In der U-Bahn
Mai 2021, München
Jonathan verspürte Nervosität, als er an diesem Morgen in die U-Bahn stieg. Seit die Situation in Nahost eskaliert war, wurden in Deutschland vermehrt Menschen jüdischen Glaubens und deren Synagogen angegriffen oder erhielten Hassnachrichten und Drohungen. Seine Schwester Rebecca hatte ihm deshalb verboten, die Kippa weiter in der Öffentlichkeit zu tragen. Doch Jonathan konnte und wollte sie nicht absetzen. Sie war doch ein Teil von ihm. Ein sehr bedeutender Teil. Dennoch hatte er sich an diesem Morgen für eine Kippa in einer ähnlichen Farbe wie seine Haarfarbe entschieden. So fiel er nicht allzu sehr auf.
Jonathan setzte sich auf einen freien Platz in der Ecke und fuhr fort, im Talmud zu lesen. Das tat er immer auf dem Weg zur Arbeit. Es gab ihm Kraft und Motivation für den Tag und er sah nicht ein, dass er das nun ändern sollte, nur weil einige Leute ein Problem mit seiner Identität hatten.
Im Augenwinkel sah Jonathan, wie sich jemand ihm gegenüber setzte. Er beachtete den Anderen nicht, sondern konzentrierte sich weiter auf sein Buch, auch als ihm auf einmal ein Tritt gegen sein Schienbein versetzt wurde.
„Hey du, Jude!“ Erneut ein Tritt.
Jonathan versuchte, den Mann zu ignorieren, aber er merkte, wie er schwitzte und sich Angst in ihm breit machte. Im Stillen hoffte er, dass jemand dazwischen gehen und man ihn in Ruhe lassen würde. Er tat doch niemandem etwas. Er wollte nur etwas Energie tanken, um dann fit und motiviert in den Alltag zu starten.
„Ich rede mit dir!“
Der Mann gab nicht so schnell auf. Und ehe sich Jonathan versah, hatte ihm sein Gegenüber den Talmud aus der Hand gerissen. Er blätterte ihn kurz durch und warf ihn dann verachtend in die Mitte der U-Bahn.
„Hat man dich vergessen, oder was?“
Jonathan schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Dabei klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Er wollte sich nicht wehren, wollte nicht sündigen, wenn er seinem Angreifer ärgerliche Worte an den Kopf warf. Außerdem wäre er in dieser Verfassung sowieso nicht in der Lage dazu gewesen.
Der junge Mann zuckte zusammen, als jemand seine starke Hand auf die Schulter seines Gegenübers warf. Vorsichtig sah er auf und erblickte einen südländisch aussehenden Mann mit schwarzen Haaren und dunklen Augen. Er hielt seinen Talmud in der Hand und bedeutete dem Angreifer mit einer strengen Kopfbewegung aufzustehen.
Widerwillig gehorchte der Mann und der kräftige Fremde half nach, schob ihn bei der nächsten Haltestelle aus der U-Bahn. Er setzte sich Jonathan gegenüber, reichte ihm den Talmud. „Alles okay?“
Jonathan nickte nur und umklammerte sein Buch.
„Wo steigst du aus?“, wollte der unbekannte Helfer wissen.
Jonathan sah ihn an. „Äh…Garching.“
Der Mann nickte. „Gut.“ Er setzte sich bequemer hin und faltete die Hände auf seinem Schoß zusammen.
Jonathan musterte ihn kurz und wandte sich wieder dem Lesen zu.
„Was liest du da?“, erkundigte sich der Andere.
„Den Talmud“, antwortete Jonathan knapp und hoffte dabei, dass der Mann nicht weiterfragte. Er wollte nicht mehr erklären. Die U-Bahn war voll und er hatte das Gefühl, dass ihn plötzlich jeder ansah. Er schämte sich. Für das, was er war. Für seine Kippa. Den Talmud in seiner Hand. Und dabei fühlte er sich schlecht. Er wusste, dass es falsch war, sich zu schämen. Sich selbst, seiner Gemeinde und vor allem Gott gegenüber. Gerade in Zeiten der Anfeindungen mussten sie sich zeigen. Nur so konnte man – vielleicht – den Antisemitismus wieder etwas ausbremsen. Indem man jüdische Symbole offen zeigte, freundlich war…und zeigte, dass man ebenso deutsch war wie alle anderen. Aber es war so schwierig und Jonathan hatte Angst. Diese Tipps waren gut und schön. Doch was halfen sie, wenn er allein in der überfüllten U-Bahn saß und niemand kam, der ihm im Falle einer Anfeindung half?
„Ist der Talmud bei euch so etwas wie bei uns der Koran?“, fragte sein Gegenüber da und Jonathan sah auf. Wie bitte? Sein Helfer war Muslim?
„Nein“, antwortete Jonathan, indem er sein Buch zuklappte und den Mann ansah. „Der Talmud lehrt uns, wie man sich im Leben richtig verhält. Darin enthalten sind zum Beispiel Speisevorschriften oder Erklärungen und Auslegungen der Gebote Gottes.“
„Klingt gut“, kam die Antwort. „Darf ich mal?“
Jonathan reichte dem Anderen seinen Talmud und der blätterte ihn kurz durch. Hier und da las er einige Zeilen und nickte dabei immer wieder. Schließlich gab er ihm das Buch zurück. „Klingt gut. Ich bin übrigens Rashid.“
Jonathan lächelte unter seiner Maske. „Jonathan. Danke übrigens für vorhin. Ich hatte richtig Angst.“
„Schon gut, ich hab das gern gemacht. Ich muss leider an der nächsten Station aussteigen. Kommst du zurecht?"
Jonathan nickte. „Danke.“
Sein Gegenüber erwiderte sein Nicken und stand auf. „Alles Gute! Und den nächsten Angriff würde ich sofort der Polizei melden. Wozu leben wir in einem Rechtsstaat?“ Er winkte Jonathan noch einmal und stieg aus.
Der junge Mann beobachtete, wie er zur Rolltreppe spazierte. Dann gingen die Türen zu und die U-Bahn setzte sich wieder in Bewegung.
Unfreundliche Blicke eines Paares neben ihm ließen Jonathan plötzlich wieder schwitzen. Im nächsten Augenblick standen die beiden auch schon auf und suchten sich einen anderen Platz.
Jonathan sah auf, als eine ältere Frau vor ihm stand. „Darf ich?“, fragte sie freundlich und zeigte dabei auf den Platz ihm gegenüber.
Jonathan nickte. „Bitte.“
„Danke.“ Die Frau setzte sich und nickte auf seine Kippa. „Schön, dass Sie die tragen“, meinte sie. „Das ist wichtig. Sie dürfen sich nicht einschüchtern lassen.“
Jonathan musterte die Frau und da sah er, dass sie Davidsstern-Ohrringe trug.
Die Frau schien seinen Blick bemerkt zu haben. „Nein, ich bin keine Jüdin“, sagte sie. „Aber ich bin gegen jegliche Art der Diskriminierung und trage diese Symbole quasi als Zeichen der Solidarität. Wissen Sie: Früher gehörte ich auch zu denen, die Synagogen beschmierten oder Kippa-Träger anpöbelten. Aber dann lernte ich in meiner Uni-Zeit zwei jüdische Mitstudenten kennen. Wir freundeten uns an. Sie wurden meine besten Freunde – und sind es noch. Deshalb ist mein Motto: Lerne den anderen kennen, bevor du ihn verurteilst. In den meisten Fällen wirst du sehen, dass dein Gegenüber ein ganz normaler Mensch wie jeder andere ist. Nachplappern ohne mitzudenken kann jeder. Aber sich zu öffnen und gegen Hass und Diskriminierung aufzustehen - damit zeigt man Größe. Und tut sich selbst und der Gesellschaft damit etwas Gutes. Meinen Sie nicht?“
Jonathan nickte verwirrt. „Doch.“ Und als er sich etwas gefasst hatte, fügte er hinzu: „Danke, dass Sie sich zu mir gesetzt und mir das erzählt haben. Das hat mich sehr ermutigt. Vorhin habe ich für einen Moment überlegt, meine Kippa abzunehmen und mit dem Talmud in meinem Rucksack zu verstecken. Aber nun… Ich denke, ich werde morgen wieder meine Kippa mit Davidsstern aufsetzen. Wenn sogar Sie unsere Symbole tragen…“
„Tun Sie das!“, erwiderte die Frau erfreut und machte Platz, als Jonathan sich erhob.
„Danke“, erwiderte der. „Ich muss jetzt leider aussteigen. Aber es hat mich sehr gefreut, Sie kennengelernt zu haben.“
„Ebenfalls, junger Mann.“ Die Frau winkte ihm und Jonathan trat aus der U-Bahn nach draußen. Ja, das Leben war wirklich zu kurz, um sich zu verstecken. Und wenn er es sich recht überlegte: Die meisten Menschen hasteten an ihm vorbei ohne sich ihn genauer anzusehen. Sie hatten kein Problem mit ihm. Das heute war eine Ausnahme. Eine traurige, aber dennoch: Es gab bestimmt noch mehr Leute da draußen, die Größe zeigten und aufstanden, wenn jemandem wie ihm Unrecht geschah. Die etwas unternahmen. Er würde seine Kippa jedenfalls weiterhin tragen. Und den Leuten mit seiner Freundlichkeit jeglichen Grund nehmen, ihn zu hassen.