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Kopfstimme

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15.12.2004
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Kopfstimme

A: Ich begreife nicht, warum du das tust. Ich verstehe nicht, warum du das begonnen hast und ich verstehe nicht, warum du nicht aufhörst damit.
Du machst mir Angst, deine Beine machen mir Angst, deine Arme machen mir Angst, deine Lippen machen mir Angst, deine Haare machen mir Angst, deine Augen machen mir Angst. Alles an dir macht mir Angst, verstehst du, DU machst mir Angst.
Ich verstehe nicht warum du das tust. Warum tust du das?

B: Bitte höre endlich auf mich zu suchen, ich bin schon lange fort.
Bitte gib es auf, nach mir zu suchen, denn jeder Schritt in meine Richtung führt dich nur weiter weg von mir, immer weiter weg, auf einem holprigen Weg, der irgendwann auch dich zu Boden werfen wird. Bitte höre auf, diese Schritte zu gehen, ich möchte dich nicht auch verlieren, denn ich selbst bin schon längst gefallen. Mir selbst gelingt es schon lange nicht mehr, mich wieder aufzurichten, geschweige denn einen Blick zu erhaschen, einen Blick in die richtige Richtung, einen Blick auf den richtigen Weg, einen Blick zurück.
Deine Schritte machen mir Angst, deine Fragen schießen Löcher in meinen Bauch und deine Blicke nageln mich an die Wand.
Bitte hör auf damit, diese Schritte zu gehen, du kannst mich nicht erreichen hier, ich bin schon viel zu weit fort.

A: Ich habe Angst dich zu verlieren.
Ich habe Angst dich zu verlieren und ich habe Angst dich nie mehr wieder zu finden.
Für mich bist du eine dieser gezwirbelten Muscheln am Strand, eine, die ganz nahe am Meer liegt, die schönste von allen, ganz dicht am Wasser. Eine dieser Muscheln, von denen man nie weiß, ob sie die nächste Welle nicht fortträgt, einer dieser wunderschönen Muscheln, von denen man nicht weiß, ob man sie jemals wiederfinden wird.
Ich habe Angst davor, dich niemals wieder zu finden, ich habe Angst davor, dass du stirbst. Ich will dir nicht beim Sterben zusehen, verstehst du nicht, ich kann dir nicht beim Sterben zusehen. Du bringst dich um.

B: Versteh mich nicht falsch, ich möchte Leben, ich möchte wirklich.
Ich nehme an, ich bin schlichtweg zu jung zum Sterben. Ich bin schlichtweg zu jung zum Sterben, auch wenn ich mich oft fühle, als wäre ich achtzig Jahre alt, oder neunzig, oder hundert. Ich fühle mich, als wäre ich hundert Jahre alt, ich sehe aus, als wäre ich hundert Jahre alt, ich will noch nicht sterben.
Vor fünf oder sechs Jahren, ich war noch ein Kind, da hat alles begonnen. Ich war noch ein Kind und meistens, da war ich traurig. Ich war ständig traurig und ich war wohl ein großes Stück anders, als die anderen Kinder in meinem Alter, denn diese Kinder waren fröhlich und diese Kinder hatten keine dunklen Augenringe, von durchweinten Nächten.
Vor fünf oder sechs Jahren, da fing alles an.
Vor fünf oder sechs Jahren, da blickte ich in den Spiegel und ich bemerkte, dass ich anders war als die anderen Kinder, da blickte ich in den Spiegel und ich bemerkte, dass ich groß geworden war und dass ich alt aussah.
Ich habe Angst davor älter zu werden, ich habe Angst davor groß zu werden, ich habe Angst davor erwachsen zu werden. Niemand nimmt mich in den Arm, niemand darf mich in den Arm nehmen, große Kinder nimmt man nicht in den Arm.
Oma sagt, wer nicht isst, der wächst auch nicht. Oma sagt ich solle tüchtig essen, damit ich groß und stark werde.
Ich will nicht groß und stark werden, ich will nicht essen, ich will nicht erwachsen werden. Ich habe Angst davor zu essen, ich habe Angst davor zu wachsen und ich habe Angst davor zu sterben.

A: Deine Beine sind knochig, deine Arme sind dünn, deine Hüftknochen sind spitz und deine Wangen noch spitzer. Deine Haare sind strohig und deine Haare gehen dir aus und deine Haut ist wie dünnes weißes Papier, und deine großen schwarzen Augen sehen aus wie dicke traurige Tuscheflecken.
Deine Haut ist durchsichtig weiß und wenn ich dich berühre, dann fürchte ich, dich zu zerstören.
Ich habe Angst, dass du auseinander fällst, wenn ich dich in den Arm nehme, ich habe Angst, deine Finger zu brechen, wenn ich dir die Hand gebe und ich habe Angst schwarze Flecken zu bekommen wenn du weinst.
Du bringst dich um. Warum bringst du dich um?

