- Anmerkungen zum Text
Es ist ein Auszug aus einem Roman, der aber auch für sich stehen kann...
HTZ 9000
Die Abteile im Zug waren voll belegt. Aus allen Richtungen drang Musik an sein Gehör. Neben ihm saß ein junger Mann. Er hatte sich zwei große Lautsprecher auf die Schultern geschnallt. Daraus erklang Techno-Musik. Die monoton schmatzenden Bässe ließen kleine bunte Pillen auf dem Tisch tanzen, die der Spund halbstündig einnahm. Er trug einen Kurzhaarschnitt und hatte sich das Gehirn gepierct. Der überdimensionale Ring verlief von einer Schläfe zur anderen. Er nickte wie in Trance zu dem dumpfen Bass und schrie die ganze Zeit: „Party, Party, Party!"
Auf der gegenüberliegenden Sitzbank wandte sich eine Frau unruhig auf ihrem Platz. Sie stöhnte, kaute und schmatzte. Dann streckte sie die Hand aus und entnahm dem Tuppertopf, der zwischen ihren Beinen stand, einen Bullenhoden. Sie sah den Träumer mit gefletschten Zähnen an. Von ihrem Kinn triefte Speichel. Dann biss sie genussvoll in den Hoden und erzählte von der letzten Tupperparty. Der Träumer musste seinen Blick abwenden. Sein Magen hatte sich zusammengezogen. Er war kurz davor, sich zu übergeben.
Links neben ihm pfiff ein Mann mittleren Alters eine Melodie. Ab und zu unterbrach er, um ein dreifaches Hossa zu grölen. Ein Schlager. Dann begann er über die wunderbare Landschaft zu sprechen. Der Träumer sah aus dem Fenster. Der Zug fuhr mit rasender Geschwindigkeit durch eine Betonwüste. Alles war asphaltiert und weiß übertüncht. Kein Baum, kein Strauch, kein Tier. Nur weißer Asphalt und hohe Bauten aus Spiegelglas. Überall waren Menschen zu sehen, die in weißen Anzügen fegten und polierten und saugten und desinfizierten und schrubbten und reinigten. Alles schien steril und unwirklich. Eine unendliche Landschaft ohne Bäume, ohne Vögel, ohne Fliegen, ohne Ungeziefer.
Der Schlager pfeifende Depp sprach von den bedauernswerten Vertriebenen aus Ostpreußen und Schlesien, sah dann wieder aus dem Fenster und lobte dieses herrlich saubere und reine Land. Ein Land ohne Mücken und Spinnen. Ein Land der Ordnung und Sauberkeit.
Der Träumer schwitzte. Der Schweiß ließ sein Gesicht glänzen. Seine Kleidung war klamm. Der Blick nach draußen nahm ihm die Luft. Alles weiß und betoniert und asphaltiert. Sein Atem ging schwer. Er hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Die anderen Fahrgäste schienen keine Notiz von dem Grauen zu nehmen, das um sie herum stattfand. Sie lachten wie irr und starrten mit leerem Blick aus den Fenstern. Er konnte diesen Wahnsinn nicht mehr ertragen, stand wie hypnotisiert auf und verließ das Abteil. Aber der ganze Zug war voll von ihnen. Jeder Wagon, den er in panischer Angst durchschritt, bot das gleiche Bild. Schließlich gelangte er an eine Tür mit der Aufschrift „Triebwagen". Er zögerte einen Moment, war sich nicht sicher, ob er sie öffnen sollte. Aber das Grauen ließ ihm keine Zeit zu überlegen. Langsam drückte er die Klinke herunter. Die Tür knarrte. Dunkelheit. Er ging ein paar Schritte, ohne etwas sehen zu können. Dann ertastete er einen Vorhang und zog ihn vorsichtig auf. Ein Ballsaal. Er befand sich in einem riesigen Ballsaal. Menschen mit bunten Kostümen tanzten und lachten, aber keine Musik war zu hören, kein Ton, kein Wort. Nur das Rascheln der beeindruckenden Kleider nahm er wahr und ließ das Ganze zu