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Heinrich (6): Das Mädchen und der Wald
Das Mädchen stand mit seiner Mutter am Eck zur Bekstraße. Sie redeten darüber, welcher Weg der beste zur Schule sei und als ich schon fast an ihnen vorbei war, sprach die Frau mich an.
»Du, warte doch mal.«
Niemand sonst war auf der Straße, also meinte sie wohl mich und ich blieb stehen.
»Bist du auch auf der Sonnenhofschule?«
Ich nickte.
»Aha«, sagte sie und drehte sich dem Mädchen zu. »Siehst du? Da ist schon jemand, mit dem du zusammen zur Schule gehen kannst.«
Ich erwiderte nichts, wartete einfach und wusste nicht genau, was ich nun tun sollte. Das freundliche Gesicht der Frau verscheuchte meine Zweifel.
»Wie heißt du?«, wollte sie wissen.
»Heinrich.«
»Heinrisch … das ist aber ein sehr alter Name. Wie schön.« Sie deutete auf das Mädchen. »Das ist meine Tochter Patricia. Und ich bin die Jean.«
Sie sagte ‚Schann‘. Diesen Namen hatte ich noch nie gehört. Ich wunderte mich über ihre Art zu sprechen. ‚Heinrisch‘ hörte sich sehr seltsam an. Sie waren bestimmt nicht aus Pforzheim.
»Komm, Heinrisch, ich gehe mit euch beiden zur Schule. Du zeigst uns den besten Weg. Einverstanden?«
Ich nickte und Jean nahm ihre Tochter an die Hand. Wir überquerten die Straße zum Naumann-Weg. Ab hier standen nur neue Häuser. Flach, weiß und eines wie das andere. Nach ein paar Metern reichte mir Patricias Mama die Hand. Sie war voller Sommersprossen. Ich griff zu.
»Wir kommen aus Frankreich«, sagte sie. »Aus dem Elsass. Warst du schon einmal in Frankreich, Heinrisch?«
»Nein, noch nie.«
Ich zog an ihrer Hand und lenkte uns auf den Fußweg zwischen die Häuser.
»Gehst du jeden Tag denselben Weg?«, fragte Jean.
»Ja. Meine Mama hat gesagt, ich soll immer denselben Weg gehen, damit sie weiß, wo ich bin, wenn sie mir entgegenlaufen möchte.«
»Siehst du, Patricia? Wie bei uns. Tu iras à l'école avec Heinrisch tous les jours maintenant. D'accord?«
Ich staunte. Was für einen schönen Klang diese Worte hatten. Patricia nickte, schwieg aber.
»Das war Französisch, Heinrisch. Patricia kann noch nicht so gut Deutsch …« Sie blickte sich langsam um. All die gleich aussehenden Häuser, Autos, Straßenschilder. »Sag mal, Heinrisch … wie wäre es, wenn ihr jeden Tag zusammen zur Schule geht? Du kannst Patricia abholen. Würdest du mir diesen Gefallen tun?«
Ich hörte Jeans Worte, die sanfte Stimme, blickte auf meine Sandalen, die gelben Strümpfe, spürte ihre warmen Finger, wie sie meine kleine Hand umschlossen und fühlte mich neben ihr in einer schützenden Seifenblase.
»Ja, das mach ich gerne.«
Jean ließ kurz los, streichelte über meine Haare, dann schnappte ich wieder die Sommersprossen.
»C'est merveilleux. Merci beaucoup, Heinrisch. Vielen Dank.«
Ich grinste und wir überquerten die Carl-Schurz-Straße.
Stolz erzählte ich Mama von Patricia und ihrer Mutter ‚Schann‘, und dass die Familie aus dem Elsass käme, Patricias Mama Frau Reinhardt gebeten hätte, ihre Tochter neben mich zu setzen und wir nun zusammen in die Schule gingen.
»Sie reden Französisch und Deutsch, stell dir vor, Mama.«
Sie nickte und grinste.
»Dann hast du jetzt eine Freundin, nicht wahr?«
Ich wurde rot. Die Hitze stieg in meine Backen und Mama lachte.
