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Geliebte Tochter
Geliebte Tochter,
heute musste ich an den Tag denken, an den du geboren wurdest. 12 Jahre ist es bereits her. Um ehrlich zu sein, du warst kein schönes Baby. Zu großer Kopf, zu sehr hervorquellende Augen, und ein klein bisschen zu dick, sogar für ein Baby. Aber natürlich fand dich jeder wunderschön, warst der plötzliche Mittelpunkt der Welt, unserer Welt, warst ein Wunder. Neun Monate hast du dich im Bauch deiner Mutter versteckt, neun Monate hast du uns Zeit gelassen, unser Leben komplett umzukrempeln, aufzuräumen, neu herzustellen. Nur um dann, als du den ersten Schrei im Kreissaal losgelassen hast, zu wissen, dass man sich gar nicht genug auf ein Kind vorbereiten kann. Weil wenn es dann tatsächlich da ist, ist sowieso alles anders.
Ich denke nicht, dass du mich anfangs leiden konntest. Immer, wenn ich dich auf den Arm nehmen wollte, hast du geschrien, hast gequängelt, die kleinen Händchen zu Fäusten geballt, der Kopf ist rot angelaufen. Warum, das habe ich bis heute nicht herausgefunden. Vielleicht hast du gespürt, dass ich nicht viel mit dir anfangen konnte. Versteh es nicht falsch, das lag nicht an dir, sondern allein an deinem Baby-Sein. Die meiste Zeit hast du geschlafen oder einfach nur die Welt um dich herum angestarrt. Oder du hast in die Windel geschissen und dabei herzhaft jauchzende Laute von dir gegeben. Ich fand das weniger lustig, weil meistens war ich es, der dich wieder sauber machen musste. „Ich muss nachts aufstehen, also bist du fürs Windel-Wechseln zuständig“, hat deine Mutter immer gesagt. Und wer war ich schon, um deiner Mutter zu widersprechen? Schließlich hat sie dich unter Schmerzen aus ihr raus gepresst, und ich fühlte mich irgendwie schuldig, also hab ich eben deinen Popo saubergewischt. Als 24-jähriger konnte man sich zwar Schöneres vorstellen, aber schließlich warst du meine Tochter, und was tut man nicht alles für seine Kleine.
Aber ich habe mich verändert. Vater-Sein verändert. Wie sehr bin ich zum Mann geworden, während du zum Kind wurdest. Manchmal schien es mir, als würde unsere Reifung parallel vonstattengehen, würden wir zu jemand anderem werden, ohne es selbst zu merken. Du lerntest gehen, ich lernte, Verantwortung zu übernehmen. Du lerntest reden, ich lernte zu argumentieren. Du lerntest die Welt kennen, ich lernte, was Liebe wirklich bedeutet. Was im Grunde genommen nicht so sehr unterschiedlich ist. Die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter erschüttert einen Mann in seinen Grundsätzen. Was gestern noch so wichtig erschien, war heute seltsam verschwommen. Wer gestern Gott war, war heute nur noch Mensch. Du kleiner Zwerg hast mein Leben grundsätzlich verändert. Damals und heute.
Ich weiß, du wirst auf diesen Brief nicht antworten. Und trotzdem möchte ich dir schreiben. So lange, bis wir uns endlich wieder sehen. Bald. Der Gedanke daran lässt Unruhe in mir aufkommen. Wohlige Unruhe. Wie kann man sich so sehr auf etwas freuen, wenn man gleichzeitig etwas so sehr fürchtet?
In Liebe,
Dein Vater
Geliebte Tochter,
seit langer Zeit habe ich gestern wieder mal mit deiner Mutter telefoniert. Ehrlich gesagt weiß ich schon gar nicht mehr, um was es ging. Um die Kündigung irgendeines Zeitschriften-Abos oder so. Unfreiwillig komisch, um welche Dinge man sich auch nach einer Scheidung immer noch kümmern muss.
Deine Mutter war nie eine jener Frauen, die alles selbst in die Hand nehmen. Ich war immer derjenige in der Familie, der sich um alles kümmern musste. Rechnungen. Den Mist rausbringen. Den Garten instand halten. Glühbirnen auswechseln. Ich war der Mann im Haus. Und ja, das hat mir gefallen. Hat mein männliches Ego gestärkt. Ich war der Mann, der sich um Haus, Hund, Frau und Kind kümmerte. Klingt vielleicht konservativ, war aber alles, was ich mir wünschte. Ein Familienoberhaupt zu sein.
Familie. Seltsam, wie das Wort plötzlich klingt. So leer. Nichts sagend.
Kinder glauben bei Scheidungen ja oft, sie seien der Grund, wieso sich Mama und Papa nicht mehr verstehen. Ist natürlich meist Unsinn. In unserem Fall stimmt es jedoch. Ja, du warst der Grund, wieso wir uns scheiden ließen. Du warst Schuld. Aber ich bin dir nicht böse. Du hast es ja nicht mit Absicht getan. Aber nach allem, was passiert ist, war eine Kluft zwischen deiner Mutter und mir. Nein, es hat uns nicht zusammengeschweißt. Es hat uns auseinander gerissen.
In Liebe,
Dein Vater
Geliebte Tochter,
heute ist wieder einer dieser Tage. Ich bin wütend auf alles und jeden. Auf meinen Chef, den ich für meinen sinnlosen Job verantwortlich mache. Auf Onkel David, weil er mich jeden Tag anruft, und ich das einfach nicht aushalte. Auf deine Mutter, weil sie weg ist. Auf dich, weil du nicht da bist. Auf mich, weil ich es zulasse, wütend zu sein.
Ich bin wütend, enttäuscht, müde. Müde des ewigen Kampfes. Gott, bin ich müde. Ich möchte mich einfach nur ausruhen.
In Liebe,
Dein Vater
Geliebte Tochter,
die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter ist … ich denke, es gibt nicht einmal Worte dafür. Bis du in meine Welt kamst, bin ich in der Welt herumgewandert, ziellos, wie in Watte gepackt. Durch dich hat mein Leben einen Sinn bekommen, bin ich Vater und Ehemann geworden, hab meinen Platz in der Welt gefunden, hab meinen Fußabdruck hinterlassen. Ich liebe dich mehr als mein eigenes Leben. Nein, nicht nur das. Für dich würde ich mein Leben geben. Dich aufwachsen zu sehen zu einem glücklichen Menschen mit einer Zukunft, die alles bereithält, was man sich wünscht, hat meine Seele erfüllt, mein Herz springen lassen, mich zum glücklichsten Mann auf der ganzen Welt gemacht. Ich bin, weil du bist.
In Liebe,
Dein Vater
Geliebte Tochter,
weißt du noch, wie wir zusammen immer wieder „Wannabe“ von den Spice Girls gesungen haben? Du warst wie besessen von dem Lied, hat es immer und immer wieder vor dich hin gesungen. Mit einem Englisch, das nur du verstehen konntest. Und ich musste mit klatschen und mit grölen. Du hast mich an den Händen gefasst und wir haben miteinander getanzt. Die Tochter mit dem Vater.
Heute habe ich das Lied zufällig im Radio gehört. Mein Gott, wie ich dieses Lied hasse.
In Liebe,
Dein Vater
Geliebte Tochter,
ich habe mich heute krankgemeldet, war nicht in der Arbeit. Morgen wieder. Morgen. Im Aufschieben von Dingen war ich immer schon Meister. Morgen, morgen, nur nicht heute.
Ich war heute am See, bin spazieren gegangen, am Ufer gesessen, den Anglern zugeschaut. Weißt du noch, als wir stundenland hier gesessen sind und du immer vor Wut geheult hast, weil dir die Fische so leid taten, die am Anglerhaken zuckten? Am liebsten wärst du zu den Anglern hinübergelaufen mit deinen kurzen Beinchen und hättest alle Fische wieder ins Wasser geworfen. Wir haben an diesem Platz am Seeufer, an unserem Platz, über Gott und die Welt geredet. Auch wenn du noch ein Kind warst, erst in der Volksschule, warst du meine liebste Gesprächspartnerin. Du hast komplizierte Dinge so einfach gemacht, nur in schwarz und weiß unterteilt, keine Grauzonen, die das Leben so kompliziert machen.
Ich bin in den letzten Wochen öfters hier her gekommen, um nachzudenken. Ich kam immer dann hier her, wenn ich das Gefühl hatte, die Welt sei so sehr geschrumpft, dass ich nicht mehr atmen kann. Und dann lasse ich meine Gedanken treiben, überallhin, gehe auf Reisen, bin überall, nur nicht hier. Und ich denke an Engel, unwillkürlich, aber immer zu.
In Liebe,
Dein Vater
Geliebte Tochter,
als ich heute von der Arbeit nach Hause fuhr – ein weiterer langweiliger Büro-Arbeitstag -, kam ich an einer Unfallstelle vorbei. Schreckliches Bild, das sich einem da bot. Zwei Autos, bis zur Unkennbarkeit zerstört. Drei Menschen, liegend neben der Fahrbahn. Zwei Erwachsene, ein Mann und eine Frau, und ein Kind. Ein Junge. In deinem Alter, ungefähr. Und viel Blut, überall. Dazwischen wuselten Polizisten und Rettungssanitäter umher, sperrten die Unfallstelle ab, trugen Bahren herbei, telefonierten. Vorbeifahrende Autos wurden langsamer, manche Beifahrer streckten neugierig ihren Kopf aus dem Autofenster.
Seltsam. Man sagt immer, ein Autounfall wäre so schrecklich, dass man einfach hinsehen müsse, auch, wenn man es gar nicht wollte. Bei mir ist es anders. Ich verringerte meine Geschwindigkeit nicht, hatte die demolierten Autos, die Verletzten, die Polizisten, die Sanitäter nur im Augenwinkel und konzentrierte mich weiter auf den Verkehr. Stieg sogar ein bisschen aufs Gas. Aber hinschauen, nein, das tat ich nicht.
Am Abend in den TV-Nachrichten habe ich erfahren, dass die Frau die Mutter des Jungen war. Der Mann saß im zweiten Auto und hatte den Unfall verursacht. Geisterfahrer. Die zwei Erwachsenen überlebten, der Junge war tot. Es ist einfach nicht richtig, wenn Eltern ihr Kind begraben müssen.
In Liebe,
Dein Vater
Geliebte Tochter,
Wenn du weißt, du hast verloren, kommt die Trauer. Wenn du weißt, du hast den Sieg abgegeben, dann trauerst du. Diese Trauer breitet sich wie eine schwarze Decke über dich, und dann kannst du nichts mehr. Nicht mehr atmen, nicht mehr lachen, nicht mehr leben. Denn die Decke ist über dir, und manchmal ist es einfach zu schwer, sie abzustreifen. Denn eigentlich wollen wir nur leben. Auch wenn genau dies das Schwierigste auf der Welt ist, dann wollen wir eigentlich genau das. Denn wenn es zu spät ist, wissen wir, was wir wollen, nämlich genau das, was wir nicht mehr haben können. Und dann läuft das Leben nur noch an dir vorbei. Weil wir nicht mehr die Kraft haben, daran teilzunehmen. Denn die Trauer ist einfach zu stark. Trauer ist stärker als alles andere.
Plötzlich weißt du, dass du nicht stimmst. Weil manchmal wissen wir es einfach. Das Leben wird nie mehr so sein, wie es einmal war. Und dann wissen wir wieder, dass wir doch eigentlich nur leben wollen. Wozu du aber jetzt nicht mehr im Stande bist. Und dann fragen wir uns, warum es passiert. Warum es uns passiert. Warum es überhaupt passiert. Denn für manches kann es keinen Grund geben. Oder verstehen wir ihn einfach nur nicht? Sind die Regeln des Lebens so sehr irrational, so sehr über uns stehend, dass wir es einfach nicht mehr verstehen? Doch, es muss einen Grund geben. Doch verstehen tun wir ihn trotzdem nicht. Und dann fallen uns plötzlich unsere Träume wieder ein – unsere Träume, die plötzlich so weit weg, so unerreichbar erscheinen. Weil wir wissen, dass es nun zu spät ist. Für so vieles. Zu spät um zu sagen „Ich liebe dich“, zu spät um so vieles gut zu machen, so vieles zu erleben, zu spät, um zu fühlen.
Und das Leben geht einfach weiter. Du willst stark sein, doch irgendwie kannst du es nicht. Du kriegst es einfach nicht hin. Die simpelsten Dinge werden zur Qual, du hast die Kraft nicht mehr dazu. Denn es ist vorbei. Und du weißt es. Du weißt es einfach. Es ist vorbei. Zu spät. Und plötzlich will man, dass es wieder wie früher ist. Früher. Und nicht zu spät.
Frühere Zeiten kommen einem vor, wie aus einem anderen Leben. Oder als ein Leben von einem anderen. War das damals wirklich ich? Der, der gelacht hat? Der, dem nichts unterkriegen konnte? Der, der das Leben genoss? Der, der ich war? Es kommt einem so unwirklich vor, dieser Teil seiner Selbst, so als würde man ihn nicht mehr kennen. Nicht mehr wiederfinden. Das tut weh, manchmal so weh, dass man plötzlich wieder weiß, es ist vorbei. Und dann kommt wieder die Trauer.
Du versuchst, positiv zu denken. Es wird alles wieder gut. Es muss doch alles wieder gut werden, nicht wahr? Sag, dass alles wieder gut wird. Bitte sag, dass es vorbei geht. Dass ich mich nicht mehr krampfhaft ablenken muss, nur um noch zu fühlen, dass ich am Leben bin. Nur um nicht in Tränen auszubrechen, wie es so oft passiert in letzter Zeit. Weil dir plötzlich bewusst wird, dass du es in vergangen Zeiten so gut hattest. Und dass diese Zeiten nie mehr wieder kommen werden. Man schätzt es erst, nachdem einem alles genommen wurde.
Irgendwann kannst du einfach nicht mehr. Irgendwann ist es genug.
In Liebe,
Dein Vater
Geliebte Tochter,
alle Vorbereitungen sind getroffen. Ich freue mich auf dich!
In Liebe,
Dein Vater
Geliebte Tochter,
Man sagt, wenn die Eltern sterben, spürt das Kind seine Sterblichkeit. Aber wenn das Kind stirbt, verlieren die Eltern ihre Untersterblichkeit.
Ein einzelner Moment kann dein ganzes Leben verändern. Dann ist nichts mehr, wie es war. Plötzlich ist alles dunkel. Auch wenn es draußen hell ist. Plötzlich wird es zu viel. Du weißt, wenn das Ende gekommen ist. Du weißt, wenn es Aus ist. Und es tut weh, mehr weh, als du es dir je vorstellen konntest. Du weißt, wenn es nicht mehr weitergeht. Wenn es sich so nicht mehr lohnt zu leben.
DU allerdings, du wolltest immer leben. Bist jedem neuen Tag mit einem Lächeln begegnet, bist in den Wiesen, unter der hellen Sonne, herum gesprungen, und wusstest schon so früh, dass das Leben so wertvoll ist. Dass es wertvoll ist, zu leben. Es ist ein Geschenk.
DU warst mein Geschenk.
Und dann geschah es, am 11. März vor zwei Jahren, ein Tag eigentlich wie jeder anderer. Ein Tag, begonnen wie so viele zuvor. Nur nicht endend wie so viele zuvor. Denn du hast das Auto nicht gesehen, als du die Straße zu deiner Schule überqueren wolltest. Oder hat dich der Fahrer nicht gesehen? Aber Gott hat dich gesehen, oder? Er muss dich gesehen und in dem Moment entschlossen haben, dich zu ihm zu holen und einen weiteren Engel auferstehen zu lassen. Ansonsten wäre der Rettungstransport nicht zu spät gekommen, ansonsten hätte mich deine Mutter nicht in der Arbeit unter Tränen angerufen. Ansonsten wäre mein Leben nicht zerstört worden.
Seit jenem Tag wünsche ich mir, ich sei auch tot. Zu leben kam mir nicht mehr mutig, nicht mehr erstrebenswert, sondern nur noch sinnlos vor. Und doch hat es bis jetzt gedauert, bis ich entschlossen habe, zu dir zu kommen. Für immer bei dir zu bleiben. Im Himmel sind wir wieder vereint, sind wieder Vater und Tochter, sind wieder eine Familie.
All diese Briefe habe ich dir ans Grab gelegt, habe mit dir kommuniziert, ohne Antwort zu erwarten. Jetzt muss ich nicht mehr schreiben. Weil wir nun endlich wieder zusammen sind.
Vor einer Stunde habe ich einen Tablettencocktail zu mir genommen. Ich langweile dich nicht mit komplizierten Medikamentennamen, ich weiß, wie sehr du das hasst. Dazu habe ich Wein getrunken, meine Lieblingssorte, jenen, den sich deine Mutter und ich so gerne dann und wann abends gegönnt haben, nachdem wir dich ins Bettchen brachten.
Die Wirkung müsste bald einsetzen. Das Zimmer rund um mich beginnt, sich zu drehen. Fängt es so an? Fängt so das Ende des Lebens an? Dass man Farben, Konturen, Gerüche nicht mehr erkennt, nicht mehr auseinander halten kann?
Ich beginne, schwer zu atmen. Ich glaube, ich muss mich nun auf mein Bett legen. Die Augen schließen, mich ausruhen. Mich auf meine Reise bereit machen. Meine Reise zu dir, meine geliebte Tochter. Denn hier, in einer fahlen, leeren Welt, ohne dich, gibt es nichts mehr zu tun.
Hab ich zu viel gesagt? Mir fallen keine Worte mehr ein.
Ich