Klavierspielen
Wenn du Milliarden von Euro auf der Bank liegen hast, und dir ein einziger Euro davon abgezogen wird, würdest du es überhaupt bemerken? Wahrscheinlich nicht. In Deutschland leben etwa Dreiundachtzig Millionen Menschen. Acht Milliarden sind es auf der Welt. Und der Verlust von nur einem Menschen verändert dein ganzes Leben. So war es auf jeden Fall bei mir. Nichts ist mehr dasselbe ohne Mama. Mein Lieblingsessen schmeckt einfach nur blöd. Den Song, den ich schon seit Jahren rauf und runter hörte, finde ich blöd. Mein liebstes Hobby, das Klavierspielen, macht keinen Spaß, ist halt blöd.
Wenn du in deine Heimatstadt wiederkommst, wirst du höchstwahrscheinlich enttäuscht. So ist es gerade auf jeden Fall bei mir. Damals waren hier überall Bäume und Büsche im saftigen grün, jetzt nur noch komisches Gestrüpp. Wo früher glückliche Menschen stolzierten, gehen nun unfreundliche Gesichter entlang. Die Spielplätze, die früher gefüllt waren mit kindlichen Gelächtern, ... da weiß ich nicht was ist. Da gehe ich nicht entlang.
Am liebsten würde ich im Bett bleiben, jeden Tag, ganzen Tag. Einfach durch TikTok oder Instagram scrollen, oder aus der riesigen Auswahl der Streaming-Dienste irgend einen Film anwerfen. Von mir aus sogar das Fernsehen. Mir ist alles lieb, solange mein Kopf nicht in der Lage ist selbst zu arbeiten. Denn wenn er es tut, reicht ihm schon nur eine Millisekunde aus um Gedanken zu fabrizieren, und das ist blöd. Ich will nicht denken. Wenn ich denke, dann vermisse ich. Und etwas zu vermissen, was nicht wiederkommen kann, ist sinnlos, tut weh und ist somit blöd. Deswegen habe ich Tunnel erbaut, tief in meinem Inneren. Dort verstaue ich das ganze Zeug und begrabe es. Bloß blöd, dass mein Kopf es ausbuddeln will, sobald ich denke. Also denke ich nicht.
Außer jetzt, jetzt denke ich an Mama. In meiner Brust brodeln Gewitter und aus meinen Augen kommen sie heraus. Brennend und schmerzend, als wären es Tränen aus Lava. Jemand zieht an meinem Herzen, versucht es in Stücke zu reißen. Ist dieser Jemand meine Trauer? Ich überlege umzudrehen. Ich will nicht auf den Friedhof. Das ertrage ich nicht. Lange kann ich der Trauer nicht mehr entgegen kämpfen, dann ist mein Herz nur noch ein Stück Fetzen.
Wenn du schon traurig und vollkommen aufgelöst am Grab deiner Mutter ankommst, dann lässt dich höchstwahrscheinlich alles kalt. So, ist es bei mir aber nicht. Denn trotz der ganzen Tränen entdecken meine Augen Papa dort stehen. Plötzlich überrumpelt mich ein Heimatgefühl, und ich werde wieder zum Kind, während ich mich in seine Arme stürze. Sie umschlingen mich und drücken mich an seine Brust. Ich schluchze. Er schluchzt. Wir schluchzen zusammen. Meine Tränen sind nicht schmerzhaft, wie noch vor wenigen Minuten, eher fühlen sie sich an wie ein langersehnter Regen. Ich verspüre ein warmes Gefühl, welches sich überall in meinem Körper ausbreitet. Gleich werden wir zu Papa in die Wohnung gehen, seinen hausgemachten Kuchen essen, Kaffee trinken, Fotoalben durchblättern und über Mama reden. So viele schöne Erinnerungen. Und dann, dann spiele ich ihm auf dem Klavier was vor, das mag er doch so gerne.