Ferienvormittag eines Zwölfjährigen
Sieben Uhr dreißig erwachen, in die Sachen schlüpfen, am Bad vorbei in die Küche gehen, dort das Frühstück finden, ein Zettel liegt daneben:
1 Brot
2 Milch
Eier
Sauge das Wohnzimmer, bring den Mülleimer runter,
bin um zwei zurück. Mutti
Teenasse Schnute am Ärmel abwischen (eine Eigenart des Jungen, auch im Hochsommer lange Ärmel zu tragen), am Bad vorbei zurück ins Zimmer. Indianerbuch aus dem Regal ziehen, Blick auf die Uhr: Ach, erst kurz vor acht, noch so viel Zeit! Buch aufschlagen, Seite suchen, Absatz finden und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – seufzen, Löcher in die Luft über der nicht existierenden Prärie starren, Absatz suchen und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – mh, immer dieses blöde Umblättern!, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – „Mist, wer klingelt’n da?“ Also rauf auf den Mustang und zum Badfenster galoppiert.
„Hallo? – Ach du bist’s! – Nee, kann nich, muss’n bisschen was machen, inkoofen und so. – Ja, vielleicht morjen. – Nee, weeß noch nich. – Mh, tschüss!“ Galopp zurück, vom sattellosen Pferderücken auf die Couch abrollen, Absatz suchen und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – Blick auf die Uhr: Ach, erst zehn, noch so viel Zeit! Und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – träumen – ach, Amerika! Unendliche Weiten, starke Freunde, fleißige Squaws, köstliche Büffel, miese Feinde... Wo ist überhaupt meine Winchester? Ah, da liegt sie ja. Fenster aufmachen. Scheiße! Überall Weiße! Aber euch werd’ ich’s geben! Das ist unser Land, ihr Mörder! Indijanerland! Lasst uns in Frieden, sonst hängen heute Abend eure Skalps an unseren Zeltstangen! Ihr wollt den Kampf? Dann nehmt dies: Piu! Und das noch: Piu! Mist, daneben.
Ampel schaltet auf Grün.
Ha, jetzt laufen sie wie die Hasen! Ehe des Mondes Sichel wieder zu wachsen beginnt, werden wir euch alle von unserem Land vertrieben haben!
Äh, räusper, hoffentlich hat mich jetzt niemand beobachtet. Schnell Fenster zu, Sprung auf die Couch, Absatz gesucht und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – Blick auf die Uhr: Ach, erst halb zwölf, könnt ich mir eigentlich erst mal einen kleinen Hirschbraten machen! Also mit Pfeil und Bogen aus dem Zimmer geschlichen und wirklich, im Flur steht schon einer, der sich am frischen Quellwasser labt. Er wird verschont, denn so viel schafft man alleine gar nicht. Pirsch geht weiter, bis ins Schlafzimmer, wo schließlich der Pfeil ein zartes Kaninchen findet. Es verwandelt sich rein äußerlich in der Pfanne zu einem Spiegelei, doch es schmeckt nach allen Gräsern der Prärie und sättigt den jungen Krieger gerade recht. Zurück ins Tipi geritten, müde von der Jagd aufs Grizzlyfell gefallen und nach dem Buch gegriffen. Absatz suchen, finden und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – Blick auf die Uhr: Ui, schon halb zwei! Kurz überschlagen: Zwei Minuten für den Müll, drei Minuten zur Kaufhalle, drei zurück, drei Minuten die Stube gesaugt, das macht gut zehn Minuten, also hab ich noch ne Menge Zeit! Finger vom Absatz und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – Was’n das für’n Geräusch? Blick auf die Uhr: Viertel drei, Mist! – Mutter kommt, geht in die Küche. Mh, was sag ich’n jetzt? Des schaff ich doch alles noch am Nachmittag...
„Sven?!“ –
„Ja, Mutti?“ –
„Du hast ja den Müll noch nicht runter gebracht! Warste wenigstens einkaufen?
Oooch nich!“ – Klatsch! – „Was hast’n wieder die janze Zeit jemacht?“ – Klatsch! – „Du faules Miststück!“ – Klatsch, klatsch, klatsch! – „Unsereens steht früh um Fümwe auf, arbeetet den janzen Tach, und der gnädije Herr macht sich hier'n schönes Leben! Was soll’n das? Ich hab dich was jefraacht!“ – Klatsch! – „Heule nich, was hast’n jemacht? Kannste mir des erklär’n? Jenauso faul wie sein Alter, jenau so’n faules Miststück! Für’n Rest der Ferien wird keen Buch mehr anjefasst! Du machst jetzt deine Offjaben und denn kommste ins Waschhaus und hilfst bei de Wäsche!“
* * *
Der kleine Krieger steht in seinem Kinderzimmer. Er ist verheult.
Die Tränen wollen nicht aufhören zu fließen. Sein ganzer Körper bebt.
Er fühlt nur Hass.
Ohnmächtigen Hass auf diese Weißen, die so viel Unglück über ihn gebracht haben.
Und er ahnt, dass er fliehen muss.
Er muss fliehen, bevor er völlig zerbricht.