»Das ist doch nicht schlimm, Heinrich. Thomas ist weggezogen und ich fand das gar nicht gut, dass du niemand mehr hattest. Jetzt kannst du Patricia helfen Deutsch zu lernen und hast jemand zum Spielen. Das ist toll.«
Ich fand das auch toll, brachte es aber nicht heraus, wollte lieber in den Boden versinken, wegen meiner roten Wangen.
»Macht ihr zusammen Hausaufgaben?«
»Ja«, bestätigte ich. »Frau Reinhardt hat gesagt, ich solle mit Patricia nach den Hausaufgaben immer noch eine halbe Stunde extra üben.«
»Also gehst du heute schon dorthin?«
Ich wurde plötzlich ganz nervös. Dachte ans Spielen, an Patricias Mutter und den schönen Klang dieser anderen Sprache. »Wenn ich darf, Mama?«
»Aber natürlich darfst du«, meinte sie. »Warum auch nicht? Wo wohnen sie denn?«
»Im Haus neben dem alten Doktor, der immer Klavier spielt.«
Sie überlegte kurz.
»Gut. Dann viel Spaß, Heinrich.«
Es brannte mir unter den Sohlen und ich machte mich auf den Weg.
Das Haus lag eine Straße unter der unseren. Ich musste nur wenige Meter laufen, schon war ich dort. Vom Gebäude selbst sah man nur wenig. Eine hohe Hecke mit sehr breiter Garageneinfahrt. Die Haustür war seitlich eingebaut und als ich zum ersten Mal klingelte, öffnete ein großer Mann mit schwarzen zurückgekämmten Haaren und einer sandfarbenen Uniform. Eine Menge bunter Streifen auf Schultern und Brust. Er lächelte ein kleines bisschen und hob seine flache Hand an die Stirn.
»Bonjour, mon général«, sagte er mit tiefer Stimme. Das war wohl Französisch.
»Guten Tag. Ist Patricia da?«
»Mais oui, aber ja doch. Komm rein.«
Er trat auf Seite und ich ging hinein.
»Du musst Heinrisch sein«, stellte er fest. Er sprach mit fester Stimme und war wesentlich größer als mein Papa. »Geh nur vor«, forderte er mich auf. »Patricia ist in der cuisine.« In der kwisin? Ah, Er meinte die Küche. Dort entdeckte ich sie am Tisch mit den Schulbüchern und ein paar Heften.
»Patricia, ma petite fille!«, rief ihr Papa hinter mir. Seine Schritte hörten sich an wie Schläge mit dem Hammer auf einem Steinboden. »Heinrisch ist hier. Jetzt wird gelernt.«
Sie sah auf und strahlte. »Allô, Heinrisch. Wie geht es dir?«
»Gut«, antwortete ich und setzte mich neben sie. Wir legten los, rechneten, schrieben, lasen, redeten und vergaßen fast zu atmen.
An einem der letzten Sommerabende holte Mama mich bei Patricia ab. Wir saßen am Tisch und büffelten Deutsch, indem ich ihr einen Satz aus der ‚Artus-Sage‘ vorlas und sie ihn dann wiederholte. Ich hörte Mamas Stimme an der Tür, dann stand sie mit Jean plötzlich in der Küche.
»Bitte, setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein, vielen Dank, Sie kümmern sich doch schon genug um Heinrich.«
Jean winkte ab und wir hörten auf zu lesen. Patricia knuffte mich unterm Tisch an den Oberschenkel. Ich grinste das Buch vor mir an.
»Und Heinrisch kümmert sich um Patricia. Ihr Deutsch ist schon viel besser geworden«, freute sich Jean. Ich musterte beide, Mama und Jean. Sie hatten wohl gleich viel Sommersprossen und fast dieselbe Haarfarbe. Ich dachte, dass es schön wäre, Jean als Tante zu haben, statt meines Onkels, der mich dauernd mit Spinnen ums Haus jagte.