B: Ich habe verlernt zu essen und mein Körper hat verlernt zu wachsen.
Ich weiß nicht mehr, wie das ist, Schokolade zu essen.
Kannst du mir sagen, wie Schokolade schmeckt?
Manchmal würde ich wirklich gerne Schokolade essen, aber meine Hände zittern, mein Magen dreht sich um und die Schokolade schlägt mir ins Gesicht.
Da ist eine Stimme in meinem Kopf, und diese Stimme befiehlt der Schokolade, mir ins Gesicht zu schlagen.
Da ist eine Stimme in meinem Kopf, die sagt mir, Essen ist böse, du darfst nicht essen, wenn du isst, dann geschieht etwas Böses, du wirst groß werden, wenn du isst.
Da ist eine Stimme in meinem Kopf und diese Stimme schreit mich an.
Diese Stimme schreit mich an und wenn ich zurückschreie, dann stürze ich zu Boden und die Welt schlägt Purzelbäume mit mir.
Manchmal, da würde ich wirklich gerne zurückschreien, doch alles dreht sich um mich.

A: Ich würde dir gerne helfen, doch jeder Schritt auf dich zu bringt mich nur weiter fort von dir.
Ich begreife nicht, warum du das tust. Ich verstehe nicht, warum du das begonnen hast und ich verstehe nicht, warum du nicht aufhörst damit.
Du machst dich kaputt, du machst mich kaputt, du bringst uns um.
Ich begreife nicht, was das ist in deinem Kopf, das dich zwingt zu zählen, wie viele Nudeln du isst, ich weiß nicht was das ist in deinem Kopf, das dich jeden Tag aufs Neue zwingt, zu testen, ob das Kinderfahrradschloss noch um deine magere Taille passt und ich weiß nicht, was das ist, dass dich jeden Tag zwingt, zu probieren, ob diese rote Hose von vor sechs Jahren noch sitzt.
Ich weiß nicht was das ist in deinem Kopf, das dir solche Angst macht, ich weiß nur, dass es verschwinden muss. Diese Stimme in deinem Kopf muss verschwinden, bevor du selbst völlig verschwunden bist.

B: Manchmal, da ist diese Stimme in meinem Kopf wirklich stolz auf mich, weil ich alles sehr gut mache und weil ich meinen Körper bedingungslos beherrsche.
Doch diese Stimme, sie will ständig mehr. Sie will ständig mehr, Tag um Tag fordert sie mehr, mehr und mehr. Sie ist einfach nicht zufrieden zu bekommen, diese Stimme, sie ist einfach nicht still zu bekommen, wie ein hungriges kleines Kind.
Die Stimme in meinem Kopf beherrscht mich, ich werde diese Stimme in meinem Kopf nicht los. Ich bin die Stimme in meinem Kopf. Die Stimme in meinem Kopf bin ich.
Ich würde gerne anschreien gegen diese Stimme, doch es gelingt mir nicht, gegen mich selbst anzuschreien.
Das ist wie mit dem Denken. Hast du schon einmal versucht nichts zu denken? Ganz bewusst nichts zu denken? In dem Moment, in dem du dich darauf konzentrierst, deinen Kopf völlig Gedankenfrei zu haben, in dem Moment denkst du dir „hey, nun ist mein Kopf völlig gedankenfrei“ und genau in diesem Moment bist du wieder gescheitert. Und du scheiterst und scheiterst, wieder und wieder scheiterst du, weil es der einen Stimme nicht möglich ist, gegen die andere anzuschreien.
Diese Stimme in meinem Kopf, es gelingt mir nicht gegen sie anzuschreien, es gelingt mir einfach nicht. Kannst du gegen die Stimme in deinem Kopf anschreien?

 

Ich verstehe nicht warum du das tust
nichtKOMMA
Bitte höre endlich auf mich zu suchen
aufKOMMA
Hi Leah,
Fehler habe ich keine mehr angemerkt, sind aber noch n paar drin.
Im gegensatz zu deiner anderen Geschichte gefällt mir diese hier RICHTIG gut!
Schöner innerer Zwiespalt und ... ach, sie gefällt mir einfach. ich glaube, mehr muss ich nicht sagen :)
:heilig:

 

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