Was ist neu

Ich sah das Ende

Mitglied
Beitritt
14.02.2004
Beiträge
75

Ich sah das Ende

Die Strassen sind schneebedeckt. Kalte Wintertage waren vergangen, warteten noch auf uns. Die Bäume kahl, der Himmel weiss. Fahles Licht fällt herab, scheint aber keiner Quelle zu entspringen.
Ich sitze in einem Bus und schaue aus dem Fenster, betrachte diese Welt. Sie ist traurig. Die Sonne fehlt mir. Wohin sie wohl gegangen ist? Manchmal kommen mir solche Fragen völlig berechtigt vor. Ohne sie fühle ich mich so hilflos, so ausgelaugt wie eine leere Batterie die niemandem mehr etwas zu bedeuten scheint.
Meine Stirn klebt an der kühlen Scheibe. Ich mag den Schmerz der Kälte nicht, hebe meinen Kopf und blicke mich um. Es sind nur wenige Leute im Bus, aber ich kenne sie alle. Ich sehe sie jeden Tag, immer wenn ich von der Arbeit nach Hause fahre. Da ist diese alte Dame, die viel zu viel Schmuck trägt. Ein vermoderter, roter Hut bedeckt ihre grauen Haare. Etwas weiter vorne erkenne ich den jungen, glatzköpfigen Mann. Ich glaube er hat Krebs. Und rechts von mir, am anderen Fenster sitzt das wunderschöne Mädchen. Sie hat blonde, halblange Haare, trägt sie wie eine billige Perücke aus diesen 60ger-Filmen. Ich liebe sie, habe mich aber nie getraut, sie anzusprechen. Einmal hatte ich sogar von ihr geträumt. Wir küssten uns. An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern.
Der Bus hält. Mit den Händen in den Hosentaschen steige ich unwillig aus. Schneeflocken schweben auf mich zu. Mein Atem wird sichtbar. Ich möchte nicht nach Hause, weiss aber nicht wohin. Heute ist der Weg ungewiss. Langsam setzte ich mich in Bewegung, gehe in Richtung Bahnhof. Das weisse Pulver ist überall, erschwert mir das Laufen, dringt in meine Schuhe. Ich spüre Eisbrocken unter meinen Füssen, hart wie Stein. Die Leute schreiten eilig und achtlos an mir vorbei. Einige von ihnen haben einen Schirm. Der Bahnhof ist kaum bevölkert, sieht wie ein trostloser Teil einer Geisterstadt aus. Vor dem Eingang in das Café sehe ich ein paar Penner. Ich laufe an ihnen vorbei, merke, dass es nur einige Jugendliche, dass es nur Kiffer sind. Es ist auch ein Mädchen bei ihnen, raucht mit und lächelt zufrieden. Sandra, eine gute Kollegin, doch ich grüsse sie nicht, möchte nicht auf mich Aufmerksam machen. Alleine soll ich meinen Weg gehen.
Der Zug kommt von Süden. Als er zum Stillstand gekommen ist, steige ich ein. Nur noch wenige Menschen sind jetzt unterwegs. Bis auf ein paar wenige, sind alle Sitzplätze unbesetzt. Mich ohne Weiteres hinzusetzen, erscheint mir zu einfach. Meine Schritte sind unsicher, als ich durch den Waggon gehe. Dann plötzlich erblicke ich meine Geliebte. Sie ist nicht dieselbe, wie die aus dem Bus. Sie hat hellbraunes, langes Haar, ein anmutiges Näschen und kleine, blaue Augen. Wie immer liesst sie in einem Buch. Auch von ihr hatte ich geträumt. Es war ein seltsamer Traum. Dort war sie genauso verschlossen wie in der Wirklichkeit. Ich sah sie immer in einen Raum gehen, nach einer Weile wieder herauskommen. Irgendwann überwältigte mich meine Neugier und ich ging ihr nach. Das Zimmer war leer. Verwirrt, ein bisschen enttäuscht ging ich wieder, liess die Tür hinter mir zufallen. Da stand sie wieder vor mir.
„Bist du nicht eben in diesen Raum gegangen?“, sprach ich die ersten Worte zu ihr. Sie schien stumm zu sein, zupfte an meinem Sweatshirt und führte mich wieder herein. Da war etwas wie ein Portal und teleportierte uns in eine andere Welt. Es erinnerte mich an ein Märchen. Mir fiel der Name nicht ein. Ich erwachte.
„Ist hier noch frei?“, frage ich sie. Sie ist irritiert, denn ich habe ihren vertieften Zustand unterbrochen. Aber sie findet sich wieder, nickt und liesst weiter. Dass ich ausgerechnet zu ihr sitze scheint ihr nicht aufzufallen. Sie ist bezaubernd. Ihre Konzentration lässt meinen lüsternen, konstanten Blick unbemerkt. Nach einiger Zeit gelangen wir an die Endstation. Wir steigen aus. Ich verfolge sie nicht, gehe wieder meinen einsamen Weg. Plötzlich höre ich Geschrei. Von allen Seiten strömen aufgeregte Menschen durch die Strassen. Ihre Gesichter sind ängstlich, sind bleich und verstört. Eine Massenhysterie. Ich verstehe es nicht, beobachte sie. Immer wieder blicken sie den Himmel empor, strecken ihre Gesichter dem Schnee entgegen. Viele von ihnen weinen. Jetzt schaue auch ich hinauf, sehe grosse, brennende Objekte die Luft durchkreuzen, die Flocken in Asche verwandeln. Die Sicht lichtet sich, das bleiche Himmelszelt hängt nur noch in schwindenden Fetzen über uns. Goldene, warme Strahlen fallen nun durch die freien Stellen. Ein Lächeln huscht mir über das Gesicht. Was für ein Tag. Ich sah das Ende.

 

Hallo Clyan,

habe deine KG mit Interesse gelesen. Manche der Bilder, die du vor meinem Auge erstehen lässt, könnten fast in ein Gedicht passen. Ich mag Gedichte:)...

Ich sitze in einem Bus und schaue aus dem Fenster, betrachte diese Welt. Sie ist traurig. Die Sonne fehlt mir. Wohin sie wohl gegangen ist? Manchmal kommen mir solche Fragen völlig berechtigt vor. Ohne sie fühle ich mich so hilflos, so ausgelaugt wie eine leere Batterie die niemandem mehr etwas zu bedeuten scheint
Hier ist nun eine Situation, wo ich denke, dass du dich mit 'solche Fragen' eigentlich auf mehrere Fragen beziehen müsstest, die du aber nicht gestellt hast.

Die Vorstellung, eine leere Batterie zu sein, wenn du dir keine Fragen, Gedanken mehr stellst, also die Aussage, dass das Fragenstellen 'für dich berechtigt' ist, um dich nicht ausgelaugt zu fühlen wie diese Batterie -- das ist ein schöner nachvollziehbarer Gedanken.

Aber dann verwirrt mich etwas das Auftauchen dieser Mädchen und dein jeweiliges Verhalten ihnen gegenüber.
Mal abgesehen von der gesamten Bedeutung dieser Szenen für die Geschichte verwundert mich Folgendes:

Sie ist bezaubernd. Ihre Konzentration lässt meinen lüsternen, konstanten Blick unbemerkt.
Ich finde das Wort 'lüstern' wenig passend, zumindest soweit ich deine Geschichte verstehe.

Und da habe ich ebenfalls das Problem wie K., dass ich nicht ganz verstehe, was du sagen willst.

Durch die Rubrik-Thematik 'Experiment'und den Titel der Geschichte wird mein Gedanke darauf gelenkt, dass du eventuell sagen willst, dass du Vorahnungen von einem künftigen Disaster hattest. Visionen. Erinnerungen an apokalyptische Geschichten..oder..

