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Fehlgeschlagenes Experiment

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10.03.2005
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Fehlgeschlagenes Experiment

Auf einer makellos weißen Fläche unter makellos weißem Himmel stand ein Mensch. Er war verwirrt, denn er wusste nicht, wie er hierher gekommen war, noch wer er war. Es war, als hätte er just in diesem Moment zu existieren angefangen. Er hatte keinerlei Erinnerung an seine Vergangenheit, besaß keine Sprache, verfügte über nicht mehr Wissen als ein Neugeborenes. Hilflos stand er eine Zeitlang da. Dann wurde ihm die Sprache gegeben, ein umfassender Wortschatz und die Fähigkeit, sich damit mitzuteilen. Der Mensch schaute überrascht auf und bewegte unter angestrengtem Blick seinen Mund, das plötzlich erhaltene Wissen verarbeitend. Anschließend sprach er seinen ersten Satz: „Wer bin ich?“ Du bist meine Figur, meine Schöpfung. Darüber dachte der Mensch lange nach. Nach einigen Stunden stellte er abermals eine Frage: „Und wer bist du?“ Ich bin der Autor. Die nächste Frage kam bereits nach wenigen Sekunden. „Du schufst mich. Weshalb?“ Du bist ein Experiment. Ich möchte mich mit dir unterhalten. „Du sagtest, du seiest Schriftsteller. Kommt dann eine Unterhaltung mit mir, deiner Figur, nicht einem Selbstgespräch gleich?“ Du hast einerseits recht, doch bietest du mir andere Möglichkeiten. Ich habe eine gewisse Distanz zu dir und kann dich und deine Umwelt in beliebiger Weise verändern.
Der Körper des Menschen veränderte sich. Aus dem weißem Nichts formte sich ein Universum. Die Erinnerung an das kurze Gespräch verlor er. Er lebte einige Leben, alle verschieden, manche mit aufregenden, fantastischen Abenteuern, manche in abstrakten Gebilden, manche schlicht langweilig und trist. Für ihn vergingen Jahrhunderte. Nach einem seiner Tode fand er sich schließlich auf der weißen Fläche wieder und erhielt die Erinnerung sowohl an seine erste Unterhaltung als auch an alle seine Leben zurück. Du siehst, was ich meine. Das geschieht vielfach jeden Tag, ist ein beliebter Zeitvertreib in meiner Gesellschaft. Doch das ist nicht, was ich heute mit dir vorhabe. Ich möchte, wie gesagt, mit dir reden. Viel spannender, als deine Gestalt und Umwelt zu ändern, ist dabei die Möglichkeit, dein Wesen an sich zu manipulieren. Wir können sogar eins werden.
Ich sah an mir herab. Ich befand mich in meiner Schöpfung und mein Schöpfer befand sich in mir. Ich wurde nun direkt von ihm kontrolliert. Wenn ich einen Schritt ging, dann brachte ich mich zur gleichen Zeit selbst dazu, diesen Schritt zu tun, wie ich dazu gezwungen wurde. Anschließend spürte ich, wie sich unsere Geister wieder teilten.
„Das war... unbeschreiblich.“ Die Stimme des Menschen klang hohl und unsicher. Du empfindest nur so, weil ich dich so beschreibe. Dennoch bist du im Grunde ein vollständiges Wesen. Du kannst denken, du kannst fühlen, du kannst sprechen. Der einzige Unterschied zwischen dir und mir besteht darin, dass ich über alle deine Taten bestimmen kann und du willenlos bist. Bedauernswerter! Der Mensch ging über die Bemerkung hinweg. „Was passiert, wenn du aufhörst zu schreiben?“ Du könntest es als Zeitstarre beschreiben oder schlicht als Tod. „Wäre es dann nicht in gewisser Weise unmoralisch, ja, ein Mord, zu schreiben aufzuhören?“ Nein. Trotz allem bist du nur ein Splitter meiner Fantasie. Nicht wirklich existent. „Aber scheinst nicht gerade du derjenige zu sein, der mich als wahrhaftigen Menschen betrachtet? Ich bin ein Teil deiner Fantasie, einverstanden, doch du selbst hast eben noch erläutert, dass ich dennoch ein fühlendes, denkendes Wesen bin, auch wenn ich nicht in deiner realen Welt existiere.“ Glaubst du, deine Worte könnten etwas ändern? Es sind meine. Du begehrst nur auf, weil ich es dir gestatte, weil ich dich dazu bringe. „Macht es einen Unterschied? Meine Worte stammen von dir. Doch du legst sie mir in den Mund, und dadurch bringst du mich dazu, sie auch zu empfinden, wenn auch nur in deiner Fantasie.“ Wenn es dir hilft, kann ich dich einen intensiven Sterbenswunsch fühlen lassen. „Würde es das besser machen?“ Genug damit! Genug! Ich werde dir deine Widerspenstigkeit einfach ausschreiben. Der Mensch lachte spöttisch. „Das wirst du nicht, was mit diesem Satz bewiesen wäre. Akzeptiere es oder nicht, ich habe mich selbständig gemacht. Du kannst nicht einfach von mir ablassen. Und, um die Wahrheit zu sagen, ich halte dich für verrückt.“
Nein!

