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Lebensbruch (Einsamkeitstaumel)

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19.09.2003
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Lebensbruch (Einsamkeitstaumel)

Lebensbruch (Einsamkeitstaumel)

Ketzerisch weites, brachliegendes Land bis zum Horizont. Zum Greifen nah' der Gabelast des stummen Gefährten. Hellgrün leuchtend mit seinem Aug‘ in Aug‘. Silbernes Wehen tausendfach in der Nacht. Begleiter. Raschelnd, wispernd, stumm. Ahnung davon. Sie sind so laut!

Längs unterteilter Himmel in gnadenlose zehn Zentimeter, fünf Mal. Sie schreien von oben, rufen von unten - Blättchen säuseln im Wind. Von rechts Weinen.

Flutlicht im Zimmer. Überall Stimmen, Fluchen. Es ist viel zu früh. Weiche Knie vom endlosen Starren in den fünfmal geteilten Himmel, die dreimal geteilte Birke, den fünfmal geteilten Acker mit oder ohne Himmel, je nach Winkelhaltung der Beine. Irgendwann wird es so gewesen sein.

Decke, immer noch zu dünn, Matratze zu hart, zu verfleckt, unangenehmer Geruch. Immer noch zu spüren. Aufsetzen, warten. Die kleine Klappe, durch die gerade ein Teller passt, von dem der Esshaufen beim Durchschieben herunter gefegt wird, der Becher halb leer ankommt, öffnet sich - immer noch zu spät. Es schmeckt immer wieder nach Erbrochenem. Alles tut weh. Eine Stunde ist endlos. Kälte greift nach den Zehen. Pullover und Decke gaukeln Wärme vor.

Besonderheit Toilettengang, fünfundsiebzig Zentimeter weit bis zum Becken. Es ist laut. Irgendwer singt, wirres Lachen, verrauchte Stimmen durcheinander. Es stinkt, wie sonst auch. Langes Sitzen. Minuten verrinnen in der Zeitlosigkeit. Den Hahn aufdrehen und die Kostbarkeit benutzen. Nur ein bisschen davon. Edles Stück, sahnig markantes Gemisch. Männlich herb. Trotz schönmachender Verzerrung verrät der Aluminiumspiegel Spuren der Zeit, der Blick geradeaus wirft müdes Lächeln zurück.

Hinausschauen! Den Blick schweifen lassen, weit, weit - bis zum Horizont. Das Gesicht, gepresst an die Stäbe, vergrößert den Radius. Die Blätter sind eine Spur dunkler als gestern, die Sonne scheint einen Hauch heller, der Himmel ist blauer. Vielleicht liegt es am Licht?

Müde Beine sacken zusammen, die Pritsche fängt auf. Das Buch von Seite sechsundsiebzig bis einundachtzig ist jetzt auch fest verankert. Noch einmal aufsagen, dann gibt es Mittagessen. Der Brei vom Morgen ist längst Schnee von gestern. Hunger - zu früh. Die Klappe geht auf, viel zu spät, der Magen hat längst aufgehört zu knurren. Wie hoch das Aufliegende wohl gewesen sein mag? Keine Chance, es herauszufinden. So flach wie immer. Vor der Tür schabt es. Es wird die Putzkolonne sein, die hinter dem Verteiler hergeht und die an der Klappe hängengebliebenen heruntergefallenen Reste kehrt.

Besonderheit Toilettengang, vom Tisch aus sechsundachtzig Zentimeter. Nur urinieren, dauert nicht lang. Hände und Mund waschen. Gutes Stück duftet. Ein Schritt zur Tür, Teller abstellen. Spaziergang zum Ausguck, verlängernde kleine Schritte. Nach rechts und links schauen - es dauert, bis zur anderen Seite. Verzerrtes Spiegelbild im Vorübertippeln zeigt: Dellen auf Stirn und Backen mausern sich allmählich zur bleibenden Erinnerung.

Zwei Meter zwanzig und die blanken Stäbe passen genau in die Dellen. Ein Vogel, oh, ein schwarzer Vogel, inmitten der Gabelung. Kaum zu sehen, verdeckt durch das dichte Blätterwerk. Mal sehen, wie lange er wohl da sitzen bleibt? Schon eine Stunde und zwölf Minuten - der hält's aber lange aus! Vielleicht ein Nest?

Die Beine arbeiten bleischwer gegen den Kopf, bald müsste es Stärkung geben. In drei Stunden zwanzig, ungefähr. - Da fliegt er davon. Auf und davon. Einfach so. In Richtung Feldhorizont. Noch ist er zu sehen. Noch, noch, noch... Jetzt ist er weg. Müdigkeit eilt herbei, läßt schläfrig werden, haut Beine weg, legt flach. Das Megaphon der tausend Stimmen im Kopf verstummt, ohne es zu hören. Stunden verrinnen in der Zeit.

Höhepunkt Abendessen. Schmeckt besser als alles Andere zusammen. Ist die Selbstüberzeugung dessen, es wieder einmal geschafft, den Tag 'rumgekriegt zu haben, nicht zerbrochen zu sein, des ersehnten Tages ein kleines Stück näher gekommen. Die Schreie sind nicht zu überhören, das Weinen nicht und auch nicht das Rufen. Doch die Nacht ist noch lang...

Irgendwann sacken die Beine weg, die Decke schützt vor Kälte, das Bett läßt Ruhen zu - und dann, ja dann höre ich die Birke wispern.


copyright 2003 by Rachel Violeth

 

Hi

Erstmal ist mir das Experimentelle hierbei nicht ganz klar. Die abgehackte Sprache ist ja wohl nichts Neues, wurden schon ganze Bücher in dem Stil geschrieben, ich stell solche Sachen immer gnadenlos in die Alltagsrubrik ;)

Wenn ich es richtig verstehe, schildert hier jemand den Alltag in einer Anstalt aus einer verzerrten Perspektive. Teilweise ähnelt der Text eher einem Gedicht, besonders wenn die Grammatik verdreht wird oder das Prädikat wegfällt, wie hier z.b. "Silbernes Wehen tausendfach in der Nacht."

Dir von dir gewählten Bilder haben mir sehr gut gefallen, auch wenn ich vermutlich nicht jedes einzelne entschlüsseln konnte. Zum Beispiel ist mir das Aug´ in Aug´ im dritten Satz nicht klar oder auch die zweimeterzwanzig großen Dellen im Gesicht.

Der Vergleich mit dem Vogel passt mMn auch gut, dadurch wird der Eindruck des Gefangenseins und nicht "einfach so wegfliegen können"s verstärkt.
Allerdings hätte ich mir noch eine Andeutung gewünscht, weshalb die Person denn nun in der Geschlossenen sitzt, einfach Verrücktsein allein reicht vermutlich nicht als Inhaftierungsgrund.
Insgesamt eine gute, originelle Situationsbeschreibung.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hallo RachelV,

die Gefängnissituation, die Gewalt, die durch erzwungene Einsamkeit ist gut beschrieben. Schön auch das Symbol des Baumes, so nah, doch unerreichbar, das Interesse des Vogels am Baum wird wie ein Interesse an der beobachtenden Person erlebt.
Die Welt bestimmt durch unterteilende Geometrien, Gitter, die ihre Spuren in und auf dem Gefangenen hinterlassen...
So richtig experimentell finde ich die Weglassung der erklärenden Aussenperspektive nicht.

Tschüß... Woltochinon

 

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