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KlickKlack
Simon Mühlberger
KlickKlack
Kurzgeschichte
Diet-diet-diet! Rene tapste noch mit geschlossenen Augen zu seiner linken auf dem Beistelltisch. Zwei mal griff er ins Leere, dann hatt er es. Vermittels blitzartiger Geste mit seinem Zeigefinger befreite er sein Handy aus dem Schlafmodus. Sechs Uhr morgens. "Verdammmt, Schule! Hab ich überhaupt geschlafen?" fragte er sich. God of War: Ragnarök war einfach zu genial. Solange bis auch er The Last Of Us per Post angeliefert bekäme; von dem würde Richie ihm heute Abend berichten. Bis dahin nahm er eben mit den Untoten anstatt der Zombies vorlieb. Eh vom gleichen Schlag.
Wäre Mutter nicht erst gestern abends abgereist, hätte er womöglich früher schon das Antesten beendet. Sie hätte ihn schon mit den üblichen Worten zur Nachtruhe bewogen.
Nach all den Jahren wurde Mutters Antrag auf Rehabilitation doch gewährt. Ihrer Meinung nach musste sie den erstbesten Termin wahren. Rene wäre nie freiwillig in eine Klinik wegen anhaltender Depressionen und wiederkehrenden Angststörungen gegangen. Unter keinen Umständen.
Seine noch schweren Gedankengänge überlagerten sich mit visuellen Nachbildern. Massenhaft untote Draugr, die er mit Kratos´ Helden-Axt Leviathan zu Fleischbergen verarbeitet hatte. Rene ertappte sich, wie er beinahe von den Bildern im Kopf wieder ins Land der Träume befördert wurde. Im entscheidenden Moment riss er die Augen auf. Ein schierer Kraftakt jedoch, diese offen zu halten.
"Autsch!" Das Handy erschütterte seinen Brustkorb als es ihm aus der Hand geglitten war. Er deckte das Display wieder auf und fing an zu schreiben. Als er fertig war, scrollte er die Kontaktdaten rasend hinab als stürzte ein Lift in die Tiefe, nachdem seine Aufzugseile durchtrennt wurden. Unten angelangt wählte er Vortuna an. Kaum abgeschickt, kam ein Anruf rein. Zur Nummer wurde Vortuna als Ort mitangezeigt am Handydisplay. Rene lehnte ab. Was, wenn nicht seine Mutter dran wäre? Kurz darauf poppte eine Whats´s App Nachricht am Display auf: "Ok, mein Schatz! Ich hab Prof. Metis über SchoolFox geschrieben, dass du heute krank bist. Da morgen die Ferien beginnen, wird er es nach der Woche schon nicht stark in Frage stellen. Machs gut und du weißt, am Wohnzimmertisch habe ich dir ausreichend Geld dagelassen."
Jetzt war es genug. Die Müdigkeit schlug erbarmungslos zu. In dem Moment als sein Kopf das Kissen berührte, traf ihn ein gleißender Lichtstrahl mitten auf die geschlossenen Augen, als wollte der Gott Zeus ihn geflissentlich malträtieren. Das damit einher gehende helle Rot tat fast schon weh. "Scheiß Vorhang! Immer dieser Spalt. Ich wünschte, ich wäre gestern früher schlafen gegangen. Warum kann es nicht noch Nacht sein?!" Irgendwann war er fluchend doch wieder eingeschlafen. Rene hatte erbitterliche Schlachten auszutragen, aus denen er schließlich mit brummenden Schädel und einem langsam verebbenden Sirrton erwachte.
Rene fischte mit dem Löffel die letzten Nougat Bits aus seiner Schüssel. Anschließend kippte er sie zum Mund führend hinein. Die weiß-bekömmliche Flüssigkeit umschmeichelte seinen Rachen und floss weich die Speisröhre hinab. Begleitend von rohen Gulp Gulp-Schluckgeräuschen. Es ging nichts über Milch. Gemischt mit Honig. Milch und Honig. Getränk der Götter. Das Lebenselexier für Rene. Damit war seine Morgenroutine für die kommende Ferienwoche abgeschlossen.
Er schlurfte an den PS4-Altar in seinem Zimmer und ließ sich in den throngleichen Stuhl fallen. Dann schob er diesen protzig blauen Gamerstuhl näher an seinen Schreibtisch heran, in den er sich mit unterchlagenen Beinen zurecht rückte. Und fuhr die PS4 hoch.
Einige Stunden später erhob er sich ein einziges Mal mühsam aus dem Stuhl in den er schier eingewachsen zu sein schien, obgleich dieser gar nicht die Memory Foam-Funktionalität hatte. Er ging auf die Toilette. Kam zurück. Dabei stieß er fast die ein Liter Colaflasche um. Gerade noch reagierte er unbewusst und hielt sie in beiden Händen vor sich ausgestreckt. Er nahm einen kräftigen Schluck der warm-schäumenden schwarzen Flüssigkeit und widmete sich anschließend wieder Monsterhorden.
Die PS4 rauschte wie ein mit einem mega Haarballen zugepfropfter Fön und glühte gefährlich. An Renes Augenliedern schienen Bleigewichte zu hängen. Ein kurzer Blick auf seine analoge Icewatch an seinem Handgelenk: 1:15 Uhr. Draußen war es aber immer noch hell! erkannte er nicht nur durch den fiesen Spalt des zu beiden Seiten zugezogenen Verdunkelungsvorhanges.
Den geschmacklos grauen Vorhang, der für das Doppelfenster etwas zu klein war, bettete ein portalartiger warmer Lichtrahmen ein. Ganz als ob er sich nach innen ins Haus kämpfen wollte.
Die Batterien von Renes´ Körper waren auch der Meinung, dass es schon spät war, wenngleich sein Handy derselben Meinung wie die Icewatch war. Die tickte weiter munter vor sich hin.
"Gut, das wirklich letzte Nebenquest noch", beschloss er mit einem Faustschlag auf die Tischplatte. Dann fiel ihm ein, dass Richie sich doch melden wollte, um ihm über das neue Spiel zu berichten.
Rene schloss noch vier weitere Quests ab. Schließlich glitt ihm der Controller aus der Hand, und Rene bemerkte, wie sein Kinn auf physikalisch falsche Weise auf dem Brustbein ruhte. Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel wie bei einer ausgewachsenen Bulldogge.
Rene schleppte sich mit letzter Kraft an sein Bett heran. Er warf noch einmal einen Blick auf seine Icewatch. 1:30. Hatte er das Licht angelassen? Nein, er hatte erst gar keines angemacht. Aber es war alles in seinem Zimmer deutlich zu erkennen. Konnte er etwa im dunklen Sehen? Oder war das ein Traum? Was stimmte bloß mit seiner Uhr nicht? Oder war er es etwa, mit dem etwas nicht stimmte? Rene ließ sich in voller Garnitur auf die Matratze fallen und übergab sich der Bewusstlosigkeit.
Um 3:00 Uhr läutete sein Handy. Rene blitzgestikulierte es frei. Richie konnte er mit halb geöffneten Augen am Display ablesen. "Der hat Nerven. Mitten in der Nacht." Rene unterließ das Abheben. Er war einfach zu groggy. Da fiel ihm wieder der dubiose Umstand vorm Zubettgehen ein. Er merkte, dass es auch jetzt immer noch "hell" war in seinem Zimmer. Wie durch nicht zur Gänze gebanntes Tageslicht erleuchtet. Das kam ihm alles sehr sonderbar vor, doch hatte er keine Restenergie mehr, der Sache nachzugehen. Über kurze Gedanken beim Einschlafen, wie er Richie am nächsten Tag auf derbste Art und Weise zur Rechenschaft ziehen sollte, kam er nicht mehr hinaus. Mit einer Szene im hypnagogen Einschlafstadium, wie er imaginär einen Lichtschalter ob des nervenden Lichtes im Zimmer herunterklacken ließ, schlief er ein.
Am nächsten "Morgen" hatte er die Umstände der Nacht vergessen. Er schaute gar nicht erst auf die Uhr - warum auch, es waren Ferien -, sondern torkelte schlaftrunken durch die Dunkelheit zum Kühlschrank. Rene wollte sich eine Packung Milch herausholen. "Na, super: keine mehr da. Und Ma hat den Kühlschrank einfach leer zurückgelassen. Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig und ich muss mir welche besorgen."
Er tastete blindlings auf dem Tisch nach dem Geld, das seine Mutter für ihn dagelassen hatte.
Jetzt erst fiel ihm auf, dass es herinnen dunkel war, als wäre es draußen noch Nacht. Ein Blick auf die Uhr verursachte nur Verwirrung. 10:00 am Vormittag. "Spinne ich schon komplett? Wieso ist es dunkel? Jetzt kann doch nicht Nacht sein." Er dachte es als dürfte diese Möglichkeit logischerweise nicht bestehen. Nicht als könnte sie es nicht. Ohne wenn und aber.
