Lilien im ruhigen Rosa
„Welchen Film magst du denn gleich schauen?“, hört er im Vorbeigehen. Eine gewöhnliche Frage, die er nicht zu beantworten braucht. Er war nicht der Adressat. An wen das Interesse gewidmet war? Das ist ihm egal, es waren nur Passanten. Davon gibt es hier genug. Immerhin ist es eine ziemlich gut gefüllte Straße, die er am Beschreiten ist. Gut gefüllt mit Persönlichkeiten, und sie alle gingen an ihm vorbei. Im Gegensatz zu ihnen, war er einfach nur eine Person, das denkt er zumindest. Ein Mensch – das ist alles, was seine Identität auszumachen schien.
„Ich hab Hunger“, sagte ein Kind. Wahrscheinlich zu seiner Mutter. Oder Vater? Vielleicht ja auch Oma oder Opa. So viele verschiedene Möglichkeiten. Wer auch immer vom leeren Magen Kenntnis nehmen sollte, eins war klar: Er war es nicht. Und dennoch, jetzt wusste er Bescheid. Schon merkwürdig was man alles über diese fremden Gesichter erfährt, während sie nur für wenige Sekunden an einem vorbeihuschen. Manchmal sind es banale Fakten, und manchmal tiefgründige Offenbarungen. Vielleicht ist es genau das, was sie alle, in seinen Augen, zu Persönlichkeiten machte. Über ihn erfuhren sie nichts. Wie denn auch? Immerhin sind laute Selbstgespräche gesellschaftlich nicht als normal einzustufen.
„Blau ist meine Lieblingsfarbe“, verkündet eine junge Dame händchenhaltend und kichernd, während sie glücklich hopsend an ihm vorbeiläuft. „Blau ist ihre Lieblingsfarbe“, spielt es in seinen Gedanken nochmal ab. Eine Aussage, die so unscheinbar und sinnlos erscheint, und nun ausgerechnet in seinem Kopf Chaos anrichtet. „Blau ist ihre Lieblingsfarbe“. Er dachte daran, ob eine Lieblingsfarbe überhaupt relevant im Leben ist, wenn niemand anderes dieses Wissen teilt außer das eigene Ich. Er dachte, ob überhaupt irgendetwas am eigenen Selbst eine Bedeutung hat, wenn man der alleinige Träger dieser Information ist. Sein Herz füllt sich mit der Frage, wie man eine Persönlichkeit sein kann, wenn niemand seine Eigenschaften kennt. Seine Gedanken. Wenn niemand Kenntnis von ihm nimmt? Bist du dann ein Jemand, so ein richtiger Jemand, oder bist du dann nur ein vor dir hin existierender Klotz aus Fleisch und Knochen und Blut? Und nichts, aber auch wirklich nichts weiter als das.
Als er Abends nach Hause kommt, wirft er sich ins Bett. In seiner Brust macht sich die Leere breit, und gleichzeitig fühlt sie sich auch so unfassbar schwer an. Ein echtes Paradoxon, wie das Gefühl von Leere eine solche Last hervorrufen kann. Sein Leben kommt ihm vor als wäre es ein Raum mit Raufasertapete, ohne Möbel ohne Dekorationen, einfach nur trostlos und kalt.
Bzzt. Das Handy, was neben ihm auf dem Bett liegt, blinkt auf. Jemand hatte ihm eine Nachricht geschickt. Es war ein Bild. Ein Bild von Lilien in einem ruhigen Rosa. Darunter eine Nachricht verfasst: Musste dabei an dich denken. Der Raum bekommt Farbe, die Brust wird leicht, ein Kitzeln in den Fingerkuppen, im Herzen scheint die Sonne. „Was ich wohl für eine Persönlichkeit sein muss, dass der Anblick von einem willkürlichen Bild rosa Lilien ausreicht in Gedanken einer anderen Person zu existieren“, das dachte er sich. Lilien im ruhigen Rosa sind seine Lieblingsblume.