- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Mein letzter Tag
Begriffe: Kerze, schwimmen, Glasscherbe, Strickleiter, langweilig
Ich saß noch dort, als die Sonne sich bereits wieder mühsam über den Horizont quälte und ihr warmes Licht auf die trübe Umgebung schickte. Mein Vater hatte immer gesagt, am Meer gibt es die schönsten Sonnenaufgänge. Und in diesem Moment, in dem der tiefrote Ball sich anschickte, den Himmel zu erklimmen und dabei von der wogenden Oberfläche des Wassers gespiegelt und zugleich verzerrt wurde, mußte ich ihm Recht geben.
Die Kerze auf dem provisorisch errichteten Tisch, drei übereinander gestapelte Europaletten im Sand, brannte noch. Aber ihr Licht, das mich die Nacht über wach gehalten hatte, verblaßte angesichts der übermächtigen Sonne und so blies ich sie aus. Meine Wache war vorüber.
Ein metallischer Gegenstand berührte mich an der Schulter.
„Komm, wir müssen weiter.“ Jack. Mein alter Freund und Weggefährte Jack. Seit sie ihm damals im großen Krieg den rechten Arm weggeschossen hatten, trug er diese Prothese. Es erinnerte mich immer ein wenig an den Terminator. Mit dem Unterschied, daß Jack nicht nackt durch die Zeit reisen konnte. Langsam erhob ich mich, steckte die Kerze ein und folgte meinem Begleiter, der unbeirrt die Küste entlang wanderte. Ich trottete ihm langsam und müde hinterher und hing noch ein wenig meinen Träumen nach, behielt das Bild der Kerzenflamme im Auge, wie sie die ganze Nacht im Einklang mit dem lauen Wind getanzt hatte.
Dann kamen die Erinnerungen an den gestrigen Tag zurück. Die Flucht. Jack hatte mich mitten in der Nacht geweckt und gesagt, jetzt oder nie. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, doch dann sah ich, daß auf dem Gefängnishof die Hölle los war. Suchscheinwerfer kreisten über das Areal, ein menschlicher Aufseher bellte Befehle, Suchdroiden schossen auf alles, was sich bewegte.
Irgendwer hätte einen Ausbruch versucht, meinte Jack und deutete auf die Überreste eines Häfltings, der außerhalb des Gefängnishofes von einem Bulldozer aufgehoben und in die Leichenhalle gefahren wurde. Andere Insassen waren noch auf der Flucht. Das Chaos war unsere Chance. Vorsichtig stahlen wir uns aus dem Schlafsaal und durch die Tür nach draußen. Seit die meisten Wachen durch Roboter mit künstlich verstärkten Sinnen ausgetauscht wurden, war es nicht mehr nötig, die Türen zu verschließen. Wer hindurchtrat, wurde sofort erschossen – so einfach war das. Normalerweise jedenfalls. An diesem Tag war es anders, die Wachen waren anderweitig beschäftigt.
Niemand schien uns zu bemerken, als Jack mich im Zickzackkurs über den Hof führte, dann zwischen einigen verwinkelten Schuttbergen hindurch bis nach draußen. Irgendwie kam mir das alles sehr komisch und einfach vor – so als hätte jemand unsere Flucht von langer Hand geplant. Aber Jack beharrte darauf, daß alles nur ein dummer Zufall gewesen wäre. Vielleicht war es Schicksal, daß uns die Flucht gelang.
Wir rannten den ganzen Tag lang, immer in Richtung Norden. Unerbittlich trieb Jack mich voran, sogar durch einen reißenden Fluß mußten wir schwimmen. Ich wäre um ein Haar dabei draufgegangen, aber Jack hat mich aus dem Wasser gezogen. Irgendwann spät am Abend haben wir dann den Strand erreicht, wo wir auch die Nacht verbrachten.
