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HeinerMüllerProjektion

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27.11.2003
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HeinerMüllerProjektion

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Bühne. Schwarz. Müller und die anderen Toten warten auf der Gegenschräge.
Manchmal halten sie eine Hand ins Licht als lebten sie.
Müller tritt nach vorn. Wenn er ins Licht kommt, setzt er die Totenmaske auf.

MÜLLER: Ich war Heiner Müller. Ich war u.a. 65 Jahre alt. Ich habe ein/zwei Dutzend Puppen mit Sägemehl gestopft, das mein Blut war, einen Traum vom Theater in Deutschland geträumt und öffentlich über Dinge nachgedacht, die mich nicht interessierten. Das ist nun vorbei. Übrigens bin ich damit einverstanden. Ein Leben ist genug. Ich habe ein Zeitalter nach dem andern heraufkommen sehen, aus allen Poren Blut Kot Schweiß triefend jedes. Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel. Ich habe die Hölle der Frauen von unten gesehn: Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. 40 Jahre lang habe ich versucht, mit Worten mich aus dem Abgrund zu halten DAS WORT IM FLEISCH brustkrank vom Staub der Geschichte und von der Asche, die aus den Büchern weht, gewürgt von meinem wachsenden Ekel an der Literatur REICHUNG DER FOTOGRAFIE DES AUTORS verbrannt von meiner immer heftiger werdender Sehnsucht nach Schweigen. AM ANFANG WAR... ZERREIßUNG DER FOTOGRAFIE DES AUTORS
Auftritt Ophelia. Die Frau am Strick. Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern usw.
OPHELIA: Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer WORTE IN STEIN GEHAUN Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in ein tödliches Gift.
MÜLLER: Ich will eine Frau sein.
OPHELIA: Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham.
MÜLLER: Ich fange an, meinen Text zu vergessen, Inge. Ich bin ein Sieb. Immer mehr Worte fallen hindurch. Bald werde ich keine andere Stimme mehr hören als meine Stimme, die nach vergessenen Worten fragt. Bühnenarbeiter mit Schaufeln. Sie schaufeln die herunterfallenden Worte in ein Loch im Boden. Darf ich dir mein Gedächtnis zu Füßen legen?
OPHELIA: Wenn ich dein Herz essen darf.
MÜLLER: Aber mein Herz ist ein Ziegelstein.
OPHELIA: Damit dich der Fluß behalten kann.
MÜLLER: Ich werde es mir herausoperieren. Wozu habe ich ein Taschenmesser.
OPHELIA: Dann zeige mir dein Gedächtnis.
MÜLLER: Es liegt vor dir.
OPHELIA: Ein Loch? Dein Gedächtnis ist ein schwarzes Loch!
MÜLLER: Ja. Aber es wartet auf dich. Meine Geschichte.
Schweigen. Ophelia springt in das Loch.
MÜLLER: Ich habe keine Sprache für die Liebe. Einen Menschen lieben heißt ihn vergessen bis der Tod der ihn auslöscht ihn ins Gedächtnis ruft. Die Sprache der Vergewaltigten ist die Gewalt so wie der Diebstahl die Sprache der Armen und der Mord die Sprache der Toten ist. UNSEREN TÄGLICHEN MORD GIB UNS HEUTE DENN DEIN IST DAS NICHTS Unter der grauweißen Clownsschminke ist meine Haut schwarz JETZT WERDE ICH DICH WIEDER ZUR JUNGFRAU MACHEN MUTTER Ich bin meinem Vater einen Brief schuldig, einen Neujahrsbrief. Ich habe angefangen ihn zu schreiben, zwischen zwei Ehen, an einem Neujahrsmorgen in Berlin, 3/ 4/ 5 Jahre nach dem Weggang meines Vaters aus dem Staat, der seine Hoffnung und Enttäuschung war. Drei Jahre lang habe ich angefangen und aufgehört, den Neujahrsbrief zu schreiben. Ich habe meine Stimme zurückgezogen und mein nacktes Gesicht zurückgenommen hinter das (geschlossene) Gitter Visier der Dichtung, in die Maschine des Dramas. JETZT BINDE ICH DIR DIE HÄNDE AUF DEN RÜCKEN WEIL MICH EKELT VOR DEINER UMARMUNG JETZT ZERREIßE ICH DAS KLEID JETZT MUßT DU SCHREIN JETZT BESCHMIERE ICH DIE FETZEN DEINES KLEIDES MIT DER ERDE DIE MEIN VATER GEWORDEN IST MIT DEN FETZEN DEIN GESICHT DEINEN BAUCH DEINE BRÜSTE JETZT NEHME ICH DICH MEINE MUTTER IN SEINER MEINES VATERS UNSICHTBAREN SPUR DEINEN SCHREI ERSTICKE ICH MIT MEINEN LIPPEN ERKENNST DU DIE FRUCHT DEINES LEIBES HURE Ich will nicht wissen wo ich herkomme wo ich hingehe wer ich bin. Der Morgen findet nicht mehr statt. Ich spiele keine Rolle mehr. Ob der Brief geschrieben wurde oder nicht geschrieben, er wird nicht mehr gelesen werden, Sender und Empfänger sind unbekannt verzogen: in den Tod. ICH BIN MEINEM VATER EINEN SOHN SCHULDIG DIE SPRACHE DER SCHULDIGEN IST DAS VERGESSEN (Der Rest ist Schweigen.)
Licht aus.

 

Sehr beeindruckender Text! Hätte auch gut "Heinermaschine" heißen können.

Eine interessante Auseinandersetzung mit einem interssanten Dichter, ganz im Stil des "Meisters". Müller hätte er gefallen, glaub ich. Dass du sehr viel von ihm zitiert hast, ist ok, so hat er schließlich auch gearbeitet.

Vielleicht werde ich dich mal um das Aufführungsrecht bitten.

 

Danke für deine Meinung. Im übrigen ist alles zitiert -eine Collage aus allen möglichen Texten Müllers. "Es ist gar nicht so einfach, so wenig zu ändern" sagt er einmal, als man ihn darauf ansprach, warum er in seiner "Antigone" nur einen einzigen Satz gegenüber der Hölderlin-Übersetzung geändert hat.

Mein Text ist der Versuch, ihm das "Visier" vom Gesicht zu reißen, hinter dem der sich in Form seiner Zitat-Texte versteckt. Müller war ein lebender Toter, ein "Dämon unterm roten Stern", sagte mal jemand. Jetzt, als Toter, kann er endlich sagen, was ihn als Lebenden zum Schweigen brachte. Sein Schweigen ist allerdings Weltliteratur.

 

Aber du hast die Zitate teilweise verfremdet, oder? "Mein Herz ist ein Ziegelstein", zum Beispiel? Oder aus welchem Stück ist das?

Ich weiß nicht, ob du die von dir gewünschte Zielsetzung auf diese Art erreichst. Ich mein, du sagst, er versteckt sich hinter seinen Zitat-Texten. Du willst jetzt sein wahres Gesicht zeigen, indem du eben diese Texte neu montierst? Damit verstärkst du den Verfremdungseffekt doch nur.

Dennoch find ich deinen Text sehr interessant, seh ihn als eine Art kritische Hommage an HM. Weiter so! Du weißt ja: "Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert ist." ;)

 

"Mein Herz ist ein Ziegelstein" ist aus "Herzstück" - passenderweise. "Damit dich der Fluß behalten kann" ist von mir, bezieht sich auf Hamletmaschine, dort heißt es "Ophelia, die der Fluß nicht behalten hat." Ich kehre auch das um. Die Toten schlagen jetzt zurück, wenn man so will.
Aber du hast natürlich Recht, es liegt schon eine gewisse Bearbeitung vor, einfach, um so etwas ähnliches, wie einen Zusammenhang anzudeuten. Von Handlung kann (und darf) keine Rede sein. Aber ich wollte mich da so weit wie möglich raushalten. Und das ist, so verstehe ich auch Müller, gar nicht so einfach. Müllers Anliegen war immer u.a. die Zertrümmerung der Instanz des Autors. Er war nicht "Schöpfer", sondern Material, das für sich spricht.
Danke und Gruß

 

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