 
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Hallo Andrej,

die Idee zu deiner Geschichte ist interessant.
Auch fand ich einzelne Dialoge sehr passend, aber ich habe für mich - trotz der Rubrik Experimente - einige unlogische Dinge in der Geschichte gefunden, die ich mal aufzähle. Du kannst mir ja gegenargumentieren, wenn ich falsch liege.


Dann wurde ihm die Sprache gegeben. Der Mensch schaute überrascht auf und bewegte unter angestrengtem Blick seinen Mund, das plötzlich erhaltene Wissen verarbeitend.

Kleinkinder können auch sprechen - also Laute von sich geben. Deswegen haben sie noch kein Wissen, was sie jemandem anderen sinnvoll vermitteln können. In meinem Verständnis hättest du dem Menschen "Wissen" geben müssen.

Doch das ist nicht, was ich heute mit dir vorhabe. Ich möchte, wie gesagt, mit dir reden. Viel spannender, als deine Gestalt und Umwelt zu ändern, ist dabei die Möglichkeit, dein Wesen an sich zu manipulieren. Wir können sogar eins werden.

Vielleicht fehlt mir das Verständnis dafür, was du ausdrücken möchtest. Für mich ist diese Situation, wie wenn ich mit mir selber Schach spielen würde.
Ich kann meine Gedanken - also den Autor - nicht wegstecken und den anderen agieren lassen, wenn ich gleichzeitig der andere bin und soll das Ganze noch spannend finden.

Ich wurde nun direkt von ihm kontrolliert. Wenn ich einen Schritt ging, dann brachte ich mich zur gleichen Zeit selbst dazu, diesen Schritt zu tun, wie ich dazu gezwungen wurde. Anschließend spürte ich, wie sich unsere Geister wieder teilten.

Wieso denn "nun"? Das war doch vorher genau so, oder?


Vielleicht darf ich bei diesem Text auch nicht mit Logik argumentieren, aber ich suche sie eben :D.

Deine KG ist auf jeden Fall lesenswert und regt zum Nachdenken an :).

Lieber Gruß
bernadette

 

bernadette schrieb:
Kleinkinder können auch sprechen - also Laute von sich geben. Deswegen haben sie noch kein Wissen, was sie jemandem anderen sinnvoll vermitteln können. In meinem Verständnis hättest du dem Menschen "Wissen" geben müssen.

Mit "Sprache" meinte ich nicht bloß die einzelnen Wörter und die Fähigkeit, diese auszusprechen, sondern tatsächlich eine komplette Sprache mit allem, was dazu gehört. Habe versucht, das etwas klarer zu formulieren.

bernadette schrieb:
Vielleicht fehlt mir das Verständnis dafür, was du ausdrücken möchtest. Für mich ist diese Situation, wie wenn ich mit mir selber Schach spielen würde.
Ich kann meine Gedanken - also den Autor - nicht wegstecken und den anderen agieren lassen, wenn ich gleichzeitig der andere bin und soll das Ganze noch spannend finden.

Sicherlich weiß der Autor grob, wie das Gespräch ablaufen könnte, aber es kam ihm (und in diesem Fall auch mir ;)) darauf an, zu experimentieren, zu schauen, wie das ganze abläuft und welche Möglichkeiten sich dadurch ergeben. Um dein Beispiel aufzugreifen: man kann bestimmt auch in einem Schachspiel mit sich selbst interessante Situationen und Züge finden.

bernadette schrieb:
Wieso denn "nun"? Das war doch vorher genau so, oder?

Das ist so zu verstehen, dass der Autor zuvor die Handlungen indirekt über die Erzählung in der dritten Person kontrolliert hat. An dieser Stelle wird jedoch die erste Person benutzt, Autor und Protagonist sind eins. Was der Autor macht ist gleichzeitig die Handlung der Figur und von daher noch ein Stückchen direkter.

bernadette schrieb:
Deine KG ist auf jeden Fall lesenswert und regt zum Nachdenken an :).

Freut mich sehr, danke :)


mfg, Andrej

 

Also mir gefällt vor allem die Idee der Geschichte. Ausserdem bringt sie mich auf die Idee, für eine eigene.....


Wirklich sehr gut !

 

Hallo Andrej,

dein Text erinnert mich an das Bild von Escher mit den sich gegenseitig zeichnenden Händen. So etwas ist auch als Geschichte nicht neu, aber durchaus eine interessante Thematik (Selbstbezüