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Kinder
Andrea zieht ihren Mund zusammen und, ohne dass sie es merkt, spannt sie auch ihre Kiefermuskeln an. Ihre Augen sind fest auf den Gang und die Menschen darin gerichtet; ihr Gesicht eine Mauer, die ihre Emotionen verbergen soll. Dann setzt sie sich auf das kalte Holz. Aus ihren Augenwinkeln spürt sie die Blicke. Von draußen dringt Getuschel in den Saal, doch ihre Aufmerksamkeit liegt auf dem noch leeren Stuhl in der Mitte des Raumes.
Eigentlich hat sie nicht kommen wollen, doch Peter ist bei der Arbeit gewesen, Simon im Kindergarten, Anne in der Schule, also niemand, der sie davon abgehalten hat und plötzlich ist alles in ihr hochgekommen. Sie hat einfach kommen müssen und, weil sie glaubt, Menschen schnell und gut einschätzen zu können, wollte sie sehen, wer er ist.
Er hat ein Messer gehabt und ist im gleichen Alter wie ihr Sohn damals. Das ist alles, was sie über ihn weiß. Und, dass sie ihn hasst.
Warum es geschehen ist, hat sie bisher nicht interessiert. Ein Streit, Beschuldigungen, Beleidigungen und dann ist es passiert, haben die Polizisten gesagt. Zugehört hat sie, war aber gedanklich weit entfernt. Alles ist viel zu schnell gegangen.
Ihre Gedanken sind dabei immer nur um eines gekreist. Ihren Sohn. Ihren toten Sohn.
Als er noch ein Kind war, sind sie mit der Familie essen gegangen und als sie das Restaurant verließen und ihnen auf dem Parkplatz junge Eltern mit einem Mädchen entgegenkamen, umarmte er es einfach. Dieses fremde Mädchen, das er nie zuvor gesehen hat! Alle lachten freundlich und sie wusste damals, dass er ein wunderbarer Mensch werden würde. Mit jedem hat er sich unterhalten können, es hat ihm Spaß gemacht, Fremde nach dem Weg zu fragen, und wenn er etwas erzählt hat, hörte ihm jeder interessiert zu.
Als sie im Juni bei einem See gewesen waren, hat er sich die höchste Stelle gesucht, von der man springen kann, und hat genau darauf geachtet, dass auch alle ihm zusehen, ist gesprungen und hat sich so über die Aufmerksamkeit gefreut, dass sie gedacht hat, aufpassen zu müssen, dass er nicht zu eitel wird. Heute vermisst sie das Glitzern in seinen Augen, wenn er gemerkt hat, dass man ihm zuhört oder zuschaut und trotzdem hält sie ihre Erziehung für richtig.
Mit ihren feinen Anzügen treten sie ein, alle mit ernstem Blick, Ordnern und Papieren unterm Arm. Die Anwälte und Beamten setzen sich und sortieren ihre Unterlagen, während sie sich umschaut und einen weiteren Zuschauer entdeckt. Er ist klein, hat schütteres, aber gepflegtes Haar, und trägt einen perfekt sitzenden Businessanzug. Sein Blick ist leer, die Miene emotionslos. Das muss der Vater sein, denkt sie. Flink tippt er auf seinem Handy. Was ist nur wichtiger als die Anklage seines Sohnes?
Da schaut der Vater von seinem Bildschirm auf; Justizbeamte führen seinen angeklagten Sohn zu seinem Platz.
Langsam setzt er sich hin, knetet seine Hände und hebt schüchtern seinen Blick. Sie weiß nicht, wen sie erwartet hat, vielleicht jemanden mit breiten Schultern, kurzgeschorenem Haar, Tätowierungen, der den Richter beleidigt, aber der Mensch, der ihren Sohn umgebracht hat, ist noch ein Kind, denkt sie. Sein Gesicht ist matt und er sieht mitgenommen aus, als wäre er krank.
