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Kann ich Brötchen kaufen, bitte?
Emma hält die Augen fest geschlossen, gibt sich den Irrlichtern ihrer Träume hin. Szenen wechseln. Sie rennt durch Straßenschluchten. Der Himmel wirkt, als klebten die Häuserfluchten an ihm. Ihre Schritte hallen über den Asphalt. Sie erkennt weit und breit keinen Menschen, kein Tier, strebt einer Feuersonne entgegen, die alles in sich aufsaugt. Dann dreht sie sich um, tanzt im Rhythmus von Ballsaalmusik, spürt Wellen, die an einem Kreuzfahrtschiff anbranden. Ihre Schuhe klackern über Parkettboden, Meeresparfüm umweht sie. Wo Emma sich auch hinbewegt, öffnet sich eine Schneise. Die Menge weicht zurück, bis sie vor ihren festtagsgewandeten Eltern steht. Sie betrachtet ihren Vater, glaubt, auf der Regenbogenhaut die Korallen- und Fischwelt zu erkennen, die unter dem Schiff vorbeigleitet. Sterne übersäen das Gesicht ihrer Mutter, verwandeln sich in das Löwenwappen ihrer Dienstbehörde. Emma tritt zu ihnen, will die Eltern fest an sich drücken, als sie ein Geräusch wahrnimmt, ein Brausen, das in ihr Bewusstsein vordringt, den Bildern ihren Platz raubt. Das Smartphone vibriert, wütet über die Holzfläche des Nachttisches. Sie greift es und öffnet die Augen einen Spalt weit, erkennt die Nummer der Dienststelle, schnauft durch und drückt auf den grünen Kreis mit dem Telefonhörer. Die Glasoberfläche fühlt sich kalt an.
„Ja?“
„Einsatz! Sofort!“
„Wo?“
„Im Riedfeld. Da randaliert einer von denen aus der Einrichtung vor der Bäckerei. Magda Niedmeier hat angerufen.“
„Die alte Niedmeier?“
„Ja.“
„Bin schon unterwegs.“
„Paul ist gerade losgefahren. Du triffst ihn vor Ort. Für Ruhe sorgen, durchgreifen, Personalien aufnehmen, klar, Emma?!“
„So was von, Chef!“
Während Emma mit ihrem Chef telefoniert, streift sie sich die Hose über und schlüpft ins Hemd. Sie beendet das Gespräch. Ihre Haare fühlen sich klebrig an, feucht von der Nacht. Wirklichkeit schlägt Emma entgegen, Erinnerungen lösen sich aus dem Nebel. An Max, der ihr mit geilem Grinsen sagte, dass er sie nicht mehr treffen könne. Es wäre zu kompliziert, auch wegen ihrer Schichtdienste. Dabei hatte sie ihn gesehen, Hand in Hand mit einem Püppchen. An die Mitteilung des Regierungspräsidiums, dass sie erst im nächsten Jahr ein Studium an der Akademie beginnen, in den höheren Dienst aufsteigen könne.
Sie riecht den Traumschweiß, die Pizzareste des gestrigen Abends, beseitigt den schalen Geschmack im Mund, indem sie etwas Zahnpasta auf den Zähnen verteilt. Die Wochenendbereitschaft war ihr gerade recht gekommen. Emma öffnet das Fenster, vollständig bekleidet, bereit. Sie bemerkt einen Tautropfen auf den Blättern des Rhododendrons vor dem Haus, der zu Boden fällt. Eine Krähe fliegt auf das Dach des Nachbarhauses, Amseln zwitschern. Sie schnallt das Halfter um, prüft den Verschluss, steigt in die Stiefel, zieht den Gürtel fest und geht los. Emma stellt sich die Brezeln, Brötchen, den Kuchen, all die Köstlichkeiten vor, die der Vater von den Niedmeiers mitbrachte, die Tüten, die er auf den Tisch legte, das Familienglück, den Höhepunkt des Sonntags, einleitete. Der Motor des Autos heult auf, weil das Automatikgetriebe erst mit Zögern hochschaltet.
Jamals Kopf brennt. Er kann die Dämonen nicht verscheuchen, findet keinen Schlaf, weil er Tamina im Sinn hat, sich ihre Zimtstimme, die Sternenaugen, die Seidenhaut vorstellt. Er trägt ihr Geschenk am Handgelenk. Die Farbe des Bändchens verbleicht. Manchmal berührt er es, hofft, dass sich eine geheime Tür öffnet und sie gerade in diesem Augenblick an ihn denken muss. Seit er hier angekommen ist, wartet er auf seine Braut, sein Ein und Alles.
