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Locomotive Breath oder Am Aschermittwoch ist alles vorbei

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11.07.2021
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Locomotive Breath oder Am Aschermittwoch ist alles vorbei

“Ich scheiße eine Rose mit Dornen.“

Yahya Hassan*

So auf Höhe U-Bahnhof Senefelder Platz im Prenzlauer Berg sah ich schon von weitem eine Hammelherde von ungehobelten Halbwüchsigen, die sich ständig schubsten und stießen. Der Anblick meiner Landsleute hatte mich noch nie so froh gemacht. Ich schöpfte wieder Hoffnung. Dann erblickte ich auch meinen ehemaligen Mathelehrer, der außerdem in dem Ort, aus dem ich kam, nur eine Treppe über uns wohnte. Ein Stück weiter war meine Mutter damit beschäftigt, einen Streit zu schlichten. Ein Junge hatte ein Mädchen in den Schneematsch geschubst. Weinend klopfte sie ihre Kleidung ab.

Die Jugendweihefahrt, die die Schule aus unserem Dorf in Mecklenburg jedes Jahr machte, hatte auch mich 6 Jahre zuvor in dieses schöne Städtchen geführt, und schon damals spielte ich mit dem Gedanken, auszureißen, und einfach in Berlin zu bleiben. Dann hätte das damals noch gar nicht hundertjährige und auch noch gar nicht so große Großberlin eine 13jährige Neubürgerin gehabt. Wer sich für mein Dorf interessiert, dem kann ich empfehlen, sich den Film „Das weiße Band“ anzuschauen, der in mir immer Heimatgefühle aufkommen läßt.

Aber ich will ganz von vorn beginnen. Macht Euch selber einen Reim. Ich habe die Ereignisse nur so wiedergegeben, wie sie passiert sind. Und als Warnung vorneweg: “Besser, ihr lest das hier nicht mit leerem Magen. Sonst fangt ihr sinnlos an zu essen. Jedenfalls geht es mir immer so, wenn ich lese, wie Henry Miller ohne Geld durch Paris gestreift ist, und neidisch die Glücklichen beobachtet hat, die in den Cafés vor gefüllten Tellern saßen. Besonders der Anblick der großen Brotkörbe ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen.”

Ismael, ein türkischer Arbeitskollege, hat mir erzählt, wie er einmal ein russisches Mädchen von der Türkei nach Berlin, bis vor ihre Haustür im Studentenwohnheim „Ferdinand Thomas“ in der Storkower Straße mitgenommen hat. Sowas zeigt doch, dass die verrückten Frauen nicht aussterben, und dass es bei vielen kohlemäßig wohl ähnlich schlecht bestellt ist wie bei mir etliche Jahre zuvor im selben Studentenwohnheim, genauer gesagt in der Wohnung Q7/30. Manche bezeichnen das auch als: Die Kacke am Dampfen haben.

Damals musste ich, die in Berlin studierte, um die Karnevalszeit herum drei Wochen Praktikum in Dresden machen, und hatte mich mit meinem Geld total verkalkuliert, was bei dem bisschen Stipendium kein Wunder war. Es war aber üblich, dass am Ende der drei Wochen jeder Praktikant eine Prämie vom Betrieb erhielt. Ich verließ mich fest darauf, was sich noch als Fehler herausstellen sollte.

Die fröhlichen Mädchen aus dem Labor des Praktikumsbetriebes in Dresden, wobei mir schleierhaft war, woher sie ihren naiven Lebensmut nahmen, und von denen dreie Katrin hießen, eine davon war so schön, wie ich mir Shulamit aus dem Hohelied vorstellte, und die ständig Geschichten über ihre Freunde zum Besten gaben, schenkten mir jeden Tag ihre Gratismilch, und ich hoffte damit über die Runden zu kommen. Außerdem liehen sie mir Lady Chatterley. Ich würde aber nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass sie diesen Meilenstein der Weltliteratur vollständig durchgearbeitet haben.

Überhaupt stehe ich auf dem Standpunkt, dass dieses Buch in der Schule durchgenommen werden muss. Das würde die Geburtenrate eher zum positiven beeinflußen als Faust und “Das Leben des Gallilei”. Besonders in Faust zeigen sie einem ja, dass man auf dem Scheiterhaufen landet, wenn man sich von einem Mann rumkriegen lässt.

Abends, nach Feierabend, ging ich zum Dresdener Hauptbahnhof, und fuhr mit dem Zug in eine Stadt in der Nähe von Dresden, in der jemand wohnte, der mir im Sommer in Berlin über den Weg gelaufen war. Schon als ich vor seinem Klub, über den er mir erzählt hatte, stand, spürte ich seine Anwesenheit.

