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- 30.06.2004
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Ilkenland - Die Magie der Alten
Nie wieder würde ich zaubern.
Wenn nur das Pochen in meinem Schädel aufgehört hätte!
Wo war ich überhaupt?
Ich wälzte mich auf die Seite, öffnete mühsam meine Augen, die ganz verklebt waren vom Schlaf. Wenn es denn Schlaf gewesen war, und keine vollkommene Besinnungslosigkeit.
Verwirrt blinzelte ich in einen mir unbekannten Raum. Wände, Boden und Decke bestanden aus dunklen Holzbohlen, sorgfältig mit eisernen Beschlägen versehen. Eine Unmenge einfacher Lagerstätten lag auf dem Boden herum und über mir pendelten Dutzende von Hängematten. Alle waren leer. Jetzt erst bemerkte ich, dass es nicht mein gemarterter Kopf war, der mir das Schlingern und Stampfen vorgaukelte, sondern, dass sich der Raum tatsächlich bewegte. Ein überwältigender Gestank nach Kohle, Schmieröl, Fisch, Schweiß, Abfällen und Exkrementen füllte das Zimmer. Ich merkte, wie Übelkeit in mir hochstieg. Ich presste die Hand vor den Mund und sah mich verzweifelt um.
"Wenn du schon kotzen musst, dann tu's draußen, sonst darfst du's nachher wieder aufwischen!"
Die Stimme schreckte mich für einen Moment hoch und ich blickte in ein dunkles Gesicht, das irgendwo über mir schwebte.
"Ach du je, das ist ja wirklich dringend. Halt noch 'n Moment aus, ja?" Ich fühlte mich am Arm gepackt und eine Treppe hinauf geschleift. Licht und frische Luft überspülte mich, dann spürte ich, wie mein Kopf über eine Brüstung gedrückt wurde. Protestierend befreite sich mein Magen von dem Eintopf von gestern.
Ich würgte und spuckte bestimmt einige Minuten, bevor es mir zumindest einigermaßen besser ging. Ich richtete mich auf, meine Beine zitterten und rutschten langsam unter mir weg. Mit dem Rücken gegen die Brüstung gelehnt blieb ich sitzen, und begann langsam, die Umgebung wahr zu nehmen.
Natürlich, ein Schiff. Ich saß auf Deck und blickte zu dem qualmenden Schornstein auf, bemerkte auch noch die große Kajüte und das Steuerrad, bevor mir wieder schlecht wurde. Erneut beglückte ich das Meer mit meinem nun nur noch spärlich vorhandenen Mageninhalt.
"'N richtiger Seemann biste ja nich' gerade, was?" Die Stimme von eben. Ich spuckte noch mal ins Wasser, wischte meinen Mund an meinem Ärmel ab und drehte mich um, um die dazu gehörige Person endlich einmal in Augenschein zu nehmen. Es war ein riesiger Mann, bestimmt zwei Köpfe größer als ich und ziemlich breitschultrig. Sein Gesicht war sehr dunkel, fast schon schwarz verbrannt von der Sonne. Seine hellblonden Haare hatte er sehr kurz geschnitten. Eine Brandnarbe zierte seine linke Wange. Sklave, dachte ich.
"Wie bin ich hierher gekommen?" Ich wunderte mich, dass ich die Worte überhaupt über die Lippen bekam. Aber schließlich war dies meine dringendste Frage. Ich hatte eine dunkle Erinnerung daran, mich gestern aus der Schule geschlichen zu haben, um mich in der "Windmühle" besinnungslos zu trinken. Alles nur wegen...
"Werber, würd' ich sagen", der Kerl unterbrach meine Gedanken. "Hat dir noch keiner erzählt, dass man nich' in Kaschemmen pennen soll?" Langsam drang die Erkenntnis zu mir vor. Werber. Da hatte es neulich einen Zeitungsbericht gegeben. Ich hatte ihn gelesen - natürlich - aber er hatte mich nicht sonderlich berührt. Finstere Kerle, die junge Männer in Kneipen betrunken machten und dann auf die Dampfschiffe brachten. Manche der Verschleppten waren noch richtige Kinder gewesen. Aber ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, dass gerade mir das passieren könnte. Schließlich war ich Schülerin der Magie und kein...
