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Kaffeekränzchen mit Schuss
William Somerset Maugham
Nach dem Tod ihres Mannes hatte Gaby im Frühjahr den bescheidenen Bungalow gekauft, der an Bernds Grundstück angrenzt. Zunächst plauderten sie über den Staketenzaun. Im Laufe des Sommers hatten sie sich ein bisschen kennengelernt. Zu der Zeit, da unsere Geschichte anhebt, lud Sie ihn zu Schwarzwälder Kirschtorte und Kaffee ein, wenn die Wetterbedingungen eine sonntägliche Beschäftigung in ihrem jeweiligen Garten ausschlossen. Sie taufte ihren Treff: „Kränzchen“. Bernd, ehemaliger Lehrer, fand das Wort unpassend, denn jeder weiß, dass es eine Damenrunde bezeichnet, dennoch trug er im innersten Herzen einen kleinen Vorrat von Glück davon. Die ganze folgende Woche hindurch sah er die Welt mit wohlwollenderem Auge an und fand selbst an den gleichgültigsten Dingen ein unbestimmtes Vergnügen.
Am vorletzten Wochenende im September wechselten sich Regenschauer mit kurzen sonnigen Abschnitten ab.
Bei seiner Ankunft zeigt Gaby ihm ihre neueste Errungenschaft, eine Reklame-Blechdose aus den 1950er-Jahren, die sie auf einem Trödelmarkt ergattert hat. Sie besitzt eine ganze Sammlung davon, gut aufbewahrt in einem Glasschrank. Höflich bewundert er die Kostbarkeit: eine rechteckige Keksdose mit abgerundeten Ecken und der Aufschrift
Badener Kräbeli/A. Schnebli & Söhne/Baden/Schweiz.
Sie stellt das Objekt zurück in die Vitrine neben einer Tabatiere mit der Aufschrift Grimm & Triegel Nordhausen auf dem Deckel und sie vertraut ihm an:
„Diese hier ist mir sehr wichtig. Sie gehörte meinem Großvater. Für sein Schnupftabak. Meine Mutter hat den ersten Zahn, den ich verloren habe, drin aufbewahrt.“
Gaby merkt beim Einschenken des Kaffees, dass die Kuchengabeln und der Tortenheber in der Küche geblieben sind.
Die Vitrine ist offengeblieben. Bernd, jetzt allein im Wohnzimmer, zögert:
Man darf nicht in den Schränken anderer Leute herumstöbern. Ach was! Nur Narren sind nicht neugierig … An etwas Schande stirbt man nicht.
Bei seiner Erkundung wird er von einer Dose angezogen. Sie ist rund. Ihr Durchmesser beträgt etwa sieben Zentimeter. Maca ist in Großbuchstaben auf einem dunkelorangen Hintergrund zu lesen. Darunter steht: Wirkt sowohl auf Männer als auch auf Frauen ausgesprochen anregend.
Er lüpft den Deckel: rötliches, geruchfreies Pulver.
Gelegenheit macht Diebe, heißt es. Manchmal hört man auch, dass die Fantasie mit dem Alter nachlässt. Irrtum! in Bernds Kopf überschlagen sich die Ideen. Entschlossen den Zufall heute Nachmittag zu erzwingen, streut er eine Prise Maca in seine eigene Tasse. (Über siebzig wird alles schwierig; der beste Freund kann einen verraten.)
Das Klirren des Kuchenbestecks im Flur gelangt zu Bernds Hörgeräten, der sofort die Dose in seine Jackentasche verschwinden lässt.
Graupel trommelt aufs Dach. Im Kachelofen brennen ein paar Holzscheite. Ein süßer Geruch nach Kaffee und Kirschwasser füllt die Luft. Auf dem Couchtisch brennt eine Kerze. Das schwache Licht verwischt die Falten in Gabys Gesicht und zaubert glitzernde Pailletten in ihre Augen.
Eingangs tasten sie sich an gemeinsame Vorlieben heran, wie es kleine Kinder tun, die sich nicht kennen und sich vorsichtig an den Haaren berühren, bevor sie es wagen, einander ihre Spielsachen zu überlassen. Dann hebt sie ihre Tasse:
„Ewige Jugend, Bernd!“, prostet sie ihm zu.
„Ewige Jugend!“, antwortet er und führt die Tasse an seine Lippen.
Kaum hat er einen Schluck getrunken, färbt sich sein Gesicht violett. Er droht zu ersticken.
Gaby, die bereits befürchtet, dass ihr alter Freund einen Herz- oder Schlaganfall erleidet, versteht, worum es geht, als er ihr die kleine orangefarbene Dose überreicht und sie bittet, die 112 anzurufen.
„Aber Bernd“, sagt sie grienend, „hast du nicht das Etikett auf der Unterseite der Schachtel gelesen? C.F. Vogelsang Fest- und Scherzartikel, Hamburg. Das ist Chilipulver!“