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Kreative Sperre: Zehn Minuten Hinterhof
Wschhhh. Wschhhh. Wschhhh. Zwischen den Blumenkübeln und den Mülltonnen fährt das kleine Mädchen auf dem Kinderrad im Kreis. Sein dunkles Haar und das rosa Kleidchen flattern im Fahrtwind, die Speichen spiegeln das Licht. Das Kind sieht mich an, aber immer, wenn ich den Blick von meinem Notizblock hebe, wendet es das Gesicht ab. Es scheint, als wolle die Kleine bei ihren Runden bewundert werden, fühle sich dann aber doch zu schüchtern für Publikum.
Ich lächle die vollgekritzelte Seite an, streiche die letzten Sätze durch. Wenn ich das Bildmaterial hätte, würde mir das Texten leichter fallen. Außerdem habe ich noch drei Tage Zeit. Das ist zuviel. Ich arbeite besser, wenn es pressiert. Vor allem, wenn es um so aufregende Dinge wie Ergänzungstarife zur Krankenversicherung geht. Natürlich könnte ich die Arbeit einfach aufschieben, Anne von der Arbeit abholen und mit ihr ins Grüne fahren. Oder sonstwas tun. Aber dazu fehlt mir die Gelassenheit.
Ich greife unter die Bank und nehme einen Schluck aus der Brauseflasche. Wschhhh, wschhhh. Die Kleine tritt heftiger in die Pedale. Ich frage mich, ob und wann ihr die Kreise wohl langweilig werden. Und ob das Wort "Zahnarzt" zu negativ belegt ist, um es an prominenter Stelle abzudrucken. Andererseits komme ich nicht darum herum. Ich sammle Zugpferdchen-Worte, sozusagen als Gegengewichte zur Scheußlichkeit: "neuartig", "Komfort", "Schutz", "Zuzahlung". "Zuzahlung" könnte man natürlich auch missverstehen. "Sicherheit", das ist immer gut, und dann etwas mit "zusätzlich", "Plus", "Extra", "besonderes Extra" vielleicht? Ist das eine Tautologie? Oder wie wäre es mit "besonderes Bonbon"? Nein, Bonbon verträgt sich nicht mit Zähnen. "Preiswert". Uh, wie originell. Versicherungen sind ein Schmerz. Sogar Acrylsocken kann man besser bewerben.
Ich kaue auf dem Kugelschreiber herum und wackle mit den Zehen. Es ist der erste Barfußtag des Jahres. Immerhin. Irgendwo im Häuserblock öffnet sich ein Fenster, Musik quillt heraus. Etwas türkisches mit hysterischen Plastikgeigen. Ich schließe für einen Moment die Augen und reiße sie gleich wieder auf:
"Ich hab Durst." Das Rad bremst schlingernd direkt vor meinen nackten Füßen. Die winzigen Lackschuhe des Mädchens sind blankgeputzt. Ob heute ein türkischer Feiertag ist?
"Limo?", frage ich und hebe die Flasche.
"Orange?" Die schwarzbraunen Augen blicken misstrauisch.
Ich lese das Etikett. "Nee. Holunder."
Offenbar trifft das nicht ihren Geschmack. Oder der Durst war doch nicht so stark. "Was machst du da?"
"Ich versuche, einen Brief zu schreiben."
Sie schielt auf das Gekritzel. "Wem denn?"
Ich seufze. "Leuten, die ich nicht kenne."
Die Kleine guckt mich an, als wäre ich nicht ganz dicht. "Warum?"
"Ich verdiene Geld damit."
Das scheint sie nicht zu befriedigen. Verständlich. Sie macht ein zischenden Geräusch, indem sie die Luft scharf durch eine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen saugt. "Mein Papa verdient Geld mit Autos. Er repariert sie."
Ein glücklicher Mann, der Autos reparieren kann. Der muss sich keine Gedanken um Wörter machen.
"Das ist prima. Ich kann leider keine Autos reparieren."
Und leider bin ich auch nicht besonders eloquent im Gespräch mit Fünfjährigen, denke ich.
"Ich auch nicht.", sagt sie und dreht das Fahrrad und sich herum.
"Sag mal - findest du Zahnarzt doof?"
"Nö." Sie steigt auf und fährt los. Lässt mich einfach sitzen mit dem Mailing. Ich denke nochmal über Gebisse, Goldkronen, Inlays und Onlays nach und finde die Worte immer noch unsexy. Schade, dass Milchzähne kein Fall für die Versicherung sind. Die Kleine mit Rüschenkleid und Zahnlücke gäbe ein entzückendes Motiv ab.
Wschhhh, wschhhh. Sie dreht wieder ihre Runden. Jetzt ist sie aber nicht mehr schüchtern und grinst mich an. "Guck mal!", ruft sie und fährt eine Acht. "Super.", antworte ich lahm.
"Flirtest du mit anderen Frauen?"
Ich blinzle gegen die tiefstehende Nachmittagssonne. Anne stellt ihre Tasche auf meinem Schoß ab und küsst mich.
"Wie war dein Tag?", frage ich.
"Geht so." Sie nimmt mir die Limonadenflasche ab und trinkt. Vier, fünf, sechs tiefe Schlucke. Steht breitbeinig wie ein Bauarbeiter da, den Kopf in den Nacken gelegt, eine lebendige Statue im Licht. Ich sehe an ihr hoch; die Kontur ihres Kinns erglüht weiß in der Sonne.
Dann setzt sie ab, rülpst unterdrückt und verstaut die leere Flasche in den Tiefen ihrer Tasche. Es wäre so viel einfacher, über Anne zu schreiben. Oder über das Mädchen auf dem Rad. Oder ihren Vater, der Autos repariert.
"Was macht das Mailing?"
"Frag nicht.", winke ich ab.
"Dann kann ich wohl davon ausgehen, dass du morgen auch arbeitest?"
"Tut mir leid."
"Hm. Nicht schlimm. Lass uns was essen." Sie geht vor zum Hauseingang. Ich trotte hinter ihr her: "Das ist eh das einzig vernünftige, was man mit Zähnen machen kann."
Ich drücke die Tür über ihren Kopf hinweg auf und warte darauf, dass sie eintritt. Anne blickt über die Schulter zu mir zurück und grinst. "Du warst wirklich schon mal kreativer."
(ausgehen / Kugelschreiber / rosa / Zahnarzt / reparieren)