Einer der Männer, wahrscheinlich der Richter, ergreift das Wort, aber sie hört nicht hin. In ihr ist alles still. Alle ihre Gedanken sind bei diesem Jungen. Mitleiderregend und freundlich sieht er aus. Die Vorstellung, dass dieses Kind ihren Sohn mit einem Messer erstochen hat, erscheint ihr nicht wirklich. Wie konnte es passieren?
Er bewegt sich langsam, hört zu, sagt nichts, schaut ab und zu unruhig auf seinen Verteidiger. Er gehört hier nicht hin. Und doch erkennt sie etwas in ihm. Versteckt, aber lebendig. Es ist Wut. Nicht die typische Wut eines Kindes oder Teenagers, sondern die Wut eines Erwachsenen. Tief unter seinen müden Augen, den trockenen Lippen und der fleckigen Haut steckt sie. Brodelnd, aber gezügelt. Kurz blitzt sie auf, zeigt sich durch einen Blick auf den argumentierenden Staatsanwalt, nur um dann wieder zu verschwinden, aber sie ist da. Wie kann man so jung schon so etwas in sich tragen. Woher kommt das?
Zeugen werden in den Saal gebracht, gemeinsam vereidigt und dann nach und nach angehört. Sie alle vermeiden es den Angeklagten anzusehen und richten stattdessen ihren Blick auf den Richter. Andrea ist nicht konzentriert, hört Worte und Stimmen, versteht sie aber nicht. Wie betäubt sitzt sie da. Wie sachlich und nüchtern hier über den Tod ihres Jungen geredet wird, erschüttert sie, aber das war der Grund, warum sie nicht kommen hätte sollen. Das wusste sie. Sie wollte nur sehen, wer ihn umgebracht hat, wen sie hassen darf und wer er ist, aber dieses Kind, das dort so fehl am Platz aussieht, kann sie nicht hassen.
Ja, er tut ihr sogar leid. Als eine Lehrerin von ihm gefragt wird, ob er sich irgendwie auffällig oder aggressiv verhalten habe, erklärt sie, dass er zwar Wutausbrüche und aggressive Tendenzen gehabt habe, oft unzufrieden gewirkt habe, aber meistens friedlich, sehr stil war. Ein paar Mal habe sie versucht mit ihm zu sprechen, da sie wusste, dass seine Eltern geschieden waren, er Einzelkind war und sein Vater oft nicht zuhause, vorsichtig sah sie zum Vater auf der Zuschauerbank, doch dieser blickte nur traurig auf den Boden, doch er habe sich gewehrt und gesagt, dass alles in Ordnung sei. Auch habe sie versucht mit seiner Familie zu reden und Probleme zu besprechen, doch solche Gespräche wurden immer kurzfristig abgesagt. Er sei ein unauffälliger Schüler gewesen, fügt sie noch hinzu, vielleicht als Rechtfertigung, dann wird sie aus dem Zeugenstand entlassen.
Ein weiterer Zeuge, diesmal ein Junge, ein Freund des Angeklagten, erzählt von seinen Unauffälligkeiten. Er erzählt, dass er oft alleine zuhause gewesen wäre, da sein Vater lange arbeitete, dass er zwar Probleme mit dem Unterrichtsstoff gehabt habe, aber trotzdem irgendwie es immer geschafft hätte. Er sei ein guter Freund gewesen, auf den man sich immer verlassen konnte, sagt er und für einen Moment vergisst Andrea, was er getan hat. Sie stellt sich einen Jungen vor, dem morgens die Au Pair Frühstück machte, während der Vater schon wach und unterwegs war, der dann nach der Schule aber alleine das Haus öffnete, sich Essen machte, dann Hausaufgaben machte, bis es Zeit war, sich Essen zu bestellen, irgendwo dazwischen eine WhatsApp vom Vater, ob alles in Ordnung sei, der dann aber alleine schlafen ging, nur spät abends nochmal geweckt wurde, von der Garage, als der Vater wiederkommt.
Als der letzte Zeuge befragt ist, wird ein Projektor angeschaltet und eine Leinwand ausgefahren. Flackernd ergibt sich eine unscharfe Aufnahme in einem Gang. Dem Gang. Sie erkennt ihren Sohn mit seiner roten Jacke, die er so oft trug, weil er so gut darin aussah, und seinem Rucksack. Da tritt ein dünner Junge, aber mit einem langen Messer ins Bild.
Da sieht sie weg. Ihre Augen sind so wässrig, dass sie sowieso nichts mehr erkennen könnte. Sie versucht kein Aufsehen zu erregen, nicht laut aufzuweinen, ihr Gesicht zu halten, stellt sich vor, es wäre aus Stein, doch ihre Gefühle schmelzen es und während ihr Sohn auf der Leinwand erstochen wird, irgendwann reglos am Rande des Bildes liegt, kann sie nicht mehr anders und beginnt zu weinen.
Die Trauer um ihren Sohn, der Schmerz, der Verlust, nichts anderes existiert. Es ist ihr egal, dass man sie so sieht.
Von irgendwo nimmt sie Taschentücher entgegen und wischt sich die Tränen vom Gesicht, hört auf zu weinen, doch vor ihr ist noch alles glasig. Und noch während sie ihr Gesicht trocknet und sich ihre Augen reibt, hört sie plötzlich eine Stimme, voller Tränen.
“Wieso hast du das getan?“
Mit roten Augen, aufgelöster Miene, Entsetzen und Trauer in der Stimme, sieht der Mann neben ihr, seinen Sohn an. “Wieso?“
Plötzlich ist der Saal ganz still, nichts bewegt sich und Andrea merkt, dass sie ihren Atem anhält.
Langsam dreht sich der Sohn zur Zuschauerbank. Sein Blick liegt nur einen Augenblick auf Andrea, aber Reue und Mitleid zeigen sich darin. Dann sieht er seinen Vater an.
Sein Blick wird wieder hart und mit zitternder Stimme antwortet er ihm. “Was glaubst du denn, warum ich es getan habe? Denkst du ich wollte das tun? Selbst wenn ich versuchen würde es dir zu erklären, du würdest es ja doch nicht verstehen.“
Vater und Sohn sehen sich beide wütend an und alle anderen hören gebannt zu. Eine Träne fällt dem Jungen vom Gesicht. “Du hast dich nie für mich interessiert, hast nie nach mir gefragt. Das ist die erste ehrliche Frage von dir, aber du kennst mich nicht mal. Ich bin dir so fremd, wie du mir. Ich war dir immer egal und deswegen, gehe ich dich nichts an! Ich weiß nicht mal warum du hier bist!“
Die Worte treffen den Vater hart. Er wendet sein Gesicht ab, kann seinem Sohn bei diesen zornigen Worten nicht in die Augen sehen. Er blickt zu Boden und erinnert sehr an den Sohn, der bei der Verlesung der Anklage, genauso ausgesehen hat, denkt Andrea. Sein Vater bedeutet ihm nichts.
Nach dem Mord sind ihre Selbstvorwürfe immer stärker geworden. Sie hat sich für ihre Strenge gehasst, hat bereut ihm nicht noch mehr Wünsche erfüllt zu haben, mehr erlaubt zu haben, obwohl Peter ihren Erziehungsstil oft genug kritisiert hat. Es ist ihr eben wichtig gewesen, dass ihre Kinder gute Menschen werden. Sie ist für sie da gewesen, hat sich Zeit für sie genommen und, wenn nötig gemacht, oft ein ernstes Wort mit ihnen gesprochen und ihnen Aufmerksamkeit geschenkt. Kinder durften nicht verwöhnt, nicht im Stich gelassen und nicht ignoriert werden, sondern erzogen werden und beigebracht bekommen, was Liebe ist. Manche taten das, andere nicht.
Die Wut und der Hass auf dieses Kind verblassen plötzlich. Dieser Junge hat ihre Wut nicht verdient. Ihre Wut gilt jetzt jemand anderem.