Doch das ist nmM sehr unklar und ich bleibe als Leser ziemlich irritiert zurück. Auch nach mehrmaligem Lesen.
Ich könnte jetzt auch nicht mal sagen, wo du etwas DEUTLICHER sagen müsstest. Vielleicht kannst du daran noch ein bissel schleifen :)

Lieben Gruß von
ahino

 

Hi Clyan,

Auch ich finde, schön geschrieben.
Kakaotesschen fragt, was willst du uns mit deiner KG sagen?
Nicht das ich es wüßte, aber ich denke, jeder kann etwas aus deiner Geschichte heraus lesen.

Also, meine Interpretation: Ein junger Mann, täglich umgeben von vielen Menschen. Er kennt sie, kommt ihnen aber nicht nahe.
Keiner kümmert sich um den Andern.
Kälte umgibt ihn.
Er sieht ein Mädchen, jeden Tag, ist verliebt, geht aber nicht auf sie zu. -Unsicherheit-
Verläßt den Zug, geht seinen Weg, wird nicht bemerkt, möchte es auch nicht. -Einsam, Mutlos-
Eisklumpen unter seinen Füßen. -schwerer Weg-
Möchte nicht nach Hause. -Fehlende Nestwärme-
Steigt in einen anderen Zug. -Auf der Suche-
Sieht seine andere Liebe. Ein zurückhaltendes Geschöpf, vertieft in ein Buch. Auch sie will ihn nicht wahrhaben, erkennt nicht sein Interesse.
So wie sie sich in ihr Buch, in eine andere Welt, flüchtet, sehnt er sich nach einer Märchenwelt.-Traum-

Sie verlassen beide den Zug, gehen getrennte Wege.
Er muß seinen Weg aus der Kälte alleine finden.

Dann die Wende.
Der Himmel öffnet sich. Feuer schmilzt den Schnee.
Sonne vertreibt die Kälte.
Er lächelt, er hat das Ende gesehen.

Die Frage ist: Sah er das Ende der Welt, wo die Menschen gezwungen wurden, sich gemeinsam auf eine Sache zu konzentrieren, also aus der Einsamkeit, Verbundenheit wurde?

Oder sah er das Ende seiner eigenen Verschloßenheit, den Einlaß der Sonne in seine Seele?

Tja Clyan, die Intention deiner Geschichte kann auch völlig anders sein. Aufklären kannst das nur du alleine.

glg, coleratio

 

Liebe Kritikschreiber

Zuersteinmal möchte ich euch für eure Meinungen zu dieser Geschichte danken. Mir gefällt es, dass jeder etwas positives, wie auch etwas negatives gesagt hat, auch wenn es eigentlich immer dieselben aussagen sind und ich eine solche Reaktion schon erwartet habe.

Die Idee zu dieser Geschichte kam mir als ich selbst von der Arbeit nach Hause gefahren bin. Auch ich schaue gerne aus dem Fenster, beobachte die Welt und auch bei mir ist immer so, dass mir die meisten Leute bekannt sind, da ich sie fast täglich sehe.

Natürlich wirft die Geschichte einige (berechtigte!) Fragen auf. Zum ersten ist der Schluss völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Dazu kann ich nur sagen, dass ein anderer Schluss, eine viel längere Geschichte verlangt hätte. Ausserdem bin ich ein liebhaber von "Bad Ends". Natürlich habe auch ich gemerkt, dass deshalb die Rede von einer gewöhnlichen Geschichte unmöglich ist. Also entschied ich mich für die Rubrik "Experimente", denn genaugenommen ist es das auch. Ich wollte sehen, wie so eine Story wirkt. Obwohl der Zusammenhang fehlt, darf ich sagen, dass der Schluss zum Rest der Geschichte passt. Stilistisch gesehen meine ich.

