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Jos Fenster (Gefühlvolle Schilderung)
Sie ist wieder da: ein geschmeidiger Schatten, der in einen Topf Gold gefallen ist. Wachsam streckt sie sich auf der Backsteinmauer auf der anderen Straßenseite. Bebende Schnurrhaare, das Sommerhimmelblau der Augen leuchtet bis zu ihm herüber.
Jo legt seinen Stift weg und lehnt sich nach vorne, um sie besser sehen zu können.
Sie ist zierlich, aber sie hat nichts von den mageren, struppigen Katzen des Viertels, die Jo sonst kennt. Ihr Fell sieht seidig glatt aus von hier drüben, dennoch trägt sie kein Halsband. Wem sie wohl gehört? Oder ist sie doch eine Straßenkatze, nur einfach schöner als die anderen?
Mit langsamen Schritten spaziert sie über die schmale Mauer, eine Pfote vor die andere setzend. Sie fixiert einen Punkt auf der anderen Seite, den Jo nicht sehen kann, aber er weiß, was sich dort befindet: das Fleckchen Park - ein bisschen dunkle Erde, die einmal Gras war -, in dem sie immer spielen.
Sie, das sind natürlich sie ohne Jo: Kevin und Hanna und Pitt und der ganze Rest.
Sie spielen Fangen, Cowboy und Indianer, Fußball, Himmel und Hölle. Nachmittags, wenn das Fenster geöffnet ist, damit er frische Luft zu seinen Hausaufgaben bekommt, trägt ein müder Wind ihre Stimmfetzen in Jos Zimmer hinein: ein Lachen und Kreischen, vor dem die Katze erschrecken müsste.
Aber jetzt ist dort niemand, es herrscht Stille, Jo weiß nicht, was die Katze dort sieht, was ihre Aufmerksamkeit so fesselt, dass sie innehält, sich zum Sprung duckt, jeden Muskel angespannt.
Jo schiebt den Mathestapel beiseite – den kann er auch noch später erledigen. Sozialkunde auch. Jetzt will er die Katze sehen, solange es geht, solange sie nicht auf die andere Seite der Mauer springt, wo sie sich seinem Blick entziehen wird.
Ihr Schwanz schwingt hin und her, dann plötzlich löst sie sich aus ihrer Starre, richtet sich auf und eilt weiter auf der Mauer entlang, in kleinen Schritten, aber so rasch, dass Jo sich schon sorgt, ob sie nicht fallen wird.
Aus dem Biologieunterricht weiß er, dass Katzen immer auf den Füßen landen. Aber sie wird gar nicht erst fallen, sie nicht. Jo stellt sich vor, so wie sie über diese schmale Mauer huschen zu können, jederzeit zum Absprung bereit, den er nur dann wagt, wenn es ihm gefällt. Ja, das wäre doch gut, denkt Jo.
Die Katze springt, zaudert nicht lange. Ihr Sprung ist bedacht und sicher. Wie ein Blitz, den man streicheln kann, denkt Jo und presst seine Nase an die Fensterscheibe. Sie ist am Fuße der Mauer gelandet – auf den Pfoten natürlich -, und zwar auf seiner Seite, auf dem Bürgersteig, als ob sie das nur für ihn macht, als ob sie ihm zeigen möchte, wie leicht das alles ist. Jo wirft einen kurzen Seitenblick auf seine Schulsachen.
Leicht? Nein, leicht ist das hier sicher nicht. Da hat sie es besser, da draußen, an der frischen Luft, wo sie springen und klettern und jagen kann.
Bestimmt ist es eine Katze, die jemandem gehört, kommt es Jo in den Sinn, und er öffnet vorsichtig das Fenster, aber sie lässt sich nichts sagen, kein Halsband anlegen und einsperren lässt sie sich schon gar nicht. Wenn sie will, dann geht sie. Ganz wie es ihr gefällt. Eine kluge und starke Katze. Mit erhobenem Kopf läuft sie nun über den Bürgersteig, schaut kurz zu ihm herüber – als ob sie ihn, den kleinen Blassling hinter dem Fenster wirklich bemerkt hätte! Jo möchte es nur zu gerne glauben –und setzt dann ihren Weg fort.
Sie ist so zart, so biegsam, so flink. Niemand wird sie hindern, ihr Leben zu leben.
Jo schiebt das Fenster ganz auf und beugt sich nach draußen, um sie nicht aus dem Blick zu verlieren. Unter seinem Ellbogen spürt er Papier knittern. Soll es doch, das doofe Mathezeug.
Die Katze wandert im Abendlicht. Sie scheint zu leuchten, aus sich heraus. Auf Pfoten, die kaum den Asphalt berühren, überquert sie die Straße.
Dann ist da dieses Auto, das um die Ecke jagt, viel zu schnell. Beim Heulen des Motors bleibt Jo fast das Herz stehen, und auch die Katze zuckt zusammen, zuckt und springt dann, Jo sieht es wie in Zeitlupe, ihr fliegender Körper, warm und bebend. Ein Sprung, der sie retten könnte, wenn irgendwer, Gott oder wer auch immer ihr nur einen Wimpernschlag mehr gäbe. So sieht Jo sie gegen die Stoßstange prallen, ein Geräusch hört er nicht, nur das Blut in seinen Ohren rauscht. Sie fliegt weiter, aber es ist kein Sprung mehr. Sie kommt auf, aber es ist keine Landung mehr. Es ist ein Aufprall von lebloser Masse.
Und das Auto jagt weiter, als wäre es nie da gewesen. Nur sie ist noch da. Sie liegt mit dem Rücken zu Jo, er kann ihre Augen nicht mehr sehen. Es dämmert langsam, sie leuchtet nicht mehr.
Jo starrt hinüber, er hat sich noch immer aus dem Fenster gelehnt. In seiner Kehle drückt etwas, nimmt ihm die Luft, und seine Finger finden das Lineal, umklammern es heftig, bis es sich in die Handflächen gräbt. Er fröstelt.
Hinausklettern, bei ihr sein, diesen kleinen Körper auflesen.
Jo schließt das Fenster.