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Lilien im ruhigen Rosa

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07.05.2019
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Lilien im ruhigen Rosa

„Welchen Film magst du denn gleich schauen?“, hört er im Vorbeigehen. Eine gewöhnliche Frage, die er nicht zu beantworten braucht. Er war nicht der Adressat. An wen das Interesse gewidmet war? Das ist ihm egal, es waren nur Passanten. Davon gibt es hier genug. Immerhin ist es eine ziemlich gut gefüllte Straße, die er am Beschreiten ist. Gut gefüllt mit Persönlichkeiten, und sie alle gingen an ihm vorbei. Im Gegensatz zu ihnen, war er einfach nur eine Person, das denkt er zumindest. Ein Mensch – das ist alles, was seine Identität auszumachen schien.

„Ich hab Hunger“, sagte ein Kind. Wahrscheinlich zu seiner Mutter. Oder Vater? Vielleicht ja auch Oma oder Opa. So viele verschiedene Möglichkeiten. Wer auch immer vom leeren Magen Kenntnis nehmen sollte, eins war klar: Er war es nicht. Und dennoch, jetzt wusste er Bescheid. Schon merkwürdig was man alles über diese fremden Gesichter erfährt, während sie nur für wenige Sekunden an einem vorbeihuschen. Manchmal sind es banale Fakten, und manchmal tiefgründige Offenbarungen. Vielleicht ist es genau das, was sie alle, in seinen Augen, zu Persönlichkeiten machte. Über ihn erfuhren sie nichts. Wie denn auch? Immerhin sind laute Selbstgespräche gesellschaftlich nicht als normal einzustufen.

„Blau ist meine Lieblingsfarbe“, verkündet eine junge Dame händchenhaltend und kichernd, während sie glücklich hopsend an ihm vorbeiläuft. „Blau ist ihre Lieblingsfarbe“, spielt es in seinen Gedanken nochmal ab. Eine Aussage, die so unscheinbar und sinnlos erscheint, und nun ausgerechnet in seinem Kopf Chaos anrichtet. „Blau ist ihre Lieblingsfarbe“. Er dachte daran, ob eine Lieblingsfarbe überhaupt relevant im Leben ist, wenn niemand anderes dieses Wissen teilt außer das eigene Ich. Er dachte, ob überhaupt irgendetwas am eigenen Selbst eine Bedeutung hat, wenn man der alleinige Träger dieser Information ist. Sein Herz füllt sich mit der Frage, wie man eine Persönlichkeit sein kann, wenn niemand seine Eigenschaften kennt. Seine Gedanken. Wenn niemand Kenntnis von ihm nimmt? Bist du dann ein Jemand, so ein richtiger Jemand, oder bist du dann nur ein vor dir hin existierender Klotz aus Fleisch und Knochen und Blut? Und nichts, aber auch wirklich nichts weiter als das.

Als er Abends nach Hause kommt, wirft er sich ins Bett. In seiner Brust macht sich die Leere breit, und gleichzeitig fühlt sie sich auch so unfassbar schwer an. Ein echtes Paradoxon, wie das Gefühl von Leere eine solche Last hervorrufen kann. Sein Leben kommt ihm vor als wäre es ein Raum mit Raufasertapete, ohne Möbel ohne Dekorationen, einfach nur trostlos und kalt.

Bzzt. Das Handy, was neben ihm auf dem Bett liegt, blinkt auf. Jemand hatte ihm eine Nachricht geschickt. Es war ein Bild. Ein Bild von Lilien in einem ruhigen Rosa. Darunter eine Nachricht verfasst: Musste dabei an dich denken. Der Raum bekommt Farbe, die Brust wird leicht, ein Kitzeln in den Fingerkuppen, im Herzen scheint die Sonne. „Was ich wohl für eine Persönlichkeit sein muss, dass der Anblick von einem willkürlichen Bild rosa Lilien ausreicht in Gedanken einer anderen Person zu existieren“, das dachte er sich. Lilien im ruhigen Rosa sind seine Lieblingsblume.

 

Hallo @xxxanna,
zunächst: Mir hat die Geschichte gut gefallen, musste sie allerdings zweimal lesen. Ich finde die Allegorie mit den Blumen gut gewählt. Daher ist das schon ein wenig Kritik auf höherem Niveau, was ich hier schreibe.

Dein Thema ist Einsamkeit. Jemand geht durch eine Stadt und bekommt durch die Gesprächsschnipsel Einblicke in das Leben anderer und wünscht sich, andere an seinem eigenen Leben teilhaben lassen zu können. Bitte korrigiere mich, wenn ich das falsch verstanden habe.

Deine ersten drei Paragraphen würde ich als Exposition verstehen. Hier machst Du sehr viel richtig. Auch die selbstreflexive Komponente ist hier gut ausbalanciert und wird nicht langweilig. Gut fand ich:

Er dachte daran, ob eine Lieblingsfarbe überhaupt relevant im Leben ist, wenn niemand anderes dieses Wissen teilt außer das eigene Ich. Er dachte, ob überhaupt irgendetwas am eigenen Selbst eine Bedeutung hat, wenn man der alleinige Träger dieser Information ist.

Bei den letzten beiden Paragraphen wird es ja interessant, weil hier der Klimax und die Auflösung enthalten sind. Der Teil kommt mir allerdings - schon alleine von der Textmenge her - zu kurz. Er bekommt hier eine Nachricht mit angehängtem Foto, die erfüllt seinen Wunsch nach Kontakt. Wer schreibt ihm das? Wahrscheinlich eine Frau, weil diese beim Anblick der Blumen an ihn denken musste. Was löst das in ihm aus, was bedeutet ihm das? Den Leser hier gezielt im Unklaren zu lassen, kann natürlich auch eine Taktik sein. Ich weiß allerdings nicht, ob man das hier so ausweiten muss und ob das funktioniert.

Ich würde mir mehr von so etwas wünschen:

Sein Leben kommt ihm vor als wäre es ein Raum mit Raufasertapete, ohne Möbel ohne Dekorationen, einfach nur trostlos und kalt.
und vor allem
Der Raum bekommt Farbe, die Brust wird leicht, ein Kitzeln in den Fingerkuppen, im Herzen scheint die Sonne.

Gruß
Felpod

 

Lieber @Felpod
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar! Es hat mich sehr gefreut zu lesen, dass dir die Geschichte gefallen hat.
Das Thema hast du richtig erkannt, hihi.
Ich habe sie für den Young Storyteller Award geschrieben mit einer Reihe an anderen Kurzgeschichte, die alle von unterschiedlichen Gefühlslagen und Situationen handeln, die wir als Mensch im Laufe des Lebens mal durchlaufen könnten. Man neigt ja oft aus psychologischer Sicht ein Bild als ganzes zu betrachten, und übersieht aber dabei die kleinen (schönen) Details.
Der Leser soll sich eventuell verstanden fühlen und sich im Protagonisten wiederfinden. Deshalb ist alles reine Interpretationssache, vor allem auf das Ende bezogen. Vielleicht verhilft es dem ein oder anderen sogar zu einer Art Selbstanalyse: von wem die Nachricht kommt, vielleicht sehnt man sich ja genau danach, was mich vorgestellt hat? Oder was es für einen bedeutet.

Liebe Grüße,
Anna

 

Eine schöne Geschichte über einen an sich zweifelnden, melancholischen Mann, in einer Welt die dazu allen Grund gibt, dessen Tag schließlich durch eine einfache liebe Nachricht erhellt wird. Hat mir gut gefallen :)

 

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