Wieder wurde ich von dem dunklen Mann in meinen Überlegungen gestört. "Wenn's dir jetzt besser geht, dann ma' an die Arbeit, Jungchen!"
Jungchen? Ich blickte an mir herunter. Natürlich, die lose hängende Tunika und die weiten Hosen des Küchenjungen, die meinen mageren, unterentwickelten Körper umschlabberten, dazu meine Haare, die ich in einem kindischen Racheakt gegen Tuan abgeschnitten hatte - er hatte meine langen Haare immer geliebt. Ich konnte gut für einen Jungen durchgehen. Ich sah zu dem Finsteren auf und rechnete mir meine Chancen aus, an Land zu kommen, wenn ich ihm sagte, dass ich ein Mädchen war. Vielleicht waren sie gar nicht schlecht, überlegte ich mir, aber der Zustand, in dem ich wahrscheinlich ankommen würde, beunruhigte mich. Auf so einem Dampfschiff waren schließlich nur Männer beschäftigt.
Der Kerl wartete nicht auf eine Antwort, sondern packte mich wieder am Arm und brachte mich unter Deck. Ich stolperte durch ein Gewirr von Gängen und wurde schließlich wenig sanft in einen ganz mit Eisen ausgeschlagenen Raum gestoßen, in dem eine höllische Hitze herrschte. Ein riesiger Ofen füllte das Zimmer beinahe ganz aus, dazu diverse Maschinen, deren Sinn ich nicht kannte und ein großer Kohlehaufen.
"Kuri, ein neuer Schipper für dich." Der Finstere zerrte mich zu einem hageren drahtigen Mann mit roten langen Haaren und einem pfiffigen Blick. Abschätzig musterte der mich und seufzte.
"Magerer habt ihr keinen gefunden?"
Mein Begleiter zuckte mit den Achseln. "Sind eben vorsichtig geworden, die Kleinen. Der wird schon Muckis ansetzen, das glaub ma'." Damit verschwand er.
Der mit Kuri Bezeichnete warf mir noch mal einen Blick zu. "Also gut, Junge, wie heißt du?"
"Lill", ich schluckte gerade noch das "e" herunter.
"Nun gut, Lill, nimm dir die Schippe und schaufel' die Kohlen in das Loch da, aber nur, wenn ich's dir sag!" Das war das Letzte, was ich von ihm für diesen Tag zu hören bekam, mal abgesehen von: "Jetzt da mehr rein! Nein, nich' so viel!", und weiteren Anweisungen. Er selber schraubte an den übrigen Maschinen herum, zog irgendwelche Leinen und hämmerte munter mit den Fäusten auf den Kessel ein, wenn der nicht tat, was er sollte.
Ich schippte und schippte und in meinem Kopf ging ständig dieselbe Litanei um: Ich hasse Maschinen, ich hasse Maschinen, ich hasse Maschinen.
Jeder Magier, der etwas auf sich hielt, hasste die Techniker und ihre Erzeugnisse. Und jeder Techniker hasste die Magier und fürchtete Magie. Die Feindschaft war so alt, dass niemand sich entsinnen konnte, woher sie stammte. Man sagte zwar, früher wäre das anders gewesen, ja die Magie und die Technik hätten sich zur Zeit der Alten aus einer einzigen Idee entwickelt, aber daran glaubte eigentlich keiner mehr. Starke Magie tötete Technik, die Gegenwart von Maschinen erschwerte Magie. Hätte ich an dem Abend in der Windmühle ausgesehen wie eine Magierin, hätte mich niemals ein Werber mitgenommen. Frauen auf Schiffen war ja schon schlimm genug, aber Magier? Undenkbar! Aber ich wollte mich ja heimlich betrinken und hatte mir die Kleider von Mirk, dem Küchenjungen geborgt. Und jetzt war ich hier, zwischen polternden, hämmernden, rumorenden Maschinen in einer Hitze, die mir den Schweiß nur so in Strömen aus den Poren trieb. Kuri hatte längst sein Hemd ausgezogen, doch verständlicherweise traute ich mich das nicht.
Tuan, wenn ich dich in die Finger bekomme, werde ich dich zu Kleinholz verarbeiten. Am besten mit einem Feuerzauber, damit dir auch mal so richtig warm wird. Schließlich bist du an allem schuld.
Es ist erstaunlich, wie sehr Hass motivieren kann. Allein der Gedanke, was ich Tuan, meinem früheren Verlobten, alles antun wollte, verlieh mir die Kraft, bis zum Abend durchzuhalten. Immer eine Schippe nach der anderen, und ich stellte mir vor, dieser Ofen wäre ein Scheiterhaufen für Tuan.
Schließlich tauchte mein dunkler Begleiter wieder auf, einen zweiten mageren Jungen im Schlepptau. "Hier is' Ablösung, Jungchen.", sagte er zu mir und der Junge sah mich ängstlich an. Ich war zu müde und erschöpft, um noch so etwas wie Mitleid empfinden zu können, ich war nur froh, dass ich die Schaufel fallen lassen konnte und aus dieser Hölle heraus kam.
Der Finstere führe mich wieder auf Deck. Inzwischen war es dunkel geworden und zwischen dem dichten Rauch aus dem Schornstein blinkten ein paar einsame Sterne.
"Setz dich erst mal, Junge!" Mein Begleiter zog mich an der Reling nach unten und verschwand dann, um gleich wieder mit zwei Schalen Eintopf und einem halben Brot wieder aufzutauchen. "Harte Arbeit bringt auch gutes Essen. Hau ordentlich rein, du kannst dir nachholen, so oft du willst!"
Ich schlang die Brühe herunter, die mir wie göttliche Speise vorkam und holte dann Nachschlag. Und noch mal. Schließlich gesättigt ließ ich die Schale sinken und sah mich endlich einmal gründlich um. Das Schiff kam mir kleiner vor, als die, die ich aus dem Hafen kannte, und es war deutlich schnittiger. Zudem hatte es einen Mast, was mir nun doch extrem merkwürdig vorkam. Wozu brauchte ein Dampfschiff denn einen Mast?
Mein dunkler Begleiter hatte neben mir gegessen und folgte nun meinem Blick. "Ja, da staunste, was? Das is' eine Vorrichtung, mit der wir sicher durch die Lynnmannstraße kommen sollten."
"Lynnmannstraße?" Ich kam mir sehr blöd vor, aber ich hatte davon noch nie etwas gehört.
Der Dunkle warf mir einen stolzen Blick zu: "Die gefährlichste Seepassage, die es im Nachtmeer gibt. Kein Dampfschiff hat es geschafft, da durch zu kommen. Die Segler sind meist zu groß. Und die kleinen Segler, na, die kommen gar nich' erst dahin. Hinter der Lynnmannstraße liegt die See der tausend Sonnen. Und dort, mein Junge", nun funkelten seine Augen wirklich "dort liegt Ilkenland mit seinen sieben goldenen Städten!"
Ich starrte ihn nur voller Verblüffung an. Konnten diese Seeleute tatsächlich noch das Märchen von Ilkenland glauben? Ilkenland, das unser aller Heimat gewesen war, bevor die Alten es verließen. Wo die Straßen mit Gold gepflastert waren und die Häuser aus Edelsteinen erbaut. Wo es keinen Hunger gab, keine Not, und wo nur schöne Menschen lebten? Laut dem Märchen gab es eine Prophezeiung, dass dem ersten Seefahrer, der die See der tausend Sonnen erreichte, unglaubliche Macht verliehen würde. Macht über die hohe Magie der Alten.
Unvermittelt musste ich loslachen. Das war jetzt einfach alles zu viel für mich. Das unerwartete Erwachen, die Arbeit den ganzen Tag und nun eine Märchengeschichte. Ich glaube, ich war einfach ein bisschen hysterisch. Jedenfalls prustete ich los und konnte gar nicht mehr aufhören.
"He du, hör auf mit dem Gelache!"
Ich krümmte mich auf den Planken und japste verzweifelt.
"Sofort aufhören, sach ich!"
Ich wurde nach oben gerissen und blickte kichernd in das finstere Gesicht mit der Brandnarbe. Die blauen Augen funkelten so kalt, dass ich beinahe sofort wieder zur Besinnung kam.
"'Tschuldigung", murmelte ich, noch immer außer Atem. Der Finstere stellte mich wieder auf Deck ab. "Schon gut. Weiß ja, dass das komisch klingt. Aber der Käpt'n weiß, was er tut. Hat sogar 'ne Karte. Hat er 'nem Magier abgeknöpft." Er sah stolz dabei aus. Ich dagegen seufzte innerlich. Es war so ein Volkssport bei den Magiern, die Techniker mit allerlei unnutzem Kram zu narren. Und die fielen auch immer wieder drauf rein.
Der Finstere schien nichts von meinen Zweifeln zu merken. "Besser du hüpfst jetzt in die Koje, Kleiner", sagte er. "Morgen is' wieder viel zu tun." Er brachte mich in den Raum zurück, in dem ich aufgewacht war. Jetzt waren die meisten Lager besetzt mit schnarchenden, stinkenden Männern. Der Kerl packte mich einfach um die Hüfte und hob mich in eine Hängematte ganz oben unter der Decke. "Da biste sicher, Kleiner. Da pisst dir keiner auf'n Kopf." Die Matte schaukelte bedenklich und ich befürchtete, dass mir wieder schlecht werden würde, doch sein Argument hatte etwas für sich.
In der Tür drehte er sich noch mal um. "Ich bin übrigens Bootsmann Tuan", und weg war er.
Ausgerechnet Tuan, dachte ich noch, bevor ich in einen tiefen Schlaf fiel.
Man gewöhnt sich an alles. Zum Beispiel daran, jeden Morgen zwei Meter tief aus einer schwankenden Matte zu kraxeln. Oder an das Kohleschippen, Deckschrubben, Kochen und Flicken. Ich war eben ein Mädchen für alles auf der "Wüstenteufel". Nur, dass keiner wusste, dass ich ein Mädchen war.
Nach einer Woche kam ich mit dem Schlingern und Stampfen des Schiffes klar, nach zweien mit dem Fischgeruch und dem Rauch. Nach drei Wochen gab ich heimlich vor mir zu, dass mir das Leben auf dem Schiff irgendwie gefiel. Es war hart, ja, und es gab Arbeit mehr als genug, aber ich war jetzt so frei wie nie zuvor, und das Meer war so weit und blau und reichte bis in den Himmel hinein. Und ich mochte Tuan. Wirklich, ich freundete mich mit einem ehemaligen Sklaven an. Nie hätte ich geglaubt, dass ich das könnte. Aber er kümmerte sich um mich. Er besorgte mir eine weiche, warme Decke, als ich in meiner Hängematte fror, er luchste dem Schiffswart neue Kleidung für mich ab, er brachte mir bei, wie man Taue verknüpft, einen Kompass liest und die Position des Schiffes berechnet. Er war es auch gewesen, der mich vom reinen Kohleschippen erlöst hatte.
Trotz seiner Größe konnte er nicht viel älter sein, als ich, zwei, drei Jahre vielleicht, aber natürlich hielt er mich für jünger, weil ich keinen Bartwuchs hatte und mein Körperbau so klein und zart war.
Er selber war in Nachum als Sohn einer Sklavin geboren worden. Er sagte, er wäre abgehauen "als ich so alt war wie du", ich schätzte, dass er damit so etwa dreizehn Jahre meinte. Er hatte Glück gehabt. Der Kapitän, auf dessen Schiff er sich geflüchtet hatte, war ein Gegner der Sklaverei gewesen. Dieser hatte Tuan ausgebildet. Manchmal glaubte ich, dass Tuan mich so mochte, weil er sich selber in mir sah.
Als wir nach vier Wochen an einer Insel anlegten, um Vorräte und Kohle zu laden, dachte ich nicht ein einziges Mal an Flucht. Ich lief mit Tuan und Kuri durch die Gassen, bewunderte die exotischen Früchte und silbernen Schmuckstücke und ließ mir nebenbei von Kuri die Funktionsweise eines Dampfdruckmessers erklären. Ich musste gestehen, dass Maschinen eigentlich ganz interessant waren.
Zwei Wochen, nachdem wir die Insel verlassen hatten, war es dann soweit: wir näherten uns der Lynnmannstraße. Schon von ferne fühlte ich das Prickeln der Magie auf meiner Haut. Ich kletterte auf das Kabinendach und starrte nach vorne. Weit vor uns, kaum sichtbar vor dem weiten Horizont erkannte ich Felsen. Und Wolken. Ein schwarzes Band am Himmel, aus dem beständig Blitze zuckten. Der Sturm schien sich allerdings nicht vom Fleck zu bewegen. Still und bedrohlich wartete er in der Ferne. Ein Schaudern überlief mich. Schwarze Magie, große Magie war dort am Werk. Kein Wunder, dass kein Dampfer dort durchgekommen war. Diese Magie musste alle Technik ausschalten.
Unwillkürlich klammerte ich mich am Rand des Daches fest. Auch mit einem Segel würde es sicher schwer werden, diesen Sturm zu überleben. Beinahe ohne nachzudenken fuhr meine Hand unter das grobe Leinenhemd, um mein silbernes Amulett, meinen Zauberfokus zu berühren. Es war kühl und kribbelte an den Fingerspitzen. Wie lange hatte ich es nicht angefasst? Es schien eine Ewigkeit zu sein.
"Lill, runter da, sofort! Wir müssen die Ladung festzurren!" Tuan rief mich in die Wirklichkeit zurück. Ich schwang mich vom Dach und machte mich an die Arbeit.
Je näher wir der Straße kamen, desto unruhiger wurde die "Wüstenteufel". Meterhohe Wogen warfen sie von links nach rechts und ließen sie bisweilen in eine irrsinnige Talfahrt stürzen. Ich klammerte mich an die Reling und wusste nicht, was ich überwältigender fand: die Magie, die über mich spülte, oder das eisige Wasser des Nachtmeers, das mich von Bord reißen wollte. Es war mein erster Sturm auf See. Bis hierher hatten wir einfach unwahrscheinliches Glück gehabt.
Die Felsen kamen rasch näher. Ich konnte Donner grollen hören, und das Heulen des Sturmes. Dann, von einem Moment auf den anderen wurde es pechschwarz um uns herum. Wir waren unter das Wolkenband getaucht. Im selben Augenblick setzten die Maschinen aus. Einfach so. Kein Tuckern oder Husten, sie waren einfach aus und blieben auch aus.
"Setzt die Segel!" gellte Tuans Stimme über das Deck und die erfahreneren Seeleute machten sich daran, auf den Mast zu kraxeln und das Segel auszubreiten. Ich selber konnte mich nur festklammern und zusehen. Tuan hatte mir strengstens verboten, in die Wanten zu klettern.
Das Segel knatterte im Sturm und wurde den Männern mehrfach aus der Hand gerissen. Dann endlich blähte es sich weiß in der Finsternis.
Das Schiff bockte und bäumte sich auf, schoss über eine Welle und raste dann auf einen Abgrund aus pechschwarzem Wasser zu. Meine Finger wurden weiß, so fest krallte ich sie um die Reling. Trotzdem wurde ich unsanft von den Füßen gerissen, schwebte einen Moment schwerelos und prallte dann unsanft an die Kajüte. Ein Schwall eisiges Wasser durchnässte mich von oben bis unten. Ich sprang auf die Füße und schlitterte in Richtung Reling. Ich wusste nicht, wann ich mich das letzte Mal so glücklich gefühlt hatte. Es war so ein Irrsinn, so wahnsinnig gefährlich, und ich liebte es.
Wieder fegten wir über eine Welle, wieder stürzten wir herab. Ich hatte das Gefühl, zu fliegen. Um mich herum schrieen die Seeleute Kommandos, die ich nicht verstand. Einen Moment lang schoss mir durch den Kopf, dass Tuan mir befohlen hatte, unter Deck zu gehen, wenn wir uns der Lynnmannstraße näherten, doch ich verspürte das dringende Bedürfnis, oben zu bleiben. Etwas hielt mich mit Gewalt hier.
Sowieso achtete niemand mehr auf mich. Die Mannschaft hatte alle Hände voll zu tun, die "Wüstenteufel" unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie tanzte wie ein junges Mädchen auf ihrem ersten Ball. Ein Felsen schrammte die Backbordseite, gar nicht weit von mir entfernt. Es gab ein hässliches knirschendes Geräusch.
"Mehr Steuerbord!"
"Felsen auf Steuerbord!"
Ich spürte die aufkommende Panik unter den Männern. Ein weiterer Wellenberg. Dann war die Straße direkt vor uns. Eine schmale Schlucht zwischen turmhohen Wänden, das Wasser toste und schäumte in einer irrwitzigen Geschwindigkeit hindurch. Ich war überzeugt, dass die "Wüstenteufel" niemals durch diese schmale Spalte passen würde. Langsam kroch auch in mir die Panik hoch. Was tun?
Mein Hirn arbeitete auf Hochtouren. Wenn der Sturm doch nur ein wenig schwächer wäre. Ich fluchte innerlich. Wetterzauber waren es gewesen, warum ich mich davongeschlichen hatte, damals. Wegen Tuan, dem Mistkerl, der mich am Tag vor meiner Prüfung sitzen gelassen hatte. Natürlich war ich durchgefallen. Und dabei war ich mir doch immer so sicher gewesen, sie zu beherrschen.
Ob ich es versuchen sollte?
Seit ich auf der "Wüstenteufel" war, hatte ich nicht mehr gezaubert. Die Umgebung von Maschinen erschwerte jede Magie, aber das war nicht der Punkt. Plötzlich merkte ich, dass ich es mir einfach nicht mehr zutraute. Die vernichtenden Worte der Prüfer: "Junge Dame, so werden Sie aber keine Zauberin", die hämischen Kommentare meiner Mitschülerinnen: "Kein Wunder, dass Tuan dich nicht mehr haben will, so etwas Unfähiges!"
Nein, ich würde nicht mehr zaubern, nie mehr.
Der Sturm heulte so laut, dass ich die Stimmen der Seeleute nicht mehr verstehen konnte. Die "Wüstenteufel" jagte nach vorne und in den Spalt hinein. Es schien noch dunkler zu werden zwischen den Wänden und das beständige Heulen steigerte sich zu einem ohrenzerfetzenden Kreischen.
Dann zerriss ein Knall die Luft, der sogar noch das Kreischen übertönte, das Schiff machte einen Satz zur Seite, prallte gegen einen Felsen und knackte vernehmlich. Als ich mich umdrehte, erkannte ich, dass das Segel gerissen war, der Mast gesplittert.
"Mann über Bord!", drang ein Schrei an mein Bewusstsein. Er kam von Backbord. Ich rutschte mehr, als dass ich lief, zur Reling. Die "Wüstenteufel" schoss immer noch voran, getragen von den peitschenden Wogen. Ganz klein, schon beinahe außer Sicht erkannte ich hinter uns einen blonden Schopf über dem schwarzen Wasser. Tuan!
Ich weiß nicht, was in mir vorging, dass ich glaubte, ich könne den Sturmzauber brechen. Ich weiß nur noch, dass ich Tuan retten wollte. Ich überlegte nicht lange, zog mich auf das Kabinendach, um ihn weiter sehen zu können, holte das Amulett hervor und sprach die Worte der Macht.
Ich verhaspelte mich zweimal, weil es so schnell gehen musste, doch dann kamen sie doch richtig heraus, mir von den Lippen gerissen im tobenden Sturm.
Und es wurde ruhig. Schlagartig legten sich die Wogen, der Wind verstummte so plötzlich, dass ich glaubte, auf einmal taub geworden zu sein. Das Schiff rammte in voller Fahrt einen Felsen und blieb stehen. Ich verlor den Halt auf dem Kabinendach. Hilflos schlitterte ich nach vorne und purzelte über den Rand. Ich griff nach der Reling, doch meine Finger bekamen nur Luft zu fassen. Urplötzlich spürte ich, wie kaltes Wasser über mir zusammen schlug.
"Mann über Bord!"
Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich paddelte im eisigen Wasser, ein kurzes Stück hinter der Meerenge und ich hatte es geschafft. Das Schiff lag an den Felsen, aber es war noch heil, der Sturm hatte sich gelegt und Tuan war gerettet. Ich fühlte Stolz in mir aufstiegen. Ich hatte mich als würdiges Mannschaftsmitglied erwiesen.
Ein Seil wurde mir zugeworfen und ich hangelte mich daran auf Deck. Auf der anderen Seite kletterte Tuan auf das Schiff. Zufrieden blickte ich mich zwischen der Mannschaft um.
"Hexe!", das Wort traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.
"Wa... Was?"
"Zauberin!"
"Verfluchte Ketzerin!"
"Verräterin!
"Hexe!"
Panisch sah ich in die Runde. Zorn stand auf jedem Gesicht. Ich sah an mir herab, an der durchnässten Kleidung die nun meine Körperformen deutlicher enthüllte, als verbarg, auf das Amulett, das zwischen meinen Brüsten hing. Dann hob ich wieder den Kopf.
Eine harte Ohrfeige ließ mich taumeln und ich stürzte auf die Deckplanken. Einem auf nach mir gezielten Fußtritt wich ich im letzten Moment aus. Verdammt. Seeleute, Techniker, wie hatte ich nur so blöd sein können und denken, sie würden sich über magische Hilfe freuen. Ich krümmte mich zusammen, um mich vor weiteren Tritten zu schützen und schlang die Arme um meinen Kopf.
Ein Fuß traf mich in die Seite, Schmerzen durchzuckten mich und ich hörte deutlich etwas knacken, was nur meine Rippen sein konnten.
"Tuan, hilf mir!" wimmerte ich, bevor ein Stiefel meine Finger unter sich zerquetschte.
"Was is' hier los?" Die Tritte ließen nach. Ich wagte aufzusehen. Meine Hand schmerzte höllisch. Tuan war an die Gruppe getreten.
"Sie ist eine Hexe, Bootsmann. Sie hat das Schiff verhext!"
"Schwarze Magie!"
"Sie wollte uns alle vernichten!" Die Stimmen wurden wieder laut.
Tuan sah auf mich herunter. Seine Augen waren kalt und hart. Ich richtete mich halb auf und klammerte meine heile Hand um das Amulett.
"Bitte, Tuan, ich hab' nichts Böses getan"
"Bist du eine Magierin?" Wie schroff er klang. Zaghaft nickte ich.
"Aber ich schwöre, ich habe nichts Schlimmes getan. Ich habe den Sturm beruhigt, weil ich... weil ich nicht wollte, dass du ertrinkst!" Ich sah, wie sein Blick weich wurde. Aber unter den anderen Seemännern wurden Rufe laut.
"Sie hat den Bootsmann verhext, schaut nur!"
"Über Bord mit ihr!"
"Schluss jetzt!" Tuan fuhr zu den anderen herum. "Niemand hat mich verhext. Das hier is' nur 'n kleines Mädchen, verflucht! Macht lieber das Schiff wieder flott!" Einen Moment lang sah es so aus, als wollten sie sich gegen ihn stellen. Für einige sehr lange Sekunden schwebte ein Kampf in der Luft. Dann wandten sie sich ab und gingen murrend zu ihren Arbeiten zurück. Tuan wandte sich zu mir und zog mich auf die Füße.
