- Beitritt
- 18.04.2002
- Beiträge
- 3.760
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
- Anmerkungen zum Text
Morbus disputationis mendacis - sinngemäß: Krankheit des lügenhaften Disputierens.
Morbus disputationis mendacis
„Schnell, schnell, mach schon!“
„Wohin?“
„Clemens – ist die vier frei?“
„Auf, los, in die vier!“
„Um was gehts hier?“
„Er ist bewusstlos, wahrscheinlich Alkoholeinfluss.“
„Nee – eher hat er es mit dem Herzen, Amir, schau den doch mal genau an!“
„Aber nach den vorläufigen Untersuchungsergebnissen weist doch alles auf ein Hirntrauma hin.“
„Na ja, von irgendwelchen Geräten gemachte Abbilder …“
„… die schon gar nix über die Psyche des Mannes aussagen können.“
„Hey Leute – schaut, die Ergebnisse!“
„Ergebnisse haben keine Intuition, keine Erfahrung, denen kann man nicht trauen. Wann ist das CT zum letzten Mal umfassend kalibriert worden?“
„Schon länger her, zwei Jahre, etwa …“
„… siehste!“
„Was sehe ich!? Es geht doch um Fakten: Eins plus eins plus eins ergibt doch immer noch drei!“
„Na ja – das hat dieser komische John, der Lennon, behauptet.“
„Der? Der ist doch schon ziemlich tot, außerdem war er Musiker, nicht grad ein Mathe-Genie. Was meinst du, Clemens?“
„Die Tatsache ist doch: Wenn du ein Nichts zu dem anderen addierst, dann hast du keine zwei Nichtse, das nähert sich eher asymptotisch an weniger als Null an. Das kannst du im Netz nachlesen, wenn es nicht wieder unterschlagen wird.“
„Ich mein doch nur … nun … was machen wir jetzt verdammt noch mal mit dem Patienten!“
„Genau, darum geht es. Wenn du mal deine geliebten Fakten aus dem Labor anschaust, dann siehst du, dass die Hämoglobinwerte, Kalium, Leukozyten – alle sind in der Norm, sogar der Komplementfaktor C3 und C4, da wird bis ins Detail gemessen!“
„Amir hat recht: So schlecht sieht das doch nicht aus, als Erstversorgung haben wir dem Patienten immerhin schon mal ein Pflaster auf die Stirn geklebt, ein sensitives! Und jetzt sollten wir sachlich, unideologisch und ergebnisoffen diskutieren, zum Wohle des uns anvertrauten Patienten. Ich will seinen Angehörigen nicht sagen müssen, dass in so einer angespannten Situation vorschnell gehandelt wurde.“
„Mach dir keine Sorgen, du bist gerade auf Grund deiner Jugend gestresst, sagen wir mal ‚emotional überengagiert‘, aber du wirst sehen, wir finden einen Kompromiss für die Behandlung, der dem Patienten und den Ärzten, auch dem Weltklima zugutekommt.“
„Um Herrgottswillen! Was hat das mit dem Klima zu tun! Der Mann atmet kaum noch!“
„Genau – und gibt somit weniger CO2 ab als du in deiner hyperventilatorischen Aufregung. Du kannst dankbar sein, wenn so ein kranker Mann deine Umweltsünden kompensiert. Eigentlich … eigentlich könnten wir darüber im ‚Journal for Climate-Studies‘ publizieren.“
„Gute Idee, Clemens! Vielleicht erwähnen wir unseren geschätzten Kollegen als Co-Autor. Weißt du, mein lieber Kollege, man muss immer die Gesamtheit sehen, nicht einzelne, angebliche Fakten und Konsequenzen, auch den Patienten, die Gesellschaft berücksichtigen. Du weißt doch sicher, wie sehr körperliches Wohlbefinden von den psychosozialen Gegebenheiten abhängt, darüber habe ich schon viel referiert und publiziert, zuletzt im ‚Mensch – Erde – Weltall‘ Magazin, dem Fachmagazin für Schwingungen und energetische Resonanzen. Weltweit gab es darauf gute Resonanzen.“
„Seid ihr noch bei Trost?! Gehen wir nicht mehr nach den Notaufnahme-Regeln von Prof. Dr. Compe und Frau Prof. Dr. Tenzge-Thue vor? Das hat sich doch über Jahre bewährt.“
„Na, na – diese ‚bewährten‘ Regeln werden im ganzen Bereich der Wüste Gobi nicht befolgt, die liebe Professorin war auch nur ein paar Jahre Notärztin, aber viele Jahre lang nach ihrer Pensionierung Autorin von bescheuerten rosaroten Kinderbüchern. Außerdem wurden diese Regeln erst vor zwölf Jahren eingeführt, überleg mal, wie lange es diese einengenden Vorschriften nicht gab! In diesen Zeiten war schließlich auch nicht alles schlecht, die medizinische Wissenschaft hat auch damals schon existiert. Wer weiß, ob diese Regeln in fünf oder zehn Jahren noch gelten …“
„… genau, bei den medizinischen Fortschritten! Kennst du nicht die Aussage der Organisation ‚FAKE‘, den ‚Frondierend argumentierenden Krankheits-Experten‘? Alles darf, nichts muss – in die Medizin übernommen werden.“
„Leute, ich darf hier offensichtlich nichts und muss auch nichts mehr: Schaut auf das EKG – der Mann ist tot!“
„Nur keine Hysterie, die überlassen wir den Frauen, werter Kollege. Andere Patienten kamen schon nachgewiesenermaßen tot hier an, da hat der hier doch viel bessere Chancen, sicher ist nur das EKG-Gerät kaputt!“
„Das klingt plausibel, ich ruf mal den technischen Service an.“