Zur Frage, ob das Armageddon zum Schluss nun Symbolisch oder tatsächlich auf physischer Basis passiert: Es ist Wirklichkeit. Es regnet brennende Kometen. Die Erde wird vernichtet.

So. Und zum Schluss möchte ich noch etwas selbstkritik zeigen: Ich persönlich finde meine Geschichte gut geschrieben, gebe offen zu, dass der Zusammenhang am Schluss fehlt, jedoch dass er gut passt. Der Hauptcharakter ist trübsinnig, was mir - denke ich - gut gelungen ist. Seine seltsame Neigung dazu, fremde Frauen zu lieben, habe ich eingebaut, um zu verdeutlichen, wie kompliziert er ist, was wohl nur bedingt rüberkommt.

Das war's. Nochmals danke.

Gruss, Clyan

 

Die Sonne fehlt mir. Wohin sie wohl gegangen ist? Manchmal kommen mir solche Fragen völlig berechtigt vor.
Gefällt mir. Charakterisiert den Ich-Erzähler.

Ohne sie fühle ich mich so hilflos, so ausgelaugt wie eine leere Batterie die niemandem mehr etwas zu bedeuten scheint.
Der Vergleich hinkt etwas, denn Batterien erfahren meist auch im vollen Zustand keine liebevolle Zuwendung.

Meine Stirn klebt an der kühlen Scheibe. Ich mag den Schmerz der Kälte nicht, hebe meinen Kopf
Kühl ist nicht gleich kalt. Das Adjektiv könnte gestrichen werden.

Es sind nur wenige Leute im Bus, aber ich kenne sie alle. Ich sehe sie jeden Tag, immer wenn ich von der Arbeit nach Hause fahre. Da ist diese alte Dame, die viel zu viel Schmuck trägt. Ein vermoderter, roter Hut bedeckt ihre grauen Haare. Etwas weiter vorne erkenne ich den jungen, glatzköpfigen Mann. Ich glaube er hat Krebs. Und rechts von mir, am anderen Fenster sitzt das wunderschöne Mädchen. Sie hat blonde, halblange Haare, trägt sie wie eine billige Perücke aus diesen 60ger-Filmen. Ich liebe sie, habe mich aber nie getraut, sie anzusprechen
Wow! Das nenn ich eine starke Beschreibung!!

Mein Atem wird sichtbar
Schön umschrieben.

Sandra, eine gute Kollegin, doch ich grüsse sie nicht,
Sandra ist das Mädchen, das mitraucht? Wenn nicht, ist hier was schiefgegangen.

Dann plötzlich erblicke ich meine Geliebte. Sie ist nicht dieselbe, wie die aus dem Bus. Sie hat hellbraunes, langes Haar, ein anmutiges Näschen und kleine, blaue Augen. Wie immer liesst sie in einem Buch. Auch von ihr hatte ich geträumt.
Hm, ich brauchte einen Moment um zu verstehen, daß es sich um ein anderes Mädchen handelt, von dem er AUCH geträumt hat. "meine Geliebte" erscheint mir dafür jedoch unpassend.

Dass ich ausgerechnet zu ihr sitze
Syntax error

Ihre Konzentration lässt meinen lüsternen, konstanten Blick unbemerkt
Gute Formulierung.

Hm. Also ich habe diese Geschichte bis zu dem Zeitpunkt, wo alle zu schreien anfangen, richtig gut gefunden. Alltag halt, mit einer sehr interessanten Charakterisierung des Protagonisten.

Das Ende ist allerdings ein Fremdkörper, der an diesem Text hängt. Ich denke nicht, daß ein anderes Ende einen längeren Text erforderlich gemacht hätte, aber was weiß ich schon, was du im Sinn hast.

Etwas schade. Ist der bisher beste Text, den ich von dir gelesen habe, und ausgerechnet der versauert mit einem Pseudo-Ende in der Experimente-Rubrik.

r

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom