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Grasovka und Goldöl
Poliertuch und Ölkännchen in der Hand wandelte er durch die eng stehenden Regalreihen, richtete hier ein verbogenes Drähtchen neu aus, senkte dort die Tülle der Kanne in ein Scharnier und träufelte zähflüssiges Licht hinein - Goldöl. Vor dem Fenster eierte die Erde vorbei, alle anderthalb Minuten einmal, er konnte die Uhr nach ihr stellen, vielmehr: sie war seine Uhr. Tausend Jahre waren ein Tag und ein Tag tausend Jahre.
Er zog die Nachtigall auf, nicht weil es nötig oder an der Zeit war – sie sang immer, denn stets wanderte Dämmerung um die Welt – sondern weil er Lust hatte, sie in dem vielfältigen Stimmkonzert ein wenig lauter zu hören. Übermütig flatterte sie im Raum herum, bevor sie sich auf das Regalbrett neben die Katze setzte, und ihr Lied zum Besten gab.
Er lächelte, hier oben war die Welt noch in Ordnung, und irgendwann würde es auch ihr Abbild, das vor seinem Haus vorbeitaumelte, wieder sein. Dann würde der Leopard sich neben dem Böcklein lagern, und der Löwe Gras fressen wie ein Rind.
Während er Lappen und Kanne aufräumte, fiel sein Blick auf die leere Werkbank. Hatte hier gestern nicht noch sein neuester Prototyp gelegen?
Betriebsweihnachtsfeiern können unendlich grausam sein. Letztes Jahr, kurz nachdem ich in der Anwaltssozietät Deußen und Deußen meine erste Stelle als frischgebackener Strafverteidiger angetreten hatte, monologisierte die Frau des Seniorchefs stundenlang auf niedrigstem Niveau über alkoholisierte Jugendliche mit Migrationshintergrund – sie gebrauchte allerdings andere Wörter.
Nach einer Weile sagte ich nur noch ja und nein, wie ich dachte an den richtigen Stellen, während ich längst dem Streit über die EU-Erweiterung am Nebentisch zuhörte.
Irgendwann war sie beleidigt. Hatte ich etwas verpasst?
Dieses Jahr versuchte ich, dem zu entgehen, und setzte mich zu den Referendaren an den Katzentisch.
„Also wie Sie das gemacht haben, mit der Olsen-Tochter!“, haucht ein wasserstoffblondes Etwas, dessen Namen ich vergessen habe, während sie mich am Ellenbogen berührt, zu lang für einen Zufall.
„Die Situation war ja so was von ein-deu-tig, Susann Olsen, ihr wisst schon, die Tochter von dem Olsen, beim Marihuanakaufen von Zivilpolizisten festgenommen, aber unser Herr Schimowitsch hat sie anstandslos rausgehauen. In nur drei Tagen!“, ließ sie lautstark mit theatralischer Gestik die anderen am Tisch wissen, die Hand immer noch auf meinem Arm.
Szynomowicz, denke ich, aber es ist ohnehin hoffnungslos. Sie lernt es nie.
„Ein-ma-lig!“, kreischt das Etwas wieder, kirschrote, wulstige Lippen, zwei ständig wackelnde, riesige Brüste unter viel zu enger Bluse, man bräuchte sehr viel Grasovka, um sie sich schön zu trinken. Zumindest in einer Hinsicht vermisse ich Franziska.
Mein Handy klingelt, das nehme ich zum Anlass, um mich loszumachen, und zur Bar zu entfliehen. Franziska. Bestimmt wieder wegen des Hundes, der nicht fressen will, oder weil er die ganze Nacht jault. Mit schlechtem Gewissen drücke ich sie weg. Zwar vermisse ich sie so sehr auch wieder nicht, aber der Hund tut mir Leid. Vielleicht hätte ich ihr Homer nicht überlassen sollen.
Das Etwas verlässt den Katzentisch und verfolgt mich, ich quetsche mich schnell auf den einzigen freien Barhocker zwischen einen dunkelhäutigen Glatzkopf in Kleiderschrankformat und eine zierliche, schwarzhaarige Frau, die melancholisch in ihr Glas starrt. Wodka. Gute Idee.
„Haben Sie Grasovka?“
Der Barkeeper stellt einen Doppelten vor mich hin, der erste und einzige Alkohol an diesem Abend, ich habe noch eine einstündige Fahrt nach Dortmund vor mir. Hätte ich mal Franziska rausgeschmissen, anstatt selbst auszuziehen, dann könnte ich mit der Straßenbahn über den Rhein nach Oberkassel fahren, und fertig.
Das Etwas hat den Tresen erreicht und wird von Mike Tyson abgefangen. Ich sehe ihr tief in die Augen, lächle spöttisch und proste dann der Melancholie zu, deren zartes Gesicht mit den katzengrünen Augen mich an irgendein Mädchen erinnert, neben dem ich im Gymnasium gesessen war. War ich ihr nicht noch einmal während des Studiums auf dem Campus begegnet?
„Na sdorowje!“ Es schien mir zu Wodka zu passen, mehr habe ich nicht dabei gedacht, doch ihr Gesicht hellt sich schlagartig auf.
"Gowaritje parusski?“
„Da – nimnoga.“, schwäche ich meine Sprachkenntnisse sofort ab, doch das hindert sie nicht daran, loszusprudeln.
Dass sie Russin sei, Informatikerin, in der ganzen Welt gearbeitet habe, trotzdem sie in Kanada einem lukrativen Job nachgehen könne, aber dort lebe der Mann, den sie liebe, und der nichts von ihr wissen wolle, sie könne seinen Anblick nicht ertragen, nicht einmal das Bewusstsein, mit ihm in einem Land zu sein und ihn doch nicht erreichen zu können, weil er nur einer hirnlosen Schlampe hinterher geifere, und nun arbeite sie hier in Düsseldorf, in der Dependence eines Moskauer Softwareunternehmens, ohne ein Wort Deutsch zu können, sie fühle sich einsam und könne diesen wahren Adonis nicht vergessen …
Ich erinnere mich, diese Geschichte schon einmal über eine andere Frau gehört zu haben. Wie hieß sie noch - genau just jene auf dem Campus ...
Ich bestätige der Melancholie namens Oksana, dass sie eine schöne Frau ist, der Mann ein ausgemachter Trottel, und weil das ein Fehler war, den ich nur schwer wieder ausbügeln kann, sage ich irgendwann nur noch „da“ und „njet“, wie ich denke an den richtigen Stellen, während die Oksana einen Puschkin nach dem anderen wegkippt, und meine Konzentration zu den Aachenern am nächstgelegenen Tisch abschweift.
„Und dann hat Naz gebrüllt: Entschuldige bitte, du warst in meinem Arsch! Was glaubst du, wie still es auf einmal in der Galerie war, nur Kleemann, …“
Naz! So hieß das Mädchen! Welch bescheuerter Name! Dass es den mehr als einmal auf der Welt gibt ... . Ich war völlig überraschend vor der Mensa in sie hineingestolpert, sie war rot geworden und hatte etwas Unverständliches genuschelt, bevor sie genau so schnell verschwand, wie sie aufgetaucht war.
"Warum ist sie eigentlich so schnell gegangen?", fragt ein vorgealterter Hornbrillenträger, während er Krabbensalat aus seinem Bart zauselt.
"Weiß nicht. Sie wollte noch zu irgendjemand, ganz dringend. Die wird sich wieder so einen Blödsinn ausgedacht haben ..."
Oksanka hat sich eine Zigarette angesteckt und bläst mir den Rauch ins Gesicht, Tränen schießen mir in die Augen, die ich schnell wegwische, bevor sie seltsame Fragen stellt.
Es ist ein Krux, die Farbe meiner Körperflüssigkeiten zu erklären, wenn nicht einmal die Ärzte etwas herausgefunden haben. „Biochemisch alles in Ordnung, benutzen sie bunte Kondome, wenn ihre Partnerin sich daran stört.“
Doch Oksanka ist inzwischen viel zu betrunken, um irgendetwas zu bemerken.
Der Barmann fuchtelt vor ihren Augen herum und bedeutet ihr, die Kippe zu löschen.
„Was will er?“
„Hier ist Rauchen verboten, Oksanatschka. Du sollst dazu nach draußen gehen.“
Sie packt meinen Arm, klettert vom Hocker, sie hat Schwierigkeiten, sich gerade zu halten. „Scheiß Verbote! Satrucha! Komm, wir gehen!“
Ich zucke entschuldigend mit den Achseln, lege genug Geld für sie und mich auf den Tresen, und schleppe sie mehr nach draußen, als dass ich mich führen lassen.
Oksanka zerrt mich zu ihrem Wagen, einem chromsilbernen Mercedes SLK, und stochert vergeblich mit dem Schlüssel im Türschloss herum.
„Komm mit zu mir, Süßer ... wie heißt du eigentlich, wo kommst du her?“, lallt sie dabei. Dies ist eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt, ihr anzuvertrauen, dass ich Pole bin. Ich entwinde ihr den Autoschlüssel und verfrachte sie auf den Beifahrersitz.
„Wohin müssen wir?“
„Köln …“
Kölner Landstraße also. Oder Kölner Straße, Kölner Tor, Kölner Weg.
„Gotenstraße drei.“ Dann kippt sie zur Seite weg und schläft ein.
Zum Glück ist sie ein echtes Federgewicht, ich trage sie mehr zur Haustür, als dass sie geht, schleppe sie zu ihrer Wohnung in den ersten Stock und lege sie auf dem Bett ab. Die Füße auf dem Kopfkissen, das bemerke ich zu spät, aber egal. Oksanatschka wird mir verzeihen, dass ich gehe, ohne eine Telefonnummer zu hinterlassen.
Drei Stunden und eine horrend teure Taxifahrt später schleppe ich mich mit bleiernen Füßen die Treppe zu meiner bescheiden eingerichteten Zweizimmerwohnung in der Dortmunder Innenstadt hoch. Die Wohnungstür, die ich erst vor sechs Wochen habe frisch lackieren lassen, ist zerkratzt. Egal.
Auf dem Anrufbeantworter blinken fünf Nachrichten, während ich pinkle, höre ich sie ab. Drei mal Franziska wegen des Hundes, meine Schwester Patrycja wegen der Taufe ihrer Zwillinge und ein ehemaliger Kommilitone wegen der Informationen über Stalking, um die ich ihn gebeten hatte. Ich spüle, und will mir die Hände waschen, doch wo ist die Seife? Egal. Ich werde keine gekauft haben. Ich werde sie im Laden liegen gelassen haben. Ich fege die letzten, seltsam zerkaut aussehenden Krümel aus der Porzellanschale zusammen, reinige meine Hände und begebe mich zum Schlafzimmer.
Und dort liegt sie, so wie ich sie zurückgelassen habe, die Füße auf dem Kopfkissen, das schwarze Haar hängt wie ein Vorhang vor der Bettkante herunter und verdeckt ihr Gesicht. Nur das Kleid hat sie gewechselt, und ja, die Schuhe ausgezogen. Ich hebe den Vorhang und ziehe ihr Gesicht zu mir heran. Sie riecht wie ein mit Lambrusco ausgespülter Aschenbecher, mit der Kopfnote Arztseife. Vor wenigen Stunden war es noch Niaouli.
„Hör mal zu, Oksanatschka, das ist mein Bett, und ich würde jetzt gerne schlafen. Also bitte mach dich vom Acker. Wenn du willst, kannst du das Sofa nehmen.“
Die kleine Informatikerin schnarcht ignorant, ich betrachte sie genauer und stelle fest, dass ihr Gesicht seit Mitternacht eine erstaunliche Verwandlung durchgemacht hat. Das Kinn ist etwas geschrumpft und hat sich gerundet, die Nase ist kürzer und breiter geworden, die hervorstechenden Wangenknochen eingesunken, sie sieht jetzt viel mehr diesem Mädchen ähnlich, dieser, diese, wie hieß sie noch …
Egal, da uns beiden nicht nach diskutieren zumute ist, drücke ich sie etwas zur Seite, und schlüpfe neben ihr unter die Decke. Ihre Füße riechen besser als ihr Mund, dennoch schiebe ich die nackten Beine von mir weg, überlege es mir anders, und nehme sie fest in den Arm. Nicht, dass sie mir im Schlaf ins Gesicht tritt. Bei diesen Russinnen weiß man nie.
Es tut gut, wieder einen menschlichen Körper im Arm zu halten, ich schlafe schnell ein, und erwache erst wieder, als Oksanka oder Naz oder wie sie heißen mag, sich an meinen Boxershorts zu schaffen macht.
„Ich kratz deinen Schatten von der Wand!“, nuschelt es unter der Bettdecke, und „Pflaume!“, dann hat sie den Mund voll, und ich kann nur noch beten, dass sie schluckt, und es nicht daneben laufen lässt.
Fünf mal sauste die Erde am Fenster vorbei, dann stand Phyoras vor ihm, ein Paar Flügel schuldbewusst über dem Scheitel zusammengeschlagen, mit dem anderen Paar flatterte er nervös, während er mit den größten seinen mit Augen übersäten Leib bedeckte. Dass der Seraph ihn nicht wenigstens mit einem einzigen ins Gesicht sehen konnte! Dass er immer noch glaubte, man würde ihm das viergesichtigen Haupt abreißen! Dabei war es doch nutzlos, er lebte so oder so ewig, und wozu sollte ein kopfloser Engel dienen?
Er schwieg, um Phyoras die Möglichkeit zu geben, selbst mit der Sprache herauszurücken, und der gestand schließlich kleinlaut: „Er war so hübsch … ich wollte nur ein bisschen mit ihm spielen.“
„Und wo hast du ihn liegen gelassen?“ Er wusste es genau, doch er fragte um Phyoras’ Willen.
„Ich … ich glaub, ich hab ihn gestern auf der Erde verloren.“
„Dann geh und such ihn!“
„Auf der ganzen Welt?“, schrie der Seraph entsetzt, doch schnell wurde ihm klar, dass ihm nichts anderes übrig bleiben würde. Man musste die Prototypen spätestens jeden zweiten Tag aufziehen und wöchentlich ölen.
„Halt eben alle deine Augen offen, du hast ja genug!“ Mit einer Handbewegung scheuchte er Phyoras hinaus, doch als er sah, dass der kein weiteres Widerwort gab, sondern geknickt von dannen schlich, überlegte er es sich anders.
„Warte!“ Er winkte ihn zur Werkbank. „Nimm dort die Lupe!“ Mit diesen Worten öffnete er das Fenster, und als die Erde das nächste Mal vorbeischlingerte, fing er sie mit einem Kescher ein.
„Ich muss das ganze Universum anhalten“, dachte er noch „sonst kommt alles durcheinander!“, im gleichen Moment standen Raum und Zeit still.
Mit einem Schlag ist Naz wach. Ihr Herz schlägt bis zum Hals, ihr Schädel dröhnt, ein galliger Geschmack im Mund. Hatte nicht die Erde gebebt? Draußen rumpelt eine Straßenbahn vorbei. Erleichtert lässt sie sich ins Bett zurück sinken. Noch mal wegdösen … das zerfledderte Kuschelkissen im Arm … wo war … was war …
Sie tastet neben sich, ihre Finger finden einen feuchten Fleck.
Ganz langsam sickert der gestrige Abend in ihr Bewusstsein zurück.Sie war auf dieser Vernissage. Taxifahrt von Aachen nach Dortmund. Janek nicht zuhause. Sich selbst mit dem Schlüsseldienst reingelassen. Die Nacht. Der Morgen.
„Ach du große, verfickte Scheiße!“ Sie springt aus dem Bett, das nicht ihres ist, und sucht hastig nach den Stilettos. Irgendwo rauscht eine Dusche. Das Telefon klingelt. Nichts wie weg, bevor Janek im Flur erscheint, oh Gott, sein Astralkörper so früh am Morgen, das erträgt sie nicht!
Es klingelt und klingelt, schließlich geht der Anrufbeantworter dran. Eine verhauchte Stimme, die sofort Hass in ihr weckt, und den Gedanken an Wick blau.
„Janek? Janek, bist du da? Wenn du zuhause bist, geh bitte dran!“
Befriedigt registriert Naz, dass die Wick-blau-Tussi panisch klingt.
„Homer ist verschwunden – spurlos – ich war schon im Tierheim und bei der Polizei, und bei den Nachbarn, und keiner hat ihn gesehen, ich weiß nicht mehr …“ Dann beginnt sie zu heulen. Naz nimmt ganz vorsichtig den Hörer auf, und lässt ihn auf die Gabel zurücksinken. Es tutet dreimal laut, dann ist die Leitung still.
Auf Zehenspitzen schleicht sie zum Bad, wo außer dem Wasserrauschen nichts zu vernehmen ist.
„Janek?“
Kein Laut.
"Janek?"