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Lolas Lisas Lächeln
Sie steht da und lächelt ihr Lächeln. Sie ist gut. Jeder kann es sehen. Sie beherrscht alles und jeden.
Es sind wieder neue Leute gekommen, um einen von uns zu holen. Die Babys sind aus, also geht es bestimmt wieder nach Schönheit. Und da hat sie einfach die besten Chancen: mit ihren blonden Locken, dem noch von Marmelade geröteten Mund, ihrem unschuldigen Blick ... Ach, diese Fratze, wie ich sie hasse! Sie werden sie mitnehmen und wiederbringen, wie die anderen es auch getan haben. Und wir anderen bleiben ohne Chance.
Lola ist jetzt schon zum dritten Mal hier. Das erste war lange vor meiner Zeit, und so klebten die anderen schon mit Bewunderung an ihr, als ich damals kurz vor Weihnachten ins Heim kam. Alles war neu für mich: die großen Säle und kleinen Betten, der riesige geschmückte Tannenbaum im Haus, und dann ein Teddybär als erstes Geschenk meines Lebens. Kein Keller oder Schrank, in den ich gesperrt wurde, wenn ich nicht artig war, ein richtiges Badezimmer mit Fenstern drin und ein Klo mit Wasserspülung. Zuerst hatte ich auch vor dem Angst, befürchtete, mit dem Kopf über die Brille gehalten zu werden, damit ich verstocktes Kind meine Fehler einsehe und mit einer Geste um Verzeihung bitte ... Aber schon allein das frische, klare Wasser war so ganz anders als der stinkende, bekotete Eimer im Plumpsklo von früher, dass ich so langsam Vertrauen gewann.
Lola sieht mich an, und ich erblicke eine Maske aus Arroganz, Überheblichkeit und Hohn. Als keiner hinsieht, öffnet sie ihren Mund zu eigentümlichen Bewegungen und glotzt mir entgegen wie eine verängstigte Kuh. Ich verstehe, was sie nachäfft: meine ersten Sprechversuche. Als ich mit sechs Jahren ankam, konnte ich immer noch nicht richtig sprechen. Ich bekam Spezialunterricht, und in kurzer Zeit lernte ich alles, was es zu lernen gab. Sprechen, Schreiben, Lesen, Rechnen – alles saugte ich auf, als würde mein Leben davon abhängen. Inzwischen bin ich in der Schule die Beste von uns, obwohl viele älter sind als ich, und sie verstehen meine Lust nicht, mich freiwillig in Bücher zu vertiefen. Diesmal bin ich es, die Lola überheblich ansieht, und leise rezitiere ich: „Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz ...“ Sie streckt mir die Zunge raus und senkt den Kopf.
Zweimal ist sie zurückgebracht worden. Beim ersten Mal war es eine aufgetakelte Dame, die anscheinend noch ein Püppchen für ihr Wohnzimmer brauchte. Doch Lola hält nicht, was ihr hübsches Gesicht verspricht. Sie will nicht lieb sein, sondern böse. Will verletzen, schlagen, hassen, nicht andere gepflegte Kinder zum Tee einladen. Die zweite Frau war noch empörter, hielt Lola an ihren Schultern, schubste sie dann in die Eingangshalle und kreischte dabei ständig in grellen Tönen: „Dieses Miststück. Diese Hure hat sich nackt zu meinem Mann gelegt. Diese Lolita.“
Ich kannte mich damals mit den Sachen „da unten“ nicht so aus, aber das letzte Wort sprach Lola manchmal im Schlaf, genauso wie „Papa“. Und als sie wieder einmal gemein zu mir sein wollte und Speichel durch ihre Zähne gepresst wie einen Schauer auf mich regnen ließ, zischte ich zurück: „Na, hat Papa seine Lolita nicht mehr lieb?“ Sie erstarrte, wurde weiß wie die frisch getünchte Wand im Flur, und dann, vor Wut geifernd, stürzte sie sich auf mich und schlug auf alles ein, was sie erreichen konnte.
„Das kenne ich schon von meiner Mutter“, japste ich zwischen ihren Schlägen und gab mir keine Mühe, meine Augen, Schläfen oder anderen empfindlichen Stellen vor ihr zu schützen.
„Deine Mutter?“ Sie hielt inne und lachte höhnisch. „Die Katzen-Jule? Die säuft sich doch zu Tode, und du wirst es ihr eines Tages gleich tun. Das liegt bei dir im Blut.“
Ich jaulte auf, schlimmer getroffen als von ihre Fäusten. Wie ein Tier biss ich ihr ein Stück vom Ohrläppchen ab und brüllte sie an: „Das werde ich nie, hörst du das? Irgendwann werde ich in ihr Haus gehen und eine Flasche darauf trinken, dass ich sie überlebt habe. Aber nur ein einziges Mal.“ Dann stürmte ich in unseren Schlafsaal und verkroch mich in meinem Bett, den Teddy fest umklammert.
Jetzt steht sie da und zupft an der Narbe an ihrem Ohr. Wir haben eine unausgesprochene Vereinbarung: Auseinandersetzungen ja, aber nie wieder so eine Bloßstellung ... Das Paar, das ein Kind mitnehmen will, kommt mit der Leiterin durch die Glastür des Büros, und wir alle bemühen uns, freundlich und ansprechend zu wirken, das Beste in uns durchscheinen zu lassen.
Ich schaue Lola noch einmal an. Sie steht da und lächelt ihr Lächeln. Sie ist gut. Jeder kann es sehen. Ist ein Biest und doch nicht. Ist wie ein Kind, machtlos. Hilflos.
Sie ist wie ich, und ich lächele ihr zu.
Ich höre den Mann leise sprechen, schnappe „geheimnisvolles Lächeln“ auf, und seine Frau nickt zustimmend. Sie hat wohl wieder gewonnen, aber für einen Augenblick tut es nicht weh. Dann soll es halt so sein.
„Und, du bist Lisa?“ Der Satz reißt mich aus den Gedanken, und zwei freundliche Gesichter blicken mich direkt an. Mein Herz pocht wie ein Trommelwirbel. Dann soll es halt so sein.