»Heinrich hat erzählt, dass ihr Mann Soldat ist?«
Jean nickte. »Er ist Colonel bei den Husaren. Aber in der Kaserne sind momentan keine Wohnungen mehr frei, also haben wir das hier gemietet …« Sie zeichnete mit dem Finger ein paar Kreise auf den weißen Tisch. »Ich bin froh, dass wir hier wohnen und Patricia auf diese Schule geht. Französisch kann sie bei uns lernen, aber wir finden, es ist wichtig, auch Deutsch zu können«, erklärte sie. »Ich weiß nicht, ob sie das verstehen«, setzte Jean nach. Mama nickte unmerklich.
»Ich kann das sogar sehr gut verstehen. Ich glaube, Heinrich weiß gar nicht, dass er auch ein paar Worte Französisch spricht, wie alle hier im Badischen.«
Ich staunte.
»Wirklich, Mama?«, platzte es aus mir heraus. »Was denn?«
»Na, wenn Oma meint, du sollst von der Straße runter, sagt sie: Geh hoch aufs Trottoir, oder? Und wenn sie sich nachmittags hinlegen will, jagt sie dich vom Canapé. Stimmts?«
Patricia sah mich überrascht an und Jean lachte.
»Mein Mann und ich wünschen uns, dass Patricia und Heinrisch einmal zu den Menschen gehören, die diese furchtbare Erbfeindschaft begraben.«
Mamas Augen wurden groß. Sie sagte nichts, aber legte ihre Hand auf Jeans Finger, die wieder Kreise auf der Tischplatte fuhren. Ich wünschte mir in diesem Augenblick, hier einziehen zu können. Ein Zimmer neben Patricia, meine Mama und Tante Jean am Frühstückstisch, wie sie lachten und abwechselnd Deutsch und Französisch redeten.
»Danke«, sagte Mama leise und ihre Augen wurden feucht. »Gehen wir, Heinrich?«
Ich nickte und packte meine Schulsachen in den Ranzen.
Die Obstbäume im Garten bekamen gelbe Blätter. Von Tag zu Tag mehr. An einem dieser Tage klingelte ich bei Patricia. Jean öffnete und kniete sich vor mich.
»Guten Morgen, Heinrisch. Heute musst du alleine gehen. Patricia ist krank. Sie hat Fieber und einen ganz roten Rachen.«
Das traf mich. Krank? Schnell zog ich meinen Schulranzen ab, öffnete ihn und nahm die Blechdose mit den Birnenschnitzen heraus.
»Bitte. Meine Oma sagt, Birnen sind gesund.«
Jean sah mich an. »Aber nein, Heinrisch. Du musst ja auch gesund bleiben.«
»Ich bin gesund«, erwiderte ich und hielt die Dose hin. »Für Patricia«, beharrte ich.
Sie nickte. »Also gut. Sie wird sich freuen. Vielen Dank.« Jean nahm mir die Dose ab und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Ich fühlte mich sogleich wie Superman, lächelte und verschwand Richtung Schule.
Nach dem Unterricht wollte ich sofort Patricia einen Besuch abstatten. Aber ich müsste vorher Oma Bescheid geben und überlegte hin und her. Konnte ich Oma warten lassen? Aber wie lange? Vielleicht gab es ja auch bei Patricia etwas zu essen? Doch ich kam nicht mehr dazu, darüber nachzudenken. Am Ende der Staffel zum Naumann-Weg warteten die großen Jungs. Sie waren noch nicht mal mehr in der Grundschule. Es waren die ganz Großen. Zwei davon kannte ich, wusste, wo sie wohnten. Sie nahmen mich in die Mitte. Klemmten mich ein und meine Angst rauschte wie ein Wasserfall durch mich hindurch. Dann schubsten sie mich ein bisschen in die eine, dann in die andere Richtung. Schließlich marschierten sie los, ich mittendrin, keine Möglichkeit zur Flucht. Sie drängten mich in die kleine Seitenstraße am Hang zwischen zwei Büsche. Der eine zog mir den Schulranzen vom Rücken. Dann musterten sie mich.
»Heinrich«, begann schließlich der eine von ihnen. »Du kennst uns doch?«
Ich nickte.
»Du weißt, wir machen keinen Spaß. Oder?«
Wieder nickte ich und bekam einen Klaps ans Ohr.
»Reden. Nicht nicken. Kapiert?«
»Kapiert«, bestätigte ich.
»Gut. Pass auf!« Er hob den Finger. »Wir wissen, du hast eine neue Schulfreundin. Patricia heißt die. Wir möchten, dass du mit ihr in den Wald gehst …«
»In den Wald? Warum?«
Es gab einen Klaps aufs Ohr.
»Du kennst doch die alte Burg im Wald, die Kräheneck, oder?«
»Ja, kenne ich.«
Er nickte. »Sehr gut. Du sagst Patricia, dass du ihr mal die alte Burg zeigen möchtest. Jetzt am Samstag. Dann geht ihr dorthin und mehr musst du nicht machen. Ist doch einfach. Oder?«
»Ja, das ist einfach.« Meine Angst überschlug sich und ich konnte kaum ruhig sprechen vor lauter Aufregung. »Aber warum in den Wald?«
Sie lachten.
»Mensch, bist du doof«, sagte einer der unbekannten Jungs. »Findest du nicht, dass sie ein besonders schönes Mädchen ist?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich zögernd.
Wieder lachten sie. »Na, du bist halt noch grün hinter den Ohren. Aber wir wollen ja nix schlimmes. Sie soll sich mal ausziehen, und wir schauen sie uns mal an. Das war es dann. Ist doch nicht schlimm, oder?«
Ich spürte, wie sich meine Blase entleerte. Mein Gesicht explodierte förmlich unter der Glut in meinen Wangen.
»Igitt!«, riefen alle. »Du Drecksau! Hosenpisser!«
Dann griff sich einer meinen Hals, klammerte die Finger darum und drückte zu.
»Wenn du irgendjemandem was sagst, bist du tot. Verstanden?«
Ich nickte, denn ich brachte keinen Ton heraus. Nur noch Tränen. Sie stießen mich um und verzogen sich. Wie lange ich da lag, wusste ich nicht mehr. Irgendwann hörte ich Oma meinen Namen rufen. Ich stand auf und ging ihr entgegen.
»Ich gehe heute nicht in die Schule«, sagte ich zu Mama als sie mich wecken wollte. Sie schaute mich fragend an.
»Warum nicht? Ist dir nicht gut?« Ihre Hand fühlte meine Stirn. »Na, vielleicht ein bisschen Temperatur. Ich geh mal hoch zu Oma, das Thermometer holen …«
Mama verschwand und ich zog die Bettdecke über den Kopf, fühlte mich wie zwischen hohen Mauern eingekesselt. Der Druck war nicht auszuhalten. Ich übergab mich. Als sie wiederkam, seufzte sie und trug mich ins Bad.
»Also doch krank«, stellte sie fest. »Eine Magen-Darm-Grippe bestimmt. Na, ich mach dir gleich einen Fencheltee.«
Meinen Schlafanzug legte Mama ins Waschbecken und weichte ihn ein. Mich säuberte sie mit dem Waschlumpen. Als sie über mein Gesicht fuhr, begann ich zu weinen. Mama setzte sich vor die Badewanne und zog mich auf ihren Schoß, strich durch meine Haare, legte ein Badetuch um uns, aber sie sagte nichts. Das war es, was ich mochte. Doch nichts war nahe bei mir, alles weit weg, jeder Atemzug von ihr, die Finger streichelten eine andere Person. Das war nicht ich. Wohin war alles verschwunden? Wie ein Fremder stand ich neben uns und sah dabei zu, was passierte. Dort unten im Bauch dieses Jungen entdeckte ich Angst und einen Knoten aus Stein, so schwer wie ein ganzes Haus. Alle Gedanken dieses Jungen kreisten nur noch um ein Bild. Das eines nackten Mädchens im Wald, begafft von großen Jungs. Daneben ein kleiner Heinrich, der sich wünschte, zu sterben. Sommersprossige Finger streichelten diesen Jungen in den Schlaf.
Schweiß, ein Raum ohne Türen, die Wände kommen auf mich zu, darin große Augen, und ich nackt, neben Patricia, die mich kratzt und tritt, aber ich kann mich nicht bewegen, nur sprechen, auf Deutsch und sie auf Französisch. Wir verstehen uns nicht. Dann stehen wir auf einer Straße und Hände greifen nach uns. Ich ziehe Patricia in den Straßengraben, aber der wird immer größer. Weiter und tiefer, mit jedem Schritt, den wir hinein tun. Schließlich rutschen wir. Ich will sie halten, aber es reißt uns in eine Endlosigkeit. Ich erbreche und Patricia schüttelt mich, dann verschwindet ihr Bild und Mamas Gesicht ist unmittelbar vor meinem.
»Heinrich, was ist denn los?«
Sie hob mich aus dem Bett und wir gingen ins Bad. Ausziehen, Schlafanzug einweichen. Papa kam, gähnte und nahm mich Mama ab.
»Bring ihn bitte ins Zimmer, Rudolf. Zieh ihm einen neuen Schlafanzug an.«
Er nickte und es ging wieder in mein Zimmer. Bettdecke und Kissen waren zerwühlt, voller gelber Flecken.
»Na, da hast du dir aber ordentlich den Magen verdreht«, meinte er und setzte mich auf den Stuhl. Aus der Schublade meiner Kommode versuchte er einen Schlafanzug zu holen, aber sie klemmte und Papa ruckelte wie wild daran.
»Scheißdreck!«, fluchte er. »Das kommt davon, wenn man alles selbst baut und kein richtiges Werkzeug hat.«
Ich sah ihn und doch die Wand dahinter. Das Foto einer Dampflokomotive. Groß, schwarz und voller Kraft arbeitete sie sich über die Gleise. Fast konnte ich all die Geräusche hören. Sie wollen mich töten, dachte ich und konnte niemanden rufen. Superman oder Batman. Alle lebten nur in den Heften und siegten auf Papier. Mama und Papa wären dann ohne mich und ich ohne sie. Wieder kullerten die Tränen ohne anzuhalten an mir herunter. Papa riss den Knauf von der Schublade ab.
»So ein Dreck!«, rief er und Mama kam mit einer Tasse Tee. Sie starrte uns entgeistert an, atmete tief ein und schaute kurz an die Decke. Ihre Lippen bewegten sich, stille Worte. Dann begann sie, das Bettzeug zu wechseln. Ich spürte die Kälte kommen.
Mama sprach mit jemand. Es war dunkel. Im Zimmer und vor dem Fenster. Das Licht ging an und ich entdeckte einen Mann, Mama hinter ihm stehend. Er öffnete eine große Tasche und zog ein Horchgerät heraus. Es war ein Doktor.
»Hallo, Kleiner«, sagte er. »Weißt du, was das ist?« Er hob das Horchgerät hoch.
Ich nickte, sagte aber nichts. Warum ein Doktor? Ich war doch gar nicht krank.
»Das nennt man Stethoskop. Damit kann ich hören, ob in dir drin alles in Ordnung ist.«
Mama stellte ihm den Stuhl hin und er setzte sich, schob die Decke zurück, mein Oberteil zum Hals.
»Jetzt schaue ich mal, was da ist. Du musst ganz still sein.«
Ich war ganz still. Er setzte das Horchgerät auf meine Brust. Es war eiskalt und ich zuckte zusammen. Dann klopfte er hier und da, verschob es von links nach rechts. »Jetzt bitte tief einatmen …«, er lauschte, »und wieder ausatmen.« Wir wiederholten es ein paar Mal, danach drückte er mit den Fingern auf meinem Bauch herum und maß Fieber. Mit den Finger presste er eine Falte auf meiner Hand, hielt sie kurz und ließ los. Schließlich packte er alles ein, stand auf und stellte den Stuhl weg.
»Du bist kerngesund«, meinte er. »Auch im Magen blubbert nix, der Darm ist ruhig, kein Blinddarm-Reiz, die Lunge frei, das Herz pumpert zu meiner vollsten Zufriedenheit. Kein Fieber, keine glasigen Augen … hm, ich kann beim besten Willen nichts entdecken.«
Für einen Moment starrte er an die Decke, dann drehte er sich um und schob meine Mutter vor sich her aus dem Zimmer.
»Jetzt schlaf erst mal und trink den Fencheltee«, sagte er im Hinausgehen. Das Licht brannte und ich schaute auf die Lokomotive. Mama und der Doktor sprachen leise. Dann hörte ich die Tür und es wurde still. Drei Tage war ich nun schon daheim und wusste weder ein noch aus. Ob man durch denken an den Tod sterben kann? Ich versuchte an diesen Tod zu denken. Aber mir fiel auf, dass ich gar nicht wusste, wer dieser Tod war. War er ein Mensch? Wie sollte ich an etwas denken, von dem ich nicht wusste, wie es aussah?
Es war Freitag. Mama brachte mich in den ersten Stock zu Oma und ging zur Arbeit. Es gab Fencheltee, eine warme Bettflasche auf dem Bauch und als Oma staubsaugte, schlief ich ein. Opa war an diesem Tag arbeiten. Als ich aufwachte, saß Oma neben mir, stopfte Socken und Opas Hosen.
»Ich weiß gar nicht, wie man solche Löcher in seine Hosen reißen kann«, sagte sie und zeigte mir, was sie meinte. Für mich war es nur ein Loch. Oma schüttelte den Kopf. »Nur Arbeit hat man mit den Männern.«
Nichts von dem, was Oma sagte oder tat, blieb in mir hängen. Alles war wie ein D-Zug, der ohne Halt durch einen Bahnhof fuhr. Ich sah hinterher, ohne etwas tun zu können. Mir fehlen die Tränen, dachte ich, während Oma nähte. War ich leer? Kann man plötzlich ohne Tränen sein? Nur noch mit rumpelnden Schmerzen im Bauch, einem klopfenden Herz voller Angst? Oma stand auf und streckte sich.
»Ich muss mich hinlegen, Heinrich«, sagte sie stöhnend. »Kannst du ein bisschen alleine hier liegen?«
Ich nickte. »Ja, Oma. Kann ich.«
»Mir tun so die Füße weh …« Sie ging aus dem Wohnzimmer und dann hörte ich die quietschenden Federn ihres Bettes nebenan. Bald darauf ein leises Schnarchen. Ich stand auf und machte die Tür zu, setzte mich an den Tisch und zählte die Löcher in Opas Socken. Wie in Papas Schraubstock die Backen, so näherte sich Patricias Gesicht meinen Gedanken von der einen Seite und die Hand des Jungen um meinen Hals von der anderen. Niemals würde ich erwachsen werden wollen, wenn alles so bliebe wie jetzt. Kein Ausweg. Nichts, wohin ich konnte. Ich fühlte mich kleiner werden, ein Junge der aussah wie ich, schälte sich aus einem Nebel neben mir. Er lachte mich aus und der ich mal war, verblasste zusehends. Ich verschwand. Die Finger dieses Jungen spielten mit Omas Nadeln und dann sah ich, wie er eine dieser Nadeln in meinen Unterarm steckte. Einfach so. Rein und wieder raus. Noch mal hinein. Der andere Junge spürte nichts. So wie Oma mit der Stricknadel prüfte, ob der Kuchen fertig war. Noch eine Nadel. Die dritte, größere Nadel, in die Ellbogenbeuge. Eine in den Oberarm. Niemand mehr musste den verblassenden Jungen quälen, denn das tat er schon selbst und spürte dabei noch nicht mal etwas. In Omas Nähkasten gab es viele Nadeln. Eine steckte nun durch die Hose im Oberschenkel und die nächste wanderte in den Bauch – und diese kribbelte. Ganz so, wie es kribbelte, wenn man mit dem Bus über eine Straßenkuppe fuhr. Ein schönes, sanftes Kribbeln. Der Junge lehnte sich an die Stuhllehne und schloss die Augen. Vielleicht gab es ja gar keine Schmerzen? Vielleicht war ich ja schon tot. Nur durch nachdenken.
