau mit feuerrotem Haar war zu sehen. Die Zwei schienen sich zu unterhalten. Nein, sie unterhielten sich nicht. Der Mann redete mit eiserner Miene auf die Frau ein.
„Das kann doch nicht sein!", dachte sich Thomas.
Er bekam Panik.
Ein paar Schritte neben den zwei Erwachsenen stand ein kleiner Bub. Ein Bub mit hellblondem Haar. Sein Kopf war in Richtung der Erwachsenen gerichtet, sein Blick war verängstigt und traurig. Mit seinen kleinen Händchen umklammerte er ein kleines Spielzeugauto.
„Das kann doch nicht sein“, schrien seine Gedanken verzweifelt.
„Aufhören!“
Thomas erkannte den kleinen Buben.
Er erkannte den kleinen Thomas.
Er hatte Panik, hatte Angst. Sein Magen verkrampfte sich.
Verharren, angreifen, davonlaufen.
Es wurde schwarz vor seinen Augen.
Die Münze fiel zu Boden, rollte an die Türe, stieß dagegen, tanzte um seine eigene Achse und legte sich nach Vollendung seiner Aufführung leise auf den Boden.
Der Wecker läutete wie jeden Wochentag um 5:15 Uhr.
Thomas wand sich aus dem Bett. Sein Rücken tat ihm höllisch weh. Er müsse wieder mehr Rückenübungen machen, seinen Torso stärken, dachte sich Thomas.
Frühstücken, Zähneputzen, Anziehen. Wie jeden Arbeitstag. Er machte es emotionslos - ohne zu fühlen - wie eine Maschine. Er wollte nicht mehr in die Arbeit. Er hasste seinen Job. Zu viel war vorgefallen. Zu viele Enttäuschungen und zu viele Anfeindungen.
Er schnappte sich den Schlüsselbund von der Anrichte und öffnete die Tür.
Ein leises Scharren lies Thomas aus seiner Routine, aus seiner morgendlichen Umnachtung, aufwachen. Er blickte nach unten auf den Boden, von wo das scharrende Geräusch herkam.
Verwundert bückte er sich.
„Na, wo kommt die denn her?“
Er packte die Münze und schob sie in seine Hosentasche.
Die Tür fiel ins Schloss.
„…und der kleine Thomas in dir hat Angst und jammert in deinem Unterbewusstsein…“, hörte Thomas den Psychologen sagen.