"Nur ein kleines Mädchen, vielen Dank auch, ich bin sechzehn!" Meine Angst war in Zorn umgeschlagen. "Und das nächste Mal rettet euer verdammtes Schiff doch selber!"
"Schon gut, Kleine, lass mich lieber mal deine Hand ansehen." Er griff nach meiner verletzten Hand, doch ich riss sie ihm weg.
"Danke, ich mach das alleine. Mit Magie!" Ich hatte mich jetzt darauf eingestellt, ekelhaft zu sein. Er seufzte, wollte etwas erwidern, doch er wurde von Kuri unterbrochen.
"Tuan, die Maschinen springen nicht an und ohne sie können wir nicht rückwärts von den Felsen zurück setzen. Der Kapitän möchte, dass wir in die Rettungsboote umsteigen. Es bleibt uns keine andere Wahl."
"Verdammich!" Tuan ließ mich stehen und lief los zu den Booten. Ich blieb alleine mit Kuri und seinem hasserfüllten Blick.
"Und so was wie dich hab' ich an meine Maschinen gelassen", knurrte er, bevor er Tuan folgte.
Ich spürte, wie Tränen über meine Wangen liefen. Ich hatte mich so wohl gefühlt auf der "Wüstenteufel" und plötzlich schienen mich alle zu hassen. Langsam trat ich an die Reling und blickte nach vorne. Dort, fast greifbar nahe lag die See der tausend Sonnen. Ich war sogar schon dort gewesen.
Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die See der tausend Sonnen. Die Magie der Alten!
Ich drehte mich um und hastete die Treppen herunter, zum Maschinenraum. Grau und tot lagen die Apparaturen vor mir. Sogar das Feuer im Ofen war erloschen. Doch ich spürte ihre vibrierende Gegenwart, ich fühlte in die Maschinen, ich war die Maschinen. Langsam tastete meine Hand zum Amulett. Es prickelte. Erwartung schien es zu erfüllen. Meine andere Hand, die gebrochene, legte ich an den Kessel. Ein Zittern durchlief ihn. Ich fuhr mit der Hand über seine Seit, beinahe zärtlich, und suchte nach Worten. Es war immer schwierig, Zauberworte zu finden, wo es noch keine gab. Doch dann plötzlich füllten sie meinen Geist. Leise flüsterte ich sie dem Kessel entgegen.
Nichts geschah.
Für einen endlosen Augenblick rührte sich nicht ein Kolben im Maschinenraum. Dann bebte der Kessel wieder, ein lautes Knacken ertönte und im Ofen sprang ein Feuer an. Knisternde Funken liefen über das Metall, umhüllten es, tauchten es in unwirkliches blaues Licht. Langsam erwachten die Anzeigen zum Leben. Die Dampfpfeife gab einen schrillen, langgezogenen Ton von sich.
Ich spürte die plötzliche Gegenwart von Menschen und ließ den Kessel los. Jetzt erst wurde mir wieder bewusst, wie sehr meine Hand schmerzte. Ich müsste bald einen Heilzauber wirken. Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht von Tuan. Ungläubiges Staunen machte darin einem breiten Lächeln Platz. Neben ihm stand Kuri, der fassungslos den Kessel anstarrte.
"Die Magie der Alten", wisperte ich. "Die Alten trennten nicht zwischen Magie und Technik." Dann übermannten mich endgültig meine Schmerzen und ich verlor die Besinnung.
Ich habe die Einfahrt in die See der tausend Sonnen verpasst. Aber nun stehe ich am Bug und sehe Ilkenland näher rücken. Einen Moment lang denke ich an die Schule zurück, die Prüfung, meinen Hass. Doch ich merke, dass ich ihn nicht mehr brauche. Ich bin Lille, Schiffsmagierin der "Wüstenteufel".
Die goldenen Kuppeln funkeln im Morgenlicht.
Die vorgegebenen Wörter waren: Prophezeiung, Zeitungsbericht, motivieren, weich, hämmern.