einem gespenstischem Szenario werden. Er befand sich mitten in einem großen, bunten, lautlosen Fest. Die Tür, durch die er gekommen war, existierte nicht mehr. Eine Frau mit langem, schwarzem Kleid und einer großen roten Federboa nahm ihn an die Hand und führte ihn auf die Tanzfläche. Er ließ es mit sich geschehen und zweifelte an seinem Verstand. Alle Menschen, die er hier sah, trugen Masken. Auch seine geheimnisvolle Tanzpartnerin. Irgendwie schien sie ihn gar nicht wahrzunehmen. Ihre Augen waren hinter der Maske nicht zu erkennen, und sie lachte die ganze Zeit wie von Sinnen. Mittlerweile hatten alle anderen Paare einen Kreis um sie herum gebildet und klatschten unaufhörlich. Plötzlich hielt die Frau, die zu keiner Musik mit ihm tanzte, inne und entfernte ihre Maskierung. Er starrte in zwei dunkle, leere Augenhöhlen, taumelte zurück, stolperte in die umstehende Menge und erkannte nun, dass auch alle anderen Anwesenden keine Augen hatten. Der Weg durch die Menge, schien kein Ende zu nehmen. Sie kreischten und lachten, und die dunklen Löcher in ihren verzerrten Gesichtern waren auf ihn gerichtet. Schließlich lag er bewegungslos am Boden. Starr vor Angst. Die Menge der schrecklichen Fratzen schloss sich über ihm, kam immer näher, bis sich von einem Augenblick zum anderen der Boden unter ihm öffnete. Er fiel in einen Abgrund, immer tiefer und tiefer.
Waren zwei Sekunden oder hundert Jahre vergangen? Er wusste es nicht. Sein Körper fühlte sich unendlich schwer an. Neben ihm schippte ein Mann mit verrußtem Gesicht Kohlen in einen gewaltigen Ofen. Der Träumer erhob sich langsam und sah sich um. Der Triebwagen des Zuges. Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Der Lokführer kam auf ihn zu und geleitete ihn freundlich zum Steuerpult.
„Sie befinden sich im neuesten Modell unseres Hochgeschwindigkeitsturbinenzuges. Wir fahren mit einem Tempo von 600 km/h und werden unser Ziel in wenigen Minuten erreichen."
„600 Kilometer in der Stunde? Welcher Zug ist so schnell? Und vor allem, welches Ziel werden wir erreichen?"
„Na, guter Mann! Sie werden doch wohl wissen, in welchen Zug sie gestiegen sind?! Dann sollten sie auch wissen, wo sie ankommen."
„Ich weiß gar nichts! Als ich vorhin aus dem Fenster sah, konnte ich nur eine sterile Landschaft ausmachen und die Leute um mich herum, schienen den Verstand verloren zu haben."
Der lächelnde Lokführer sah ihn mitleidig an.
„Wir werden in exakt 30 Sekunden mit einer neuen Rekordmarke von 650 km/h auf eine 25 Meter dicke und zehn Meter hohe Stahlbetonmauer treffen. Die dabei frei werdenden Kräfte quetschen unseren Hochgeschwindigkeitsturbinenzug, auch HTZ 9000 genannt, wie eine Ziehharmonika zusammen. Dabei werden wir und die übrigen sehr verehrten Reisenden in einer Art Fleischwolfverfahren zu einem schönen Klumpen aus Blut und Stahl."
Der Träumer stieß den scheinbar wahnsinnigen Lokführer zur Seite. Am Horizont war eine Mauer zu erkennen. Die Geschwindigkeit betrug jetzt 645km/h.
„Halten sie diesen Scheißzug an, sie irrsinniger Trottel!"
„Der Zug ist nicht mehr zu stoppen. Wir erreichen unser Ziel in 10...9...8...7..."
„Verdammt, halten sie den Zug an!" Der Träumer suchte nach einem Bremshebel oder irgendeinem Pedal, aber es fand sich nichts. Er blickte durch die Scheibe nach vorn. Die Betonmauer schoss rasend schnell auf ihn zu.
„...3...2...1..."