Im selben Moment öffnete er die Tür und Tageslicht erleuchtete die Türschwelle, als wäre sie auf seinen Befehl hin erhellt worden. Die Sonne blendete ihn.
Eine Eingebung schien sich nun endgültig in Rene zu manifestieren. Er spielte mit dem schier idiotischen Gedanken, dass er es nach Belieben hell oder dunkel werden lassen konnte.
Er stellte sich den Himmel dunkel vor und er ward dunkel. Er stellte sich den Himmel hell vor und er wurde es. Rational war das undenkbar. Aber, wenn er dazu wirklich fähig war?! Mit heruntergefallener Kinnlade staunte er über sein Wechselspiel von Tag und Nacht. Unfassbar. Er war mächtig wie ein Gott, dachte er. Er switchte den Himmel noch ein paar Mal hin und her. Dann hielt er inne. Er überlegte: wozu sollte ihm die Fähigkeit überhaupt von Nutzen sein?
Im nächsten Moment riss er seinen Kopf von links nach rechts und zurück. Hatte ihn irgendwer gesehen? Schnell zog er die Kapuze seines Sweaters hoch, um dahinter Schutz zu suchen.
Dann lief er mit eingezogenem Kopf los.
Aus einiger sicherer Entfernung vor dem Dorfladen Aras haltend, sah er einen Tumult. Die Tür stand offen und Leute waren angestellt als handelte es sich um den Erscheinungstag vom neuesten iPhone, wo Leute vor dem Geschäft nächtigten, um als erster an eines der begehrt-begrenzten Stücke Smartphones zu gelangen. Er hörte drinnen Leute lautstark miteinander streiten.
Vorsichtig schlich er sich an den parkenden Autos entlanghangelnd bis an die Tür. Hockend hielt er sich im Schatten des großen Aras Logos verborgen. Unmittelbar hinter der nach innen links geöffneten Tür. Rene erkannte durch die Glasfront im Inneren zwei Männer die sich stritten. Die acht weiteren Kunden sparten den Türbereich aus und hielten Sicherheitsabstand.
"Bestimmt nicht, ich habe sie zuerst gehabt."
Der Mann hielt die Flasche fest, als handelte es sich um sein eigenes Baby aus Fleisch und Blut. Obwohl er bereits sechs Flaschen mit Milch in seinem Korb hatte, die wie hinterlistige Katzen auf der Lauer im hohen Gras herauslugten.
Der andere, deutlich größere Mann erhob die Faust gegen den Milchträger und Rene stellte sich schon vor, wie er sie herabsausen ließ wie die Axt seines Möchtegern-Alter Egos. Kratos.
"Beruhigen Sie sich. Ich bedauere die Umstände, aber vielleicht kommt die Anlieferung doch noch. Wir hätten da noch Oat Milk. Sie bekommen 50 % Nachlass darauf", versuchte der Ladenbesitzer die beiden zu beschwichtigen, blieb aber dennoch hinter seinem Tresen auf Sicherheitsabstand.
"Das ist doch keine Milch", erwiderte die Leute dahinter und drängten sich weiter vor. Es sah fast so aus als würden sie den Tresen jederzeit mit ihren Körpern überschwemmen.
Rene überlegte. Er wollte die Milch ebenso. Er brauchte sie. Darum fackelte er nicht lange. Er ließ es mit einem gedanklichen Klack unversehens dunkel werden. Die Meute drehte sich verdutzt herum und schaute zum Himmel. Der Mann mit den Milchflaschen hatte indes die Gunst der Stunde genutzt und war nach draußen geschlichen. Rene schlug aus dem Hinterhalt zu. Er schnappte sich zwei der Flaschen und rannte. In einiger Sicherheit hielt er keuchend hinter einem Baum versteckt an. Er beobachtete die Leute, wie sie verwirrt auseinanderstoben und davonhasteten. Rene ging rücklings. Fast stolperte er dabei über eine Baumwurzel, die sich hier durch den Asphalt gebohrt hatte und im Dunkeln sowieso nicht auszumachen war. Er fing sich gerade noch. Die Milchflaschen jedoch entglitten ihm. Und zerschellten. Die wertvolle Flüssigkeit ergoss sich über den Asphalt. Rene faltete die Arme über dem Hinterkopf. Er selbst erstarrt. Seine Pupillen geweitet. Als nächstes wanderten diese ruckartig zum rechten Augenwinkel hin. Dort erkannten sie den Schatten eines kleinen Jungen in einiger Entfernung.
Plötzlich realisierte Rene, dass der Junge praktisch direkt vor ihm stand. Bestimmt ein spitzfinder Junge der Leute vom Laden. Dieser schien ihn vorwurfsvoll anzublicken soweit Rene das in der Dunkelheit ausmachen konnte. Der Blick vermittelte Rene das Gefühl als sei er Satan Claus, die Horror-Version von Santa Claus. Das wurde ihm nun auch zuviel. Rene wollte sich am liebsten nur noch in ein dunkles Loch zurückziehen. Er rannte los. Straks nach Hause. Und sperrte hinter sich ab.
Sollte Richie anrufen und davon berichten, was mit ihm los war? Nein. Er war nicht mal wirklich ein guter Freund. Bloß ein Typ, der dieselbe Leidenschaft für Action-Videogames teilte. Dann vielleicht seine Mutter? Nein, was sollte sie schon machen? Ihr würde vor Sorgen das Herz stehen bleiben. Oder sie würde denken, er erlaube sich einen Scherz, damit sie schnellstmöglich wieder heimkäme. Im schlimmsten Fall würde sie über die Botschaft selbst dem Wahnsinn anheim fallen. Nicht grundlos war sie auf Vortuna.
Wie ein unruhiger Tiger lief er im Haus auf und ab. Er konnte es nicht glauben. War das tatsächlich die Möglichkeit? Er schritt ans Fenster. Zog den Vorhang beiseite. Und stellte sich einen klickenden Lichtschalter vor. Unversehens erhellte sich der Himmel und für Rene war es als würde dieser sich auftun und er einen Blick ins Jenseits erhaschen.
Von unten starrte der Junge von vorhin herauf und zeigte mit dem Finger in Renes Richtung.
Klack! Rene wünschte es sich dunkel. So dunkel wie im Hintern eines Zyklopen, der in einer stockdunklen Grotte hockte. Auch für draußen. Konnte er das überhaupt separat entscheiden? Zuzüglich zog er die Vorhänge vor. Er kauerte sich am Boden in eine Ecke und zog die Beine an sich. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er musste so Stunden verharrt haben. Schließlich war er eingeschlafen. Als er erwachte, hatte er schrecklichen Hunger, obwohl ihm gar nicht danach war.
Er fingerte einzelne Nougat Bits aus der Packung und stopfte sie sich eine nach der anderen hinein. Ohne zu kauen würgte er sie runter.
Immer noch hatte er keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Er konnte es keinem erzählen. Aber handeln konnte er auch nicht. Bis Ende der Woche würde er warten. Wenn Mutter heimkäme, würde er es ihr vielleicht doch sagen.
Bis dahin konnte er sich die Zeit mit fernglotzen vertreiben. Falls er eventuell auf Nachrichten stieße, die irgendwelche Umstände mit ihm in Verbindung brachten, wollte er dies lieber unterlassen. Also doch wieder God of War.
Rene verbannte Handy und Icewatch in seinem Schrank. Er sperrte diesen ab als könnten diese unvermittelt aus dem Schrank herauskommen und ihm die Uhrzeit vorhalten.
Er verlor sich total im Spiel. Er schlachtete Monsterhorden und erfüllte jedes einzelne Nebenquest. Dabei suchte er jeden einzelnen Winkel in der virtuellen Welt ab, wie wenn er dort eine Antwort auf sich und die reale Welt finden könnte.
Irgendwann musste es so kommen: die Playstation erstarb. Und ließ sich auch nicht wieder einschalten.
Mental betätigte er vorsichtig den Schalter: Klick! Nun wagte er doch zum ersten Mal seit den jüngsten Vorfällen wieder einen Blick vom Fenster aus auf die Dorfstraße. Natürlich war keine Menschenseele zu sehen. Schließlich war es gerade erst Tag auf seinen "Befehl" hin. Wie lange war es überhaupt Nacht gewesen? Und wie oft hatte seine Mutter ihn wohl vergeblich versucht anzurufen?
Rene strich sich über seinen spärlichen Vollbart, der sich wie eine verdorrte Distellandschaft anfühlte.
Gut, dass sie sich wenigstens seit sie hier lebten wie eine Maus im Hintergrund versteckt gehalten hatte. Somit würde keiner bei ihm anläuten.
Er beschloss, sich erst mal wieder hinzulegen. Am nächsten Tag würde er dann wohl zum Arzt gehen. Falls der überhaupt offen hätte. Wann der überhaupt offen hätte.