Der Junge zog alle Nadeln heraus und stand auf, verließ das Wohnzimmer, schaute kurz, ob Oma schlief, dann ging er hinunter in die Kellerwohnung. Er wusste, dass dort auch ein Nähkästchen stand. Langsam holte er die braune Holzkiste aus dem Schrank, klappte sie auseinander und entdeckte die Nadeln in einem Stoffkissen. Damit ging er ins Bad, stellte sich auf den Holzschemel und sah den, der er nicht mehr sein wollte. Ein blasses Kind mit geröteten Augen und flachsblonden Haaren. Ein anderer. Ein Fremder. Keinesfalls jener, der sich am Waschbecken hielt und diesem Kind nun Nadeln in den Bauch steckte. »Ich hasse dich«, sagte der vor dem Spiegel und wünschte sich, das Bild dort drin möge weinen oder Schmerzen haben. Wenn es nicht im Bauch weh tat, dann vielleicht im Hals. Doch auch diese Nadel fuhr ins Fleisch und da war nicht viel mehr als ein Kitzeln. Der davor lachte und dieses Nichts im Spiegel wusste nicht, wie ihm geschah. »Na warte!« Mit Wucht schlug der davor den Arm des fahlen Jungen im Spiegel auf die Kante des Waschbeckens. Ein zweites Mal und noch ein Schlag hinterher. So fest, dass alles brechen würde. Wie der Donner auf den Blitz, so folgte der Schmerz nach einem Atemzug mit grellem Leuchten und riss beide zu Boden, gefangen zwischen Wut und Ohnmacht. Ein Spiel im Zimmer, mit Papa. Licht an, Licht aus. Das Licht blieb aus.
Als ich wach wurde und in jedem Winkel ein Pulsieren erspürte, wusste ich, dass dies meine Befreiung war. Dieser Schmerz war keiner mehr. Nur noch etwas wie essen, trinken oder lesen. Ein Bruder und eine Schwester. Das war es, was der andere mir zuflüsterte. Ich stand auf und zog die Nadeln aus meinem Fleisch. Jedes Ziehen ein wunderbares Kribbeln. Draußen schien die Sonne. So hell und klar. Schnell wusch und trocknete ich alles ab und verstaute die Kiste wieder. Meine Kiste. Ich ging in Omas Garten. Alles um mich herum war so scharf gezeichnet, dass ich meinte, dies sei eine andere Welt. Und noch etwas wusste ich.
Mama kam von der Arbeit und holte mich bei Oma. Wir gingen schweigend in den Keller und sie packte die wenigen Lebensmittel aus, die sie auf dem Heimweg bei Edeka geholt hatte. Viel Fencheltee und Zwieback. Sie setzte sich neben mich, legte ihren Arm um meine Schulter und sah mir tief in die Augen.
»Weißt du, was der Doktor gesagt hat, als er fertig war?«
»Nein. Was denn?«
»Er meinte, vielleicht läge es an der Schule. Eventuell hättest du Ärger und dein Körper reagiert auf diese Art …«, sie musterte mich eindringlich. »Deswegen frage ich dich nun, ob da was dran sein kann? Hast du Ärger?«
Ich nickte. »Ja, ich habe Ärger«, gab ich zu und dachte an heute Morgen. Es gab keinen Schmerz mehr. Und so erzählte ich Mama alles von Anfang bis Ende. Sie sackte mehr und mehr in sich zusammen und wurde immer bleicher im Gesicht. Am Ende meiner Erzählung schwieg sie eine lange Zeit und kratzte ihre Finger, bis sie rot wurden. Dann stand sie auf, zog mich mit und wir gingen schnurstracks zu Patricia.
So endete meine kurze Freundschaft mit ihr. Zwar gingen Jean, Mama und ich am selben Abend zu der Familie des mir bekannten Jungen, aber sie warf uns hochkant hinaus. Dies würde ihr Sohn nie tun. Die Aussage eines kleinen Dreikäsehochs gegen die Aussage von vier Jugendlichen. Was also könnte da schon dran sein? Zu viel Fantasie? Wir zogen wieder ab und nach diesem Vorfall ging Patricia nicht mehr in diese Schule. Bald darauf zogen sie weg. Wohl zurück in die Kaserne. Ich musste wieder alleine in die Schule.