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Flip und das ungesühnte Verbrechen
Warum müssen die Kinder auf dem Karussell immer essen? Mühsam ist es, die Lebkuchenkrümel, Liebesperlen und Brezelreste aus den kleinen Fahrzeugen zu entfernen. Flip schmerzt der Rücken vom Bücken und Saubermachen. Er räumt Besen und Eimer auf, verstaut beides unter dem Kassenwagen. Außer den Markthändlern ist niemand auf dem Platz. Er kann in die Kasse sitzen und sich aufwärmen. „Hallo Flip noch nichts los?“ Begrüßt ihn seine Chefin.
„Nein, es ist niemand da.“ Flip setzt sich, schaut zu wie sie die Fahrchips und das Wechselgeld herrichtet. Sein Blick bleibt an ihrer rechten Hand mit den beiden Eheringen hängen. Vor fünf Jahren ist ihr Mann gestorben. Von einer Leiter gestürzt, als er Lichterkappen auswechselte.
„Einen Fahrchip bitte.“ Die erste Kundin steht vor der Kasse.
Bald ist das Karussell halb voll. Flip steht auf um die Chips einzusammeln.
Er fängt mit dem Feuerwehrauto an. Drei von vier Sitzplätzen sind belegt.
„Fahrchip bitte.“ Flip streckt die Hand aus. Ein Junge, wie ein Wesen aus einer anderen Welt, hebt den Kopf. Er kann die Augen des Kindes nicht sehen. Die Lider verdecken bis auf einen Schlitz die Pupillen. Sein Gesicht ist nach innen gedrückt. Das Händchen, das Flip den Fahrchip hinhält, ist an den Schultern angewachsen. Ein Durcheinander von winzigen Fingern. Er lächelt das Kind an und nimmt den Chip.
„Dankeschön.“
„Bitte.“
Das Kind versucht nach der Feuerwehrglocke zu greifen, doch die Entfernung ist zu groß. Flip zeigt auf einen roten Knopf neben dem Lenkrad.
„Schau, hier kannst du hupen.“
Die schmalen Lippen deuten ein Lächeln an, der Junge bückt sich zu der Hupe, um es selbst zu versuchen. Tatütata, immer wieder drückt er.
Runde um Runde sammelt Flip die Fahrkarten ein.
Es ist Feierabend. Heute würde er nicht wie sonst zu seinem Wohnwagen fahren, sondern in die benachbarte Großstadt. Ein Treffen mit Kollegen von anderen Kirmesgeschäften. Die Jungs sah Flip sonst nur, wenn sie auf einem der großen Volksfeste standen. Es war eine spontane WhatsApp-Idee gewesen, um Dart zu spielen. Flip steigt in den Opel. Er liebt es, Auto zu fahren, Gas zu geben, unabhängig zu sein. Ein Vergnügen, dass er seiner Chefin verdankt.
„Es ist dein Firmenwagen“, hatte sie lächelnd zu ihm gesagt. Wärme steigt in ihm auf und er erinnert sich an den Tag vor fünf Jahren. Sie war zu ihm ins Johanneshaus gekommen, einem Übergangsheim für Obdachlose. Sie suchte einen Mitarbeiter. Er war neunzehn gewesen und hatte eineinhalb Jahre auf der Straße gelebt. Flip war so froh gewesen von den alten Säufer, den täglichen Streitereien, den Geruch von verpissten Hosen und ungewaschenen Körpern weg zu kommen.
Während der Fahrt zu seinem ersten Arbeitsplatz, erklärte sie ihm, was von nun an zu seinen Aufgaben gehörte. Das Karussell aufzubauen, zu putzen, Chips einsammeln… und du wirst den Führerschein machen. Mit großen Augen hatte er sie angesehen, „Ich habe doch kein Geld.“
Das lass mal meine Sorge sein. „Ich brauche jemanden, der meine Transporte fährt. Wenn du einverstanden bist werden wir damit deinen Führerschein verrechnen.“
Und wie er einverstanden war.
Als er am Abend den kleinen Wohnwagen bezog, konnte er sein Glück kaum fassen. Alles war so sauber. Ein Tisch mit einer Polstereckbank. Ein abtrennbarer Schlafraum. Eine Nasszelle mit Dusche und WC. Ein Kleiderschrank, in den er seine Habseligkeiten einräumte und sogar ein Fernseher. Wasserkocher, Mikrowelle. Die Schränke waren eingeräumt mit Tassen, Tellern und Töpfen, Besteck und alles, was man sonst noch brauchte, um auf dem Gasherd zu kochen. Im Kühlschrank fand er Wurst, Käse und Margarine.
Noch nie in seinem Leben war er so umsorgt worden. Später, als er in dem frisch bezogenen Bett lag, dachte er an die Worte seiner Chefin.
„Ich erwarte von Ihnen, dass Sie ihre Aufgaben ordentlich erledigen. Und Ehrlichkeit. Wenn Sie dazu bereit sind, werden wir gut miteinander auskommen.“
Er hatte sich ganz fest vorgenommen, sie nicht zu enttäuschen.
Die Dreie sind schon da, als er die Kneipe betritt. Mit lautem „Hallo“ begrüßen sie ihn.
Es ist ein schöner Abend, bis der Alkoholpegel steigt und mit ihm die Reizbarkeit seiner Kollegen. Immer häufiger landen die Dartpfeile nach einem missglückten Wurf wutentbrannt auf dem Boden.
„Jungs, für mich wird es Zeit, muss morgen wieder arbeiten.“ Flip steht auf.
„Wiiiee? Du kannst doch jetzt noch nicht geeehhen!“ Die Stimme von Matze klingt schrill, blutunterlaufene Augen starren ihn an. Flip weiß, er ist der gewalttätigste, oft in Schlägereien verwickelt. Begütigend klopft er ihm auf die Schulter.
„Ich warte noch, bis du dein Bier ausgetrunken hast, dann fahre ich euch nach Hause.“
„Jetzt komm, noch eine Runde, dann kommen wir alle mit“, wirft Bastian ein, der unbedingt sein verlorenes Dartspiel wettmachen will.
„Leute, ich muss morgen früh aufstehen und …“ Weiter kommt Flip nicht.
Laut äfft Matze ihn nach: „Leute, ich muss morgen früh aufstehen und meinem Job nachgehen, den ich gar nicht hätte, wenn der liebe Matze nicht ein bisschen an der Leiter gerüttelt hätte, auf dem der Arsch von Helmut war.“
Am Tisch ist es mucksmäuschenstill. Alle starren Matze an.
„Was hast du gemacht?“ Unbewusst flüstert Flip, als wenn er das Ungeheuerliche dieser Tat nicht laut aussprechen kann.
„Nichts hat er gemacht“, wirft Tim ein. „Der ist besoffen und redet Blödsinn.“
„Ja, natürlich redet der Blödsinn!“ Mit einem Augenrollen und einer abwinkenden Geste, versucht Bastian ebenfalls die Situation zu entschärfen.
Doch Flip ist nicht bereit, das Gehörte zu vergessen. „Du hast den Mann von meiner Chefin von der Leiter gerüttelt?” Auf eine Bestätigung wartend, schaut er ihn an.
„Ich will jetzt noch ein Bier“, schreit dieser und knallt mit der Faust auf den Tisch. Das laute Klirren der Flaschen und Gläser lässt die Wirtin hinter der Theke hervortreten.
„Wir wollen noch eine Runde“, bestellt Bastian, bevor die Frau sich über das Benehmen seines Kumpels beschweren kann. „Drei Bier bitte!“
Mit einem besorgten Blick auf Matze nimmt sie die Bestellung entgegen.
Tim tritt hinter Flip. „Hör auf. Du hast gehört, es war nur betrunkenes Geschwätz. Wenn du klug bist, gibst du jetzt Ruhe. Mit Matze sollte man sich nicht anlegen.“
„Ich gehe. Tschüss“. Er blickt in die Runde, keiner versucht ihn aufzuhalten. Das Gefühl einer unausgesprochenen Bedrohung lässt ihn schnell das Lokal verlassen.
Auf der Heimfahrt muss er sich zwingen, den Fuß vom Gas zu nehmen. In seinem Kopf sind Bilder, er sieht Matze an der Leiter rütteln und den Mann seiner Chefin fallen. Keine Minute zweifelt er daran, dass Matze in seinem Rausch die Wahrheit gesagt hat. Der Saukerl hat den Helmut umgebracht.
Muss er das nicht seiner Chefin sagen? Tims Warnung fällt ihm ein. Was wird Matze mit ihm machen, wenn er es der Chefin erzählt.
Nachts war Schnee gefallen. Die Begeisterung und Freude, die Flip sonst beim Anblick des in weihnachtliches Weiß getauchten Weihnachtsmarkt verspürt, wird von Unruhe verdrängt. Obwohl das Thermometer vier Grad Minus anzeigt, geht er nicht in die Kasse.
Nach zwei Stunden einsammeln ruft ihn die Chefin. „Flip, was ist los mit dir? Du hast mir schon wieder einen Chip zu wenig gebracht! Es ist nicht so viel Betrieb. Warst gestern wohl zu lange feiern?“ Er spürt ihre Besorgnis, sieht, wie sie ihn beobachtet. „Es muss dir doch kalt sein, warum kommst du nicht zu mir in die Kasse?“
Was soll er erwidern? Unruhig beißt er sich auf die Lippe. Ehrlich – schoss es ihm durch den Kopf. Er will sprechen, spürt die Enge in seinem Hals, schluckt und würgt die Angst hinunter.
„Ich weiß, wie ihr Mann gestorben ist.“
Minutenlang ist es still. Flip schaut auf dem Kassenboden. Es war falsch, denkt er, ich hätte nichts sagen dürfen.
Ein tiefer Seufzer, dann ein Flüstern. „Ich weiß es auch. Wir unterhalten uns nach Feierabend darüber“,
Flip ist verwirrt. Warum hatte sie Matze nicht angezeigt oder hat sie es auch erst später erfahren? Warum ist sie dann nicht zur Polizei gegangen?
Am Abend erzählt ihm die Chefin von einer Gerichtsverhandlung. Ihr Mann musste als Zeuge aussagen. Er war dazwischen gegangen, als Matze mit einem Schraubenzieher einen Kollegen angriff. Der verlor fast ein Auge, Helmut konnte Schlimmeres verhindern. Matze wurde verurteilt. In seiner Wut drohte er, irgendwann würde er sich dafür rächen.
Ihr Blick ging an ihm vorbei in die Ferne, um dort etwas zu sehen, was ihr hilft, die nächsten Worte zu sagen. „Ich glaube nicht, dass er meinen Mann umbringen wollte, aber ihm eine Lektion erteilen. Es hätte ihn nicht wieder lebendig gemacht, wenn ich meinen Verdacht der Polizei mitgeteilt hätte. Doch für mich und meine Kinder wäre das Leben zur Hölle geworden.
Ich habe inzwischen keine Volksfeste mehr, auf denen wir zusammen stehen. Du würdest gut daran tun, dem Matze aus dem Weg zu gehen. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert.“