„Es ist besser, Du vergisst Tamina. Inschallah findest Du eine Andere.“ Die Worte seines Cousins Mohammed, das, was er ihm heute am Telefon gesagt hatte, die Andeutungen, trafen ihn wie ein Steinhagel, der vom Himmel fällt. Er überlegt, wer ihm Tamina wegnehmen will. Jaqub kommt ihm in den Sinn, ein Schwein, das sich an die hübschesten Mädchen ranmacht. Jamal hasst ihn, sein Blut kocht hoch, wenn er daran denkt, dass das Arschloch Taminas Haut berührt. Er öffnet das Fenster, sucht nach Zeichen, findet keine. Tamina meldet sich seit Tagen nicht bei ihm.
Zeit fürs Gebet. Jamal rollt den Teppich aus, wäscht sich, dreimal Mund, dreimal Nase, Hände, Arme, Gesicht, Nacken, hinter den Ohren, in ihnen, schrubbt die Haut sorgfältig. Das Wasser fühlt sich frisch an, kühl, er reibt sich Körnchen aus den Augenwinkeln, trocknet sich ab. Er muss die Handtücher waschen. Dann beugt er die Knie, flüstert heilige Worte. Allah beachtet ihn nicht, vielleicht weiß er nicht einmal, wer Jamal ist. Gott schweigt, obwohl er sich fürchtet, den Hoffnungsbergen ausgeliefert ist, inbrünstiger betet. Jamal legt sich hin, zieht die Decke über den Kopf, lauscht in die Nacht, hört Ahmed nebenan atmen, Musik aus einem weiter entfernten Zimmer, leise Rhythmen, und döst so lange, bis draußen das Wutgeschrei ertönt. Jamal nennt sie Nachtwölfe, Nebelschakale. Sie kriechen aus ihren Verstecken, Kapuzenleute, mit Fackeln und Taschenlampen in den Händen, die sich vor das Heim stellen, ihre Stimmen gegen die Mauern peitschen, wütend, aufgebracht klingen, Sprüche an die Mauer schreiben, englisch, damit jeder die Botschaft versteht: Go home where you belong, Germans first, und so weiter.
Jamal geht über den Flur zum Aufenthaltsraum, trifft dort den Heimleiter Werner. Malik steht bei ihm, senkt den Blick, die Fäuste in den Hosentaschen versteckt.
„Es reicht. Ich ruf die Leute zusammen. Dann gehen wir raus und reden mit den Arschlöchern“, sagt Malik und stellt sich breitbeinig vor den Heimleiter.
„Reden?“, sagt Werner, sitzt am Tisch und schaut zur Deckenlampe, wo eine Motte sich nach Licht sehnt und gegen das Glas schlägt.
„Ja.“
Werner fixiert Malik: „Das gibt bloß Ärger. Ich ruf die Polizei!“
„Lass mal, wir können das alleine regeln“, sagt Malik.
Jamal lehnt am Türrahmen und sagt: „Er hat Recht, das geht so nicht weiter mit den Nachtwölfen da draußen.“ Die beiden schaeuen ihn an.
„Schluss jetzt, Leute, ich ruf die Polizei, kapiert. So regeln wir das in Deutschland, gewöhnt euch besser schnell dran!“ „Du kapierst echt gar nichts. Sich anspucken lassen und schweigen, das sind eure Gesetze“, flüstert Jamal und wendet sich ab.
„Du verstehst gar nichts“, ruft ihm Werner hinterher.
Jamals Schritte quietschen auf dem Linoleumboden, es gibt nichts mehr zu sagen. Er schließt das Zimmer hinter sich und legt sich mitsamt den Neon-Nikes auf die Decke, rollt sich ein, will die Dämonengedanken vertreiben, schweigen, an Tamina denken, träumen und beten und warten und warten und warten.
Die Dämmerung setzt ein, Schatten, Farben lösen sich. Jamal verlässt das Haus. Die Brötchen der Dorfbäckerei riechen nach Heimat und kosten dreißig Cent das Stück. Er füllt die Lungen mit Morgenluft, nimmt die Stille wahr, die sich über die Träume der Menschen gelegt hat, nimmt den Weg um die Siedlung herum, begegnet keinem, muss niemanden anlächeln.
Von weitem sieht er die alte Bäckersfrau, ihren gekrümmten Rücken, die Schneehaare, hinter der Theke. Sie redet nicht gern mit Fremden, das spürt er. Jamal wagt es nicht, sie zu fragen, wovor sie sich fürchtet. Die Tür steht einen Spaltbreit offen. Er betritt den Laden, saugt den Duft der frisch gebackenen Brötchen auf. Die Wärme des Ofens dringt in seine Haut ein, er erinnert sich an zu Hause, wenn alle zusammensaßen, kauten, Krümel auf dem Tisch liegen und das Haus mit Lachen und Geplapper fütterten. Die alte Frau fegt die Auslage, dann fallen die Brötchen krachend in den Kasten und formen einen goldglänzenden Haufen. Sie schaut in die andere Richtung, als wünschte sie sich, dass Jamal sich in Luft auflöse. Er zieht den Kopf ein, federt die Schritte ab, als wäre er gar nicht hier. Nach einer Weile hält er es nicht mehr aus und nähert sich der Theke. Die Stirn der alten Frau glänzt.
„Entschuldigung.“ Die alte Frau reagiert nicht.
„Kann ich bitte Brötchen kaufen?“ Jamals Stimme vibriert. Die alte Frau wendet den Kopf:„Wir haben geschlossen!“, ruft sie ihm entgegen, dreht sich weg und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Kann ich Brötchen kaufen, bitte?“, sagt Jamal. Er zeigt auf die Auslage.
„Bitte verlassen Sie die Bäckerei!“, sagt sie.
Er tritt einen Schritt näher, presst die Lippen zusammen, er fuchtelt mit den Armen: „Bitte, Brötchen, drei Stück!“, schreit er.
Die alte Frau fährt sich durch die Haare, dreht sich zur Backstube um: „Hermann, kannst du bitte kommen?“, sagt sie.
Jamal steht da, sprungbereit, hört Geräusche aus dem Nebenraum. Eine Tür öffnet sich, mehr Backstubenduft weht in den Laden. Hermann trägt weiß, ein Häubchen bedeckt den Kopf, schaut ihn an.
„Der Herr will Brötchen kaufen, obwohl wir geschlossen haben“, sagt die alte Frau und zeigt auf Jamal.
Hermann stemmt die Hände in die Hüften und sagt: „Raus hier, sofort! Wir haben geschlossen!“
„Drei Brötchen, bitte!“
„Raus habe ich gesagt, verstanden? Vor Ladenöffnung gibt’s keine Brötchen. Wo kommen wir da hin?“
Jamal zögert, tritt von einem Bein auf das andere, die Gesichtsmuskeln zucken. Die Tür erzittert, als er sie zuschlägt.
Draußen weht Eiswind von den Wäldern her. Jamal geht ein paar Schritte und setzt sich auf das Bänkchen gegenüber der Bäckerei, das zwischen zwei Kastanienbäumen steht. In den Baumkronen glaubt Jamal Schatten zu erkennen, vielleicht Engel, Feen, Märchengestalten, die ihn beobachten. Jamal zieht die Jacke fest an sich, spielt mit dem Bändchen am Handgelenk, formt im Gedanken Worte, Gebete, ohne sich von dem Kloß zu befreien, den er in sich trägt. Später schließt er die Augen, spürt, wie das Holz, auf dem er sitzt, wärmer wird, wartet, hört den Vögeln und den Stimmen zu, die er in sich versammelt hat, den Kinderlandschaften seiner Erinnerungen, und vergisst die Kälte, die stockende Zeit.
Schritte knirschen über den Asphalt. Eine Gestalt nähert sich dem Laden, huscht gemächlich im Morgendunst durch Jamals Blickfeld. Die Tür der Bäckerei öffnet sich, die Schatten hantieren, gestikulieren, kurz hält die Nebelfigur Tüten in den Händen und schleicht zum Dorf. Jamal schaut ihr hinterher, spannt den Körper, stemmt sich von der Bank hoch und springt wie eine Katze los, in der Faust einen der Pflastersteine, die vor dem Bänkchen verstreut sind. Er schlägt gegen die Ladentür, presst die Kehllaute der Heimat aus sich heraus, schreit. Hermann kommt zur Tür, zeigt ihm das Wolfsgebiss, verriegelt das Schloss und verschwindet in der Backstube. Jamal schaut durch das Fenster. Durch die Ritzen riecht er den Goldbrötchenduft, vor seinen Augen liegt bereit, was er begehrt. Drei Brötchen will er, mehr nicht. Der metallene Knauf gibt nicht nach, das Glas zittert, als er an der Tür rüttelt. Also schlägt er mit dem Pflasterstein gegen die Fläche. Ein Splitterteppich entsteht, zerbrochene Glasstückchen, die aneinander kleben bleiben, den Blick nach innen verwehren. Er schlägt weiter und weiter, ohne Ergebnis, rennt zum Bänkchen zurück, um sich mit mehr Steinen zu bewaffnen, bombardiert den Laden. Mehr Bruchflächen bilden sich. Er sammelt die Geschosse ein, wirft erneut. In den umliegenden Häusern werden Lichter angeknipst, Gesichter zeigen sich an den Fenstern. Jamal läuft auf und ab, kann nicht stehen bleiben, wie ein Vulkan, auf dem sich eine Erdspalte öffnet, damit das Magma entweicht. Er hebt die Arme zum Himmel, fühlt sich befreit, stark, als hätte er lange auf diesen Moment gewartet.
Emma erreicht den Dorfplatz, ihre Blicke irren über die Szenerie. Der Morgen trägt ein Nebelkleid. Das Blaulicht auf Pauls Wagen vor der Bäckerei blinkt. Rufe schallen zu ihr. Fliedergeruch und Abwasserfäulnis dringen in ihre Nase. Vor einer verwüsteten Ladenfront stehen sich zwei Männer gegenüber, einer in Uniform, Paul, großgewachsen, dichter Vollbart, breite Schultern, der andere ein Olivenhautkerl in Neon-Turnschuhen, wild gestikulierend, einen Stein in der Hand. Sie bemerkt Anwohner, die an Hauseingängen warten oder hinter Fenstern versteckt, das Geschehen beobachten. Sie beschleunigt ihre Schritte, nähert sich. Als sie die beiden erreicht, hebt Paul den Arm, um den Kerl zu überwältigen, dreht sich ruckartig, dennoch nicht schnell genug. Eine steinbewehrte Faust trifft Pauls Gesicht, der auf die Knie sinkt. Emma handelt, wie sie es gelernt hat, gedankenentleert, automatisch, löst die Pistole aus dem Halfter und sagt: „Den Stein fallen lassen, die Hände hinter den Kopf!“
Der Feueraugenmann rührt sich nicht. Paul stöhnt, krümmt sich.
„Haben Sie mich verstanden? Legen Sie sofort den Stein auf den Boden und verschränken die Hände über dem Kopf!“
Jamal nickt, lächelt wirr, als registriere er erst jetzt, dass sie eine Frau ist, streicht über das Handgelenk, macht einen Schritt hin zu dem blutenden Paul, der sich aufrichtet, ein Bein des Mannes umfasst und mit der anderen die Pistole zieht. Der Mann reagiert schnell, stößt sein Knie gegen Pauls Hand. Die Pistole fällt zu Boden. Unterdessen hält Emma die Waffe mit beiden Händen fest, steht mit gespreizten Beinen vor dem Fremden und richtet sie auf ihn.
„Keine Bewegung mehr oder ich muss von der Schusswaffe Gebrauch machen!“
Keine Reaktion. Der Mann greift nach Pauls Pistole. Der Warnschuss peitscht über den Platz.
„Hände hoch, das ist meine letzte Warnung!“
Jamal reagiert nicht. Emma zielt auf ihn, umklammert sie fester, weiß, dass sie handeln muss. Das Drehbuch sieht nichts anderes vor. Dennoch zögert sie, Sekunden verstreichen. Paul nimmt ihr die Entscheidung ab, indem er sich auf ihn stürzen will, der aber sofort die Waffe auf ihn richtet, den Finger am Abzug. Ein Schuss löst sich. Jamals Kugel schlägt in der Bäckerei ein. Der nächste Schuss trifft Jamal aus der Nähe, durchschlägt seine Brust, Blut quillt aus der Wunde. Er lässt die Pistole los und stürzt zu Boden. Wie ein Feuerball, der vom Himmel fällt. Emma fühlt Jamals Blick auf sich lasten, kann nicht ausweichen, wartet, wartet, bis er bricht. Die Sehnsucht, die Verwunderung, die sich in seinen Augen spiegeln, wird sie ihren Schreckenserinnerungen, den Alpträumen beifügen. Sie senkt den Lauf der Waffe, spürt die Hitze, die von ihr ausgeht, zittert, schafft es gerade noch, sie wegzustecken, bevor sie sich an ihr verbrennt. Blut- und Stahlgeruch steigen empor, darüber hat sich Brötchenduft festgesetzt.