Beim Gedanken an unsere gestrige Flucht überkam mich auch jetzt noch eine Gänsehaut. Bei jedem unregelmäßigen Geräusch, das den Rhythmus unserer Tritt- und Atemgeräusche durchbrach, glaubte ich, das grüne Funkeln aus den Augen der Wachdroiden zu sehen.
„Schau mal da, John! Ein Krüppel!“ Eine Gruppe Teenager hatte ein kleines Zeltlager errichtet und die Nacht vermutlich mit Sex, Alkohol und Drogen verbracht. Es kam mir seltsam vor, daß ich sie während meiner Nachtwache nicht bemerkt hatte. Doch dann fiel mir auf, wie weit wir uns schon von unserem Lager entfernt hatten. Ein Junge kam aus dem Zelt und umarmte das Mädchen, das eben noch gerufen hatte, von hinten.
„Verpiß dich, du Krüppel! Wir wollen dich hier nicht!“, schrie er und ich wußte, daß er Jack meinte. Die meisten Menschen hatten Angst vor Leuten wie ihm, vor den künstlichen Körperteilen, die den eigenen so überlegen waren. Jack hatte im Laufe der Jahre gelernt, damit umzugehen und reagierte auch jetzt nicht auf die Pöbeleien. Der Junge nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche und warf sie dann in unsere Richtung. Jack streckte seinen Metallarm aus und die Flasche zerbarst in tausende kleiner Glasscherben, die in alle Richtungen davonflogen. Ich schluckte kurz, das Geschoß hätte mich vermutlich direkt am Kopf getroffen, wäre Jack nicht gewesen.
Ich sah, wie in seinem Gesicht eine Veränderung vorging. Es verzog sich zu einer Grimasse des Zorns und seine ganze Körperhaltung spannte sich an. Drohend hob er den Arm und stürmte auf die Teenager zu als wir plötzlich einen Schuß hörten. Die Kinder rannten in Panik in ihre Zelte, Jack und ich blieben einen Moment lang wie angewurzelt stehen.
Von wo kam der Schuß? Hatten sie uns gefunden? Wo sollten wir hin? Jack packte mich am Arm und zog mich in Richtung der felsigen Klippen. Es tat ein wenig weh, weil er so fest zupackte, aber es war nötig. Hätte er mich nicht gehalten, wäre ich sicher gestolpert. Ich drehte meinen Kopf und sah, wie eine Gruppe Roboter auf uns zu jagte. Panik erfaßte mich als einer von ihnen seine Strahlenwaffe hob.
Ein Schuß löste sich und das Projektil aus reiner Energie durchtrennte die Luft und schnitt die Welt in zwei Hälften. Mich und das Geschoß in die eine, alles andere in die zweite. Es gab nur noch mich und den rotglühenden Energiestoß. Wie in Zeitlupe kroch er auf mich zu. Ich schloß die Augen, wollte noch einmal das Spiel der Kerzenflamme sehen, bevor...
„Wachen Sie auf.“
Ich schlug die Augen auf und sah gar nichts. Alles um mich herum war dunkel aber angenehm warm. Ich bekam Panik und versuchte, um mich zu schlagen, aber mein Körper bewegte sich nicht. Konnte sich nicht bewegen. Ich schien gefesselt zu sein. Ich spürte, wie sich etwas meinem Kopf näherte und dann konnte ich plötzlich wieder sehen. Eine Art Helm wurde mir abgenommen und ich bemerkte, daß ich in einem Stuhl saß und tatsächlich komplett an das Gestänge fixiert war.
„Wo bin ich hier?“, fragte ich mühsam.
„Beruhigen Sie sich. Ihre Reaktion ist vollkommen normal. Das geht allen Kunden so.“
Eine durchaus attraktive Frau in einem weißen Kittel löste die Klammern um meine Fuß- und Handgelenke. Der Stuhl stand in einer riesigen Halle, die mit allerlei Gerümpel vollgestellt war. Bizarre Konstruktionen aus Stahlträgern und Kabelsträngen ragten in die Decke, die infolge der schwachen Beleuchtung nur schemenhaft zu erkennen war. Es sah beinahe aus, wie ein Wald aus Strickleitern. Vor und neben dem Sessel standen Computerterminals auf deren Bildschirmen endlose Datenreihen flimmerten.
„Erinnern sie sich wieder?“, fragte die Frau mit weicher Stimme.
„Wenn ich ehrlich bin... nein...“
„Gut, fangen wir an. Ihr Name lautet Harry Fletcher, Aie sind 23 Jahre alt und Schlosser.“
„Nein... nein, das kann nicht sein... ich bin... ich meine... das Gefängnis...“
„Ja, eine schlimme Sache, oder? Aber es liegt nicht in unserer Hand, was der Kunde sieht.“
„Kunde?“
„Mister Fletcher, Sie befinden sich bei FutureTech. Wir geben Menschen die Möglichkeit, in die Zukunft zu sehen. Sie sehen ihren Tod.“
„Das war mein Tod?“ Der Schleier lichtete sich langsam und die Erinnerung kehrte zurück. Ja, ich hatte monatelang gespart, um diese neue Technologie zu benutzen. FutureTech zeigte einem die Zukunft – und das heute schon. Ein ziemlich einfältiger Werbespruch, wie ich fand. Aber es stimmte. Die Erfolgsquote des Unternehmens lag bei einhundert Prozent. Ich würde also auf diese Art sterben.
„Wann ist es soweit?“, fragte ich.
„Das können wir Ihnen nicht sagen. Wir wissen nur das Wie, das Wann bleibt uns verborgen. Unsere Ingenieure arbeiten noch an einer Lösung.“
„Kann ich es verhindern? Ich meine... ich muß doch einfach nur nicht ausbrechen... oder?“
„Nein, Sie können es nicht aufhalten. Viele vor Ihnen haben das versucht, aber aus irgendeinem Grund tritt der Todimmer auf exakt die Weise ein, die wir vorhersehen.“
Wenig später stand ich mit wackligen Beinen auf der Straße. Jack trat mit einem Lächeln auf mich zu und winkte mit seinem falschen Arm.
„Und? Wie wars? Kommen wir durch?“ Ich wollte antworten. Mein Gehirn versuchte, den Mund zu zwingen, Jack zu sagen, wir sollten die Sache abblasen. Ich wollte ihm sagen, daß wir dafür in den Knast gehen. Ich wollte es wirklich – aber ich konnte nicht. Irgendetwas hinderte mich.
„Ja, wir kommen durch. Mein Tod wird nicht bei diesem Überfall eintreten.“
„Gut. Dann laß uns keine Zeit verlieren.“, sagte er unbekümmert und warf mir eine Waffe und eine Maske zu. Auf offener Straße. So sicher war er, daß wir die Sache überleben würden.
Der Überfall war ein Kinderspiel. Wir nahmen die Beute an uns und verließen die Bank. Doch da endete der Coup. Die Polizei erwartete uns bereits und die Androiden zielten mit ihren Energiewaffen direkt zwischen unsere Augen. Wir kamen ins Gefängnis – für dreißig Jahre. Aber solange blieben wir nicht...
Die Sonne quält sich mühsam über den Horizont und schickt ihr warmes Licht auf die trübe Umgebung. Ich sitze hier und denke unwillkürlich an meinen Vater, der immer sagte, am Meer könnte man die schönsten Sonnenaufgänge sehen. Und in diesem Moment, in dem der tiefrote Ball sich anschickt, den Himmel zu erklimmen und dabei von der wogenden Oberfläche des Wassers gespiegelt und zugleich verzerrt wird, muß ich ihm Recht geben.
Ich blicke stumm in die Flamme der Kerze und denke an die Dinge, die uns erwarten werden. Es wird ein schwerer Tag für mich werden, mein letzter. Ich weiß genau, was passieren wird. Langsam wird es langweilig...