Ich sah das Ende
Die Strassen sind schneebedeckt. Kalte Wintertage waren vergangen, warteten noch auf uns. Die Bäume kahl, der Himmel weiss. Fahles Licht fällt herab, scheint aber keiner Quelle zu entspringen.
Ich sitze in einem Bus und schaue aus dem Fenster, betrachte diese Welt. Sie ist traurig. Die Sonne fehlt mir. Wohin sie wohl gegangen ist? Manchmal kommen mir solche Fragen völlig berechtigt vor. Ohne sie fühle ich mich so hilflos, so ausgelaugt wie eine leere Batterie die niemandem mehr etwas zu bedeuten scheint.
Meine Stirn klebt an der kühlen Scheibe. Ich mag den Schmerz der Kälte nicht, hebe meinen Kopf und blicke mich um. Es sind nur wenige Leute im Bus, aber ich kenne sie alle. Ich sehe sie jeden Tag, immer wenn ich von der Arbeit nach Hause fahre. Da ist diese alte Dame, die viel zu viel Schmuck trägt. Ein vermoderter, roter Hut bedeckt ihre grauen Haare. Etwas weiter vorne erkenne ich den jungen, glatzköpfigen Mann. Ich glaube er hat Krebs. Und rechts von mir, am anderen Fenster sitzt das wunderschöne Mädchen. Sie hat blonde, halblange Haare, trägt sie wie eine billige Perücke aus diesen 60ger-Filmen. Ich liebe sie, habe mich aber nie getraut, sie anzusprechen. Einmal hatte ich sogar von ihr geträumt. Wir küssten uns. An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern.
Der Bus hält. Mit den Händen in den Hosentaschen steige ich unwillig aus. Schneeflocken schweben auf mich zu. Mein Atem wird sichtbar. Ich möchte nicht nach Hause, weiss aber nicht wohin. Heute ist der Weg ungewiss. Langsam setzte ich mich in Bewegung, gehe in Richtung Bahnhof. Das weisse Pulver ist überall, erschwert mir das Laufen, dringt in meine Schuhe. Ich spüre Eisbrocken unter meinen Füssen, hart wie Stein. Die Leute schreiten eilig und achtlos an mir vorbei. Einige von ihnen haben einen Schirm. Der Bahnhof ist kaum bevölkert, sieht wie ein trostloser Teil einer Geisterstadt aus. Vor dem Eingang in das Café sehe ich ein paar Penner. Ich laufe an ihnen vorbei, merke, dass es nur einige Jugendliche, dass es nur Kiffer sind. Es ist auch ein Mädchen bei ihnen, raucht mit und lächelt zufrieden. Sandra, eine gute Kollegin, doch ich grüsse sie nicht, möchte nicht auf mich Aufmerksam machen. Alleine soll ich meinen Weg gehen.
Der Zug kommt von Süden. Als er zum Stillstand gekommen ist, steige ich ein. Nur noch wenige Menschen sind jetzt unterwegs. Bis auf ein paar wenige, sind alle Sitzplätze unbesetzt. Mich ohne Weiteres hinzusetzen, erscheint mir zu einfach. Meine Schritte sind unsicher, als ich durch den Waggon gehe. Dann plötzlich erblicke ich meine Geliebte. Sie ist nicht dieselbe, wie die aus dem Bus. Sie hat hellbraunes, langes Haar, ein anmutiges Näschen und kleine, blaue Augen. Wie immer liesst sie in einem Buch. Auch von ihr hatte ich geträumt. Es war ein seltsamer Traum. Dort war sie genauso verschlossen wie in der Wirklichkeit. Ich sah sie immer in einen Raum gehen, nach einer Weile wieder herauskommen. Irgendwann überwältigte mich meine Neugier und ich ging ihr nach. Das Zimmer war leer. Verwirrt, ein bisschen enttäuscht ging ich wieder, liess die Tür hinter mir zufallen. Da stand sie wieder vor mir.
„Bist du nicht eben in diesen Raum gegangen?“, sprach ich die ersten Worte zu ihr. Sie schien stumm zu sein, zupfte an meinem Sweatshirt und führte mich wieder herein. Da war etwas wie ein Portal und teleportierte uns in eine andere Welt. Es erinnerte mich an ein Märchen. Mir fiel der Name nicht ein. Ich erwachte.
„Ist hier noch frei?“, frage ich sie. Sie ist irritiert, denn ich habe ihren vertieften Zustand unterbrochen. Aber sie findet sich wieder, nickt und liesst weiter. Dass ich ausgerechnet zu ihr sitze scheint ihr nicht aufzufallen. Sie ist bezaubernd. Ihre Konzentration lässt meinen lüsternen, konstanten Blick unbemerkt. Nach einiger Zeit gelangen wir an die Endstation. Wir steigen aus. Ich verfolge sie nicht, gehe wieder meinen einsamen Weg. Plötzlich höre ich Geschrei. Von allen Seiten strömen aufgeregte Menschen durch die Strassen. Ihre Gesichter sind ängstlich, sind bleich und verstört. Eine Massenhysterie. Ich verstehe es nicht, beobachte sie. Immer wieder blicken sie den Himmel empor, strecken ihre Gesichter dem Schnee entgegen. Viele von ihnen weinen. Jetzt schaue auch ich hinauf, sehe grosse, brennende Objekte die Luft durchkreuzen, die Flocken in Asche verwandeln. Die Sicht lichtet sich, das bleiche Himmelszelt hängt nur noch in schwindenden Fetzen über uns. Goldene, warme Strahlen fallen nun durch die freien Stellen. Ein Lächeln huscht mir über das Gesicht. Was für ein Tag. Ich sah das Ende.