Ein Freund von mir meint, dass solche Fähigkeiten noch ein Überbleibsel aus unserer Zeit als Jäger und Sammler sind und dabei halfen, wenn zwei sich in den germanischen Wäldern verloren hatten. Schon damals in Berlin hatte mich umgehauen, dass seine Haare diesen Geruch nach verbranntem Eisen hatten, den die Bahnhöfe morgens im Sommer haben. Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass die Verwandten von meinem Vater alle Eisenbahner waren, aber ich weiß nicht, ob so was geht, dass man sich deshalb in einen verliebt, der wie ein Eisenbahner riecht.

Ich hatte im Fernsehen mal gesehen, wie ein englischer Professor die kühne Behauptung aufstellte: „Egal, was zwei sich einbilden, egal welche sozialen, kulturellen Unterschiede bestehen. Es kommt auf den Geruch an.“ Summa summarum: Wenn Dein Unterbewußtsein den Geruch des anderen mag, liegt man genetisch ziemlich auseinander, und das ist gut für die Fortpflanzung.

„Als wenn man sich aussuchen kann, in wen man sich verliebt.“Marcel Proust

Da hatte der Zauberer mit Worten auf seinem Krankenlager dem Nagel auf den Kopf getroffen. Eigentlich mag ich ja keine Intellektuellen, zu denen er auch gehörte. Die, die sich früher in meiner Klasse als Intellektuelle fühlten, sahen immer verächtlich durch einen hindurch, wenn sie mit einem redeten. Aber Brecht, über dessen Jugendzeit ich ein Buch gelesen hatte, hätte ich gerne mal auf dem Bahnhof getroffen, als er so alt war wir ich, ihn noch niemand kannte, und er ein schräger, dürrer Vogel war, immer pleite, vorurteilsfrei, die personifizierte Fantasie, so witzig, dass er einen sogar auf dem Totenbett zum Lachen gebracht hätte, und wäre mit ihm gerne eine ganze Nacht im Zugabteil gereist.

Da ich mich wohl im vergangenen halben Jahr irgendwie „rausgemacht“ hatte, ein Lieblingsausdruck meiner Mutter, den sie verwendete, wenn sie über das Wiedersehen mit ehemaligen Schülerinnen sprach, wurde mir noch eine zweite Chance eingeräumt. Er brachte mich noch zur Bahn. Wortlos stand er, den ich seit dem Sommer in Berlin nicht mehr gesehen hatte, neben mir an der Straßenbahnhaltestelle. Warum sollte er auch großartig sagen, dass er sich freut mich zu sehen. Er stand ohne Jacke neben mir im Schnee, dass reichte ja wohl.

„...Rings um uns war Schweigen nur, Schweigen nur und Schnee, Himmel war, nicht wie Azur, blau jedoch, und voll mit Sternen.....“Lied; Selma Merbaum Eisinger

Ich musste an ein Liebespaar aus meiner Lehrlingszeit denken. Während einer Klassenfahrt, auf der sie endlich zusammenkamen, standen sie die ganze Nacht schweigend nebeneinander auf dem Gang vor dem Zugabteil, und starrten durch das Fenster in die Dunkelheit. Die Sprache der Liebe schien wohl Schweigen zu sein. Die Straßenbahn kam und kam nicht, aber er hielt tapfer durch, obwohl ich kühn erklärte, dass ich nicht böse bin, wenn er geht. Das war natürlich glatt gelogen. Wenn er gegangen wäre, hätte mich das umgehauen.

Alle Liebenden haben diesen Moment. Warum muss das immer nachts sein und immer unter widrigen Wetterbedingungen? Eine Freundin flüchtete am ersten Tag mit ihrer zukünftigen großen Liebe Hand in Hand durch den dunklen Wald, als die Polizei nachts bei einer Straßenkontrolle das überfüllte Auto anhielt.

Eine andere hat mit demjenigen, der später ihr Mann und der Vater ihrer Tochter wurde, nachts im Regen und ohne Kleidung im Stadtpark getanzt.

Ein paar Jahre nach diesen Geschehnissen hier musste ich in einer Silvesternacht am Ostkreuz in Berlin tellerweise Tütensuppe essen, obwohl mir nach allem, nur nicht nach Essen, zumute war. Und immer wenn mein Teller endlich leer war, hat er unerbittlich nachgefüllt.

Nur Ismael und seine „Füzun“ - Ich weiß nicht wie sie hieß, aber ich nenne sie mal so, wie die junge Türkin im „Museum der Unschuld“ - hatten ihren Moment am hellen Tag im Görlitzer Park in Kreuzberg, wo sie sich ansahen und sich gleich auf den ersten Blick ineinander verliebten. Wenn Füzun einmal nicht zum Treff kommen konnte, begann er zu zittern und stand kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Ein paar Wochen später schickte ihre Familie sie nach Istanbul zurück, und sie sahen sich niemals wieder.

„Meine Freundin ist schön, als ich aufstand ist sie gegangen...“

dieses Lied von den Puhdys**, die ich übrigens für eine Bande von Speichelleckern hielt, aber da hatten sie mal was hingekriegt, ging mir während der ganzen Zeit in Dresden nicht mehr aus dem Sinn. Als ich später auf gut Glück einmal eine Bibel aufschlug, sah ich es wieder. Es ist das Hohelied Salomons und alle Verliebten erkennen sich darin. Wie Shulamit, die Rose zu Sharon, lief auch ich konfus durch die Gegend, und suchte nach einem, und immer wenn ich ihn gefunden hatte, entzog er sich wieder. Große Gelehrte zerbrechen sich schon seit Jahrhunderten den Kopf darüber, wie dieses Gedicht in die Bibel geraten ist.
Und was ist das eigentlich. Die Klage einer verlassenen Geliebten?

Zu der Zeit ging es mir so, wie es Werther ging, als er sich frisch in Lotte verliebt hatte, und optimistisch, unter Verdrängung der Realität, in die Zukunft sah. Aber kommt mal einem Verliebten mit Vernunft. Diese beiden Zustände schließen sich aus. Ich habe mal gehört, dass man bei Verliebten Säuren im Gehirn gefunden hat, die auch bei Schizophrenen zu finden sind. "Wie haben sie das bloß festgestellt?", fragte ich mich.
Ich ignorierte, dass er schon im Sommer in Berlin keine Anstrengungen unternommen hatte, unsere Beziehung fortzusetzen, Werther hingegen wollte nicht sehen, dass die Frau seines Lebens ja eigentlich schon vergeben war. Beim Anblick von alten Paaren und von Kindern, die er später auch mit ihr haben wollte, ging ihm das Herz auf. Genauso war es bei mir. Wie alle Verliebten fühlte ich mich unsterblich. Das ist auch von Proust, dessen "Recherche man aufschlagen kann wie eine Bibel, und genau wie im Alten Testament immer etwas findet, was auf einen zutrifft.

Als wenn das an Schwierigkeiten noch nicht reicht, wurde ich während meines Praktikums in Dresden auch noch von der Grippewelle erfasst. Eines Morgens fühlte ich mich nicht unwohl aber merkwürdig schwerelos. Der Betriebsarzt von meinem Praktikumsbetrieb schrieb mich krank, und ich lag mit 39 Grad Fieber und knurrendem Magen in dem möblierten Zimmer. Die Zimmerwirtin von dem möblierten Zimmer in Dresden, in das ich für die drei Wochen einquartiert war, brachte mir einen Kräutertee, hätte sie mir lieber ein belegtes Brot gebracht, denn ich war völlig pleite.
Langsam schwante mir, dass meine einzige Chance, aus dieser Situation rauszukommen, war, dass ich versuchen mußte, meine Mutter in Berlin zu treffen, wollte ich nicht verhungern. Sie war zu dieser Zeit mit ihrer Klasse gerade mal wieder auf Jugendweihefahrt in Berlin, damals noch Hauptstadt der DDR. Meine Mutter hatte übrigens vor 30 Jahren auch in Dresden studiert, und sie und ihre Freundinnen hatten auch in möblierten Zimmern gewohnt. Ihr Vater gab ihr keinen Pfennig. Sie waren drei kleinbürgerliche, konservative Mädchen, aber nicht ohne eine geheime Sehnsucht nach Ausbruch, zumindest bei meiner Mutter war das wohl so.

Ich tippe mal Thomas Mann wäre bei ihnen auch sitzengeblieben und J.D. Salinger hätte einen aufsehenerregenden Roman über den Geschlossenen Werkhof in Torgau geschrieben. Und der Junge mit dem ich in der letzten Bankreihe immer Eintagsfliegen gefangen habe, und der alles über Käfer wusste, und ihre lateinischen Namen kannte, und von dem sie sagten, dass sein Vater einen umgebracht hat, wurde ein großer Alkoholiker und kein Insektenforscher. Sie mochte eigentlich immer nur Schülerinnen, die sich perfekt entwickelten. Viele von diesen erfolgreichen, intelligenten Schülerinnen hat sie wohl insgeheim geliebt, was aber nicht erwidert worden ist. Merkwürdigerweise freuten sich immer nur ihre schlechten Schüler später aufrichtig, sie wiederzusehen.

Die Freundinnen meiner Mutter hatten sich übrigens in eine Weihnachtskarte, eine Osterkarte und eine Geburtstagskarte verwandelt, und ich hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen.

So schleppte ich mich zum Dresdener Hauptbahnhof, und kaufte für mein letztes Geld ein Ticket nach Berlin. Auf meinem zugigen Stehplatz, eingequetscht zwischen den anderen Passagieren, krank und fiebrig, drohte ich fast zu kollabieren.

Jetzt fehlten mir die Komiker aus meiner ehemaligen Klasse, merkwürdigerweise alle männlich, mit denen zusammen ich eine landwirtschaftliche Ausbildung mit Abitur gemacht hatte, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Die Ärmsten machten zur Zeit ihren Grundwehrdienst, und robbten vielleicht mit einer Kalaschnikow in Eggesin durch den Schnee, und waren noch weit schlechter dran als ich.
Seit dem Abi, vor einem Jahr, hatte ich keinen mehr gesehen. So eine Anhäufung von gottbegnadeten Naturtalenten, was Humor anbelangt, wie damals in meiner Klasse, ist mir nie wieder begegnet. Wie oft hatten sie mich aus meiner trüben Laune rausgerissen, wenn sie, die zu der Zeit in Höchstform waren, als Gegenprogramm zu einem kalten regnerischen Tag auf dem Acker aus ihrem frechen Mundwerk ein Feuerwerk an genialen Wortkaskaden auf die Menschheit abfeuerten, wobei sie versuchten, sich gegenseitig zu übertrumpfen, was das Fass zum überkochen brachte.

Man muss natürlich auch sagen, dass so eine Ansammlung von Geist und schräger Fantasie auf mich auch einschüchternd und einengend wirkte, und mir den Wind aus den Segeln nahm, denn da hatte ich nichts gegenzusetzen. Wenn man etwas entgegnete, wurde man sofort schachmatt gesetzt. Aber mit ihrem Charme und Witz haben sie mir die dornige Lehrzeit versüßt bzw. erst erträglich gemacht. Aber ich bekomme sofort ein beengendes Gefühl, wenn ich das Wort Klassentreffen auch nur irgendwo höre oder lese.
Die anderen denken immer noch, dass ich dieselbe bin, die sie damals in mir gesehen haben, die ich aber vielleicht niemals war, bilde ich mir zumindest ein.

Ich habe mich später darüber gewundert, dass nicht einer von ihnen irgendwie in die Schauspieler- oder Comedyecke gegangen ist, und ein zweiter Heinz Strunk geworden ist, der ja auch aus Norddeutschland kommt, bloß aus dem westlichen Teil, aus Schleswig Holstein, er spricht aber mit der Zunge meiner Heimat, und der Welt zeigt, dass auch wir Fischköpfe, ein Menschenschlag, der ja nicht besonders für künstlerische Aktivitäten berühmt ist, präziser gesagt, in meiner Kindheit habe ich nie jemand kennengelernt, der ein Instrument gespielt hat, oder etwas geschrieben hat, literarisch was gerissen kriegen, und nicht nur in München im "Café Stefanie", wo sich Stefan George, Johannes R. Becher, als er noch nicht Minister, sondern ein expressionistischer Dichter war, Erich Mühsam und auch diese Emmi Dingsda die Klinke in die Hand gegeben haben, was abgeht, sondern auch in Rostock - Warnemünde in der "Ankerklause". Der Rest der Republik kann sich warm anziehen. Platz da. Wir Norddeutschen kommen.

Besonders für den einen von ihnen, den ich für den talentiertesten hielt, wäre ich sogar auf den Strich gegangen, na ja, das vielleicht doch nicht, so wie June für Henry Miller - ich habe gelesen, sie hat ihm sogar gedroht, ihn zu verlassen, wenn er sich eine Arbeit sucht - damit der nichts anderes macht, was ihn davon abhält, sein Talent auszuleben. Dafür wäre ich, als seine Muse, in die Analen der Geschichte eingegangen.

Wie oft hatten sie mit ihrem begnadeten Talent einen verregneten Tag auf dem Acker rausgerissen, und ich hatte mich vor Lachen weggeworfen. Ich lebte völlig auf, wenn plötzlich einer von ihnen, dessen Traktor gerade repariert wurde, in der Zwischenzeit in die Werkstatt geschickt wurde, wo ich, deren Zugmaschine ebenfalls außer Betrieb war, mit den mürrischen Schlossern, mit denen ich kein Gesprächsthema fand, denn sie hatten ganz andere Interessen als ich und waren viel älter, allein war. Aber richtige Kumpels sind wir nie gewesen.

„In the shuffling madness of the lokomotive breath...“Jethro Tull

Jetzt passierte auf dieser Zugfahrt etwas, was einen umhaute, im positiven Sinne. Auf einem Bahnhof auf der Strecke nach Berlin saß ein Junge mit einem riesengroßen Ghettoblaster und der ganze Bahnsteig war von der tiefen, sympathischen Stimme von einem Mann erfüllt, der bestimmt genauso sexy aussah, wie seine Stimme klang, und der in seinem Leben die Dinge im Griff zu haben schien. Ihn würde man nicht mit einer Überdosis aus einer öffentlichen Toilette raustragen, wie viele seiner Musikerkollegen, da war ich sicher. Genau zu diesem Zeitpunkt trat wohl die positive Crisis ein, und ich entschied mich, nicht aus den Latschen zu fallen. Die Musik wehte dem Zug noch hinterher, als er schon lange aus dem Bahnhof raus war. Ich frage mich manchmal, ob der Junge mit dem Ghettoblaster die Musik heute noch genauso liebt.

Jedenfalls langte ich wohlbehalten in Berlin im Studentenwohnheim in der Storkower Straße an. Ich musste unbedingt meine Mutter finden, die Unterkunft ihrer Klasse sollte irgendeine Schule an der Schönhauser Allee sein. Und mein Schutzengel war mit mir. Sie lief mir mit ihrer Schulklasse über den Weg. Meine Mutter, die sich freute, mich zu sehen, aber mich mitten in der Woche eigentlich in Dresden beim Praktikum vermutete, nahm mich beiseite, da sie sich schon dachte, dass ich pleite war.

Die Kinder, die gerade ihre Jugendweihefahrt in die Hauptstadt Berlin machten und gar nicht viel jünger waren wie ich, beäugten mich neugierig.

Meine eigenen Klassenkameraden aus der polytechnischen Oberschule in meinem Heimatort, die ich bis zum sechszehnten Lebensjahr besucht hatte, habe ich als herbe, brutale Truppe in Erinnerung. In den unteren Klassen war es noch relativ harmlos mit Zopfziehen und Beinstellen und Schubsen losgegangen, später hatte man die ganze Schulzeit bis zur zehnten Klasse immer überall Hände an Stellen, wo man sie nicht haben wollte, zwischen den Beinen, an den Brüsten, am Hintern. Die Lehrer taten so, als wenn sie davon nichts mitkriegen würden. Von meiner Mutter hatte ich erst Recht keine Hilfe zu erwarten, sie gab mir die Schuld.

An das ewige Befummeltwerden, auch wenn ich es eklig fand, hatte ich mich schon so dermaßen gewöhnt, dass ich aus allen Wolken fiel, als ich nach der zehnten Klasse eine Lehre mit Abitur begann und am ersten Schultag, der hinter mir Sitzende keinerlei Anstalten machte, an meinem BH zu ziehen, obwohl ich vorsorglich schon extraweit von ihm abgerückt war und meine Rippen an die Vorderkante von meinem Schultisch gepresst hielt, so wie ich es in der Oberschule jahrelang gemacht hatte.

Die Pubertät machte die Jungs aus meiner Klasse zu unangenehmen Zeitgenossen. Ich konnte nicht verstehen, warum der Spielkamerad mit dem ich früher immer stundenlang Gummitwist gespielt hatte und der kleine verträumte, phantasievolle Junge mit den großen braunen Augen, der früher die ganze Schulstunde immer nur gemalt hatte, und dessen Zeichnungen die ganze Klasse bewunderte, jetzt mit hasserfüllten geröteten Gesichtern an meiner Kleidung zerrten.
Nicht alle waren damit einverstanden, aber es traute keiner, sich auszuschließen, aus Angst das es ihn dann selber träfe. Es wurden natürlich nur die gequält, die in der Klassenhierachie ganz unten standen. Die Mädchen, die in der Schule beliebt waren, stammten alle aus glücklichen Familien und ihre Eltern waren sehr gut in die Dorfgemeinschaft integriert. Die Mädchen aus Familien wo Alkoholismus und oder großer Kinderreichtum mit darausfolgender Armut herrschte, wurden auch nicht in die Riege der beliebten Mädchen aufgenommen.

Etwas besser finanziell aufgestellt, langte ich wieder im Studentenwohnheim in der Storkower Straße an, und konnte mir auch ein Rückfahrticket von Berlin nach Dresden leisten. Wenn ich nicht rechtzeitig wieder in meinem Praktikumsbetrieb in Dresden angelangt wäre, hätte mir die Exmatrikulation gedroht.

In der Auslage vom Zeitungskiosk am Bahnhof lag ein Buch über die Günderode. Ich nahm es mit, und las es. Sie hatte sich aus Liebeskummer erstochen. Wir würden es besser machen, dessen war ich mir sicher.

Zu der Verabredung mit ihm, meinem schweigsamen Unbekannten, konnte ich wegen meiner Grippe erst ein paar Tage später gehen. Das war am Aschermitwoch, der in seinem Klub ausgiebig gefeiert wurde. Er ignorierte mich völlig und stand stundenlang bei einem, wie ich zugeben musste, hübschen Mädchen, das offen und natürlich wirkte, und redete und tanzte nur mit ihr und sah glücklich aus.
Da alle Unglücklichen gerne leiden, lief ich allein die ganze Strecke bis zum Bahnhof seiner Stadt, denn ich musste ja nach Dresden zurückfahren, zu Fuß durch die eisige Februarnacht. In diesem Moment war ich wieder das von allen verlassene Mädchen, das nach einer Tracht Prügel verheult auf der Badewanne sitzt und fühlte wie ihr die Kälte vom Badewannenrand aus langsam die Wirbelsäule hochkroch. Dieses Gefühl wollte ich eigentlich niemals wieder erleben. Vielleicht rührte das ganze Elend ja daher, dass ich, als Tochter einer alleinerziehenden Mutter, eigentlich gar keine Männer kannte.

„...Und sah´n sich nur noch zuweilen im Traum;“ (Heinrich Heine; Buch der Lieder)

Wenn du jemanden nicht mehr siehst, fängst du an sein Gesicht in den Gesichtern anderer Menschen zu entdecken. Ein Mädchen auf der Straße hat dieselben schwarzen Locken, du drehst dich in der Straßenbahn um, weil du seine Stimme hörst, und jemand anders steht hinter dir. Am letzten Praktikumstag, das Geld, das meine Mutter mir gegeben hatte, war schon längst dahingeschmolzen, wartete ich sehnsüchtig und mit knurrendem Magen, dass der Betriebsleiter mich verabschiedete, und mir die 50 Mark Prämie gab, die er mir am Anfang versprochen hatte. “Du sollst zum Chef kommen”, sagten die anderen Mädchen zu mir, als sie von der Pause kamen. Vorher hatte ich behauptet, ich gehe nicht mit in die Kantine, weil ich eine Schlankheitskur mache. Ich eilte freudig den Gang entlang, bis zu seinem Büro.

Da erwartete mich eine unangenehme Überraschung. Der Supergau trat ein. Er wünschte mir in seinem Büro im Praktikumsbetrieb in Dresden alles Gute für mein weiteres Leben, und das wars dann. Wahrscheinlich hat er mir nicht verziehen, dass ich krank geworden war. Da hatte er, als rechtschaffener Werktätiger, es mal jemanden, der sich auf Kosten der Arbeiterklasse nen Lemmy macht, richtig gegeben, und er hat sich bestimmt hinterher richtig gut gefühlt. Ich wollte ihn schon fragen, ob ich nicht vielleicht wenigstens 5 Mark kriegen kann, aber das habe ich mir bei seinem eisigen Gesicht natürlich verkniffen. Also ging ich wieder zu den Mädels ins Labor zurück: „Her mit Eurer Milch“. „Aber Du hast doch vorher gerade gesagt, Du willst keine Milch mehr.“ Was sollte ich machen, in der Not frisst der Teufel Fliegen.

„Angeblich erlebte ich gerade die schönste Zeit meines Lebens.“Sylvia Plath Die Glasglocke

Das Geld für das Rückticket hatte ich gerade noch. Auf dem Bahnhof in Dresden traf ich einen vietnamesischen Studenten aus meinem Studienjahr. Wir fuhren zusammen nach Berlin zurück. Ihm als „guten“ Praktikanten hatten sie die 50 Mark Prämie gegeben und außerdem hatte man ihm in seinem Fleischbetrieb noch eine lange Wurst geschenkt. Ein böses Mädchen wie ich hatte weder Geld noch Wurst verdient. Im Abteil packte er Messer und Schneidbrett aus, und wir beide ließen es uns schmecken. Ich muss wohl ziemlich hungrig ausgesehen haben. Nachdem ich meine Lebensgeister wiederkehren spürte, denn ich war schon ziemlich unterzuckert, schöpfte ich Mut und traute mich, ihn zu fragen, ob er mir bis Montag was leihen konnte. Er hatte angeblich kein Kleingeld und ließ sich deshalb meine Wohnungsnummer geben. Ich wartete am nächsten Tag in Q7/30 auf ihn, aber natürlich vergeblich.

Ich habe es ihm nicht übel genommen. Was natürlich gelogen ist, es war später immer peinlich, wenn wir uns über den Weg gelaufen sind. Die drei total unterschiedlichen Männer waren sich in einem ähnlich. Alle hatten sie mich im Stich gelassen, auch mein Studienkollege. Nur meine Mutter hatte mir geholfen. Keine Liebe, kein Geld, und jetzt wollten sie einen auch noch aushungern. Das durfte ich nicht zulassen. Ich sah mich im Schrank vom Gottseihdank offenen Nebenzimmer nach etwas Essbarem um, und entdeckte eine einsame Tüte Buchstabensuppe, mit der ich von Freitag bis Sonntag über die Runden kam. Sonntagabend konnte ich bei meiner Freundin, die gerade von zu Hause zurückgekehrt war, noch ein belegtes Brot abfassen.

Am Montag stand ich auf etwas wackeligen Beinen, schlank und rank im Lichthof vom Institutsgebäude in der Invalidenstraße in Berlin vor dem Büro, wo das Stipendium ausgezahlt wurde. Und nehmt mir nicht übel, dass ich hier so mit meiner klassischen Bildung knalle. Ehrlich gesagt, normalerweise packt mich das Grausen, wenn ich ein Gedicht sehe, aber ...`

“The times are they a-changin“(Bob Dylan)

*Dänisch-palästinensischer Lyriker 1995-2020
** Wenn ein Mensch lebt

 

Yahya Hassan
Interessant, dass du mit einem Zitat von Hassan beginnst, der ja in Dänemark auch nicht ganz unumstritten war.

Da hatte der kleine schwule Jude, der Zauberer auf dem Krankenlager, dem Nagel auf den Kopf getroffen.
Ich habe beim Lesen des Textes ein ungutes Bauchgefühl, um es mal so auszudrücken. Man kann den Finger nicht genau drauf legen, aber da schwingt schon etwas mit. Warum wird hier erwähnt das Proust ein Jude und schwul war? Ist das irgendwie wichtig? Oder soll das irgendjemanden provozieren? Spielen diese Fakten irgendeine Rolle in dem Text? Man kann natürlich sagen: er WAR Jude und er WAR schwul, und das reicht. Aber wenn ich das einfach so in einem Text erwähne, ohne Verbindung zur Narrative, dann bekommt das eben - in meinen Augen - schon einen gewissen Geschmack. Der schwule Jude.
Außerdem liehen sie mir Lady Chatterley. Das schien aber auch das einzige Buch zu sein, dass sie je gelesen hatten.
Auch hier dezent klassistisch, möchte man sagen. Warum so arrogant und herablassend?
Ein paar Wochen später schickte ihre Familie sie nach Istanbul zurück, und sie sahen sich niemals wieder.
Sind so Topoi (die patriarchale muslimische Familie, denen man gehorcht) die du hier aufmachst, die aber nie irgendwie eingebunden werden in ein Narrativ. Das wird so angestossen und dann fallengelassen. Warum? Damit man einmal nickt und sich sagt: Jaja, so sindse eben, ne? Oder warum?

Da ist noch mehr drin, aber ich will nicht alles zitieren hier. Das sind also nur Beispiele, bei denen ich mich frage, warum du dies so erwähnst, die Nationalität oder Sexualität so ausstellst.

Ansonsten muss ich Henry K vollumfänglich zustimmen. Beim Lesen schmilzt einem das Gehirn. Klar, man kann sagen: das ist vielleicht so etwas wie ein Bewusstseinsstrom, aber das haut auch nicht wirklich hin. Schwierig. Dabei habe ich gar nichts gegen Texte, die nichts erzählen, die nur Formalismen sind, aber dann muss die Sprache passen, da muss trotzdem etwas passieren, dann eben auf formaler Ebene. Hier sind es einfach nur wirr aneinandergepappte Versatzstücke, die kein großes Ganzes ergeben wollen. Hm.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @Frieda Kreuz

Neugierig geworden durch deine turbulente Weihnachtsstory über Weihnachtsfilme war ich gespannt, ob es ähnlich turbulent zugeht, wenn du über Jugend schreibst. Und hier hast du gleich noch ein Zitat: „Jugend ist Trunkenheit ohne Wein“ von Goethe. Ich wurde nicht enttäuscht, wenngleich die Turbulenz hier ganz anders geartet ist. Die Erzählerin wandert mäandernd zwischen den verschiedensten Personen und Szenen vor und zurück durch ihre Vergangenheit. Darauf muss man sich als Leser erstmal einlassen. Leicht machst du es einem nicht dabei, aber dein, wie ich finde, frischer, lebendiger Schreibstil und die authentische Erzählweise in der Ich-Form halfen mir, bei der Erzählerin zu bleiben und irgendwann ließ ich mich einfach treiben und genoss die Fahrt.
Beispiel:

Die Freundinnen meiner Mutter hatten sich übrigens in eine Weihnachtskarte, eine Osterkarte und eine Geburtstagskarte verwandelt, und ich hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen.
:thumbsup:

Allerdings ist es des Mäanders dann doch zu viel. Zumindest sollten Flussbiegungen deutlich erkennbar sein, finde ich. Manchmal hatte ich den Eindruck, du willst den Leser vorsätzlich verwirren ;) :
Beispiel:

In Dresden suchte ich nach einem Klub, von dem ich wußte, dass hier einer immer hinging, der mir im Sommer in Berlin über den Weg gelaufen war. Schon als ich davorstand, spürte ich seine Anwesenheit.
Ein Freund von mir meint, dass solche Fähigkeiten noch ein Überbleibsel aus unserer Zeit als Jäger und Sammler sind und dabei halfen, wenn zwei sich in den germanischen Wäldern verloren hatten. Schon damals in Berlin hat mich umgehauen, dass seine Haare diesen Geruch nach verbranntem Eisen hatten,
Erst redest du von einem im Klub, dann von dem Freund, dann übergangslos von seinen Haaren. Wenn man da nicht in der Geschichte drin steckt, weiß man nicht, wessen Haare das nun eigentlich sind und dass es jetzt nicht um den Freund mit der Jäger-und-Sammler-Expertise geht.
Wenn du besser kenntlich machen würdest, wo du jeweils abbiegst, wäre schon viel gewonnen. Dazu braucht es gar nicht viel, mal ein zusätzliches Wort, Absätze besser platziert… Und ja, eine Kurzgeschichte benötigt wohl auch einen roten Faden. Vielleicht den Schweiger aus dem Club stärker thematisieren und über die ganze Geschichte hinweg immer mal wieder auftauchen lassen.

Hier noch ein paar Kleinigkeiten:

Da ich mich wohl im vergangenen halben Jahr irgendwie „rausgemacht“ hatte, ein Lieblingsausdruck meiner Mutter, den sie verwendete, wenn sie über das Wiedersehen mit ehemaligen Schülerinnen sprach, wurde mir noch eine zweite Chance eingeräumt.
Die erste Chance ist mir entgangen.
Nicht alle waren damit einverstanden, aber es traute keiner, sich auszuschließen, aus Angst das es ihn dann selber träfe.
Da fehlt ein „sich“, oder? Aber das klänge unschön. Vielleicht so: Aber es traute sich keiner, da nicht mitzumachen.
Die drei total unterschiedlichen Männer waren sich in einem ähnlich. Alle hatten sie mich im Stich gelassen.
Wer war denn der dritte Mann? Der Schweiger, der Vietnamese, der ???
Am Montag stand ich auf etwas wakeligen Beinen,
wackelig

Grüße
Sturek

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Sturek, Hallo Jimmy, Hallo HenryK,
ich habe nach Euren Hinweisen den Text noch einmal umgearbeitet und übersichtlicher gestaltet. Ich glaube, jetzt müsste jeder wissen, worum es geht. Meiner Meinung war er aber schon von Anfang an klar verständlich. Aber man selbst liest natürlich die eigenen Sachen mit ganz anderen Augen als Außenstehende. Es geht um eine Studentin aus Berlin, die in Dresden ein Praktikum machen muss, und der das Geld ausgeht. Na ja, wenn man anderen seine Texte erklären muss, hat man wohl etwas falsch gemacht. Im Grunde ist das hier eine Liebesgeschichte. Eigentlich ist das das wichtigste. Übrigens, mein Arbeitskollege Ismael hat das wirklich so erlebt, und bereut wohl bis heute, dass er damals nicht mehr um seine Liebe gekämpft hat. Jedenfalls hat die Heldin dieser Geschichte in dieser Beziehung vollen Einsatz gezeigt, indem sie sich ständig, angeschlagen und fiebernd, in der Februarkälte auf den zugigen Bahnhöfen hin- und herschleppte, pendelnd zwischen Berlin und Dresden und Dresden und seiner Heimatstadt, und musste trotzdem erleben, auch ohne türkische Familie, die mit ihr andere Pläne hatte, so wie es Ismaels Freundin erging, dass es mit der Liebe genauso wenig klappte wie bei ihm. Vielen Dank noch Mal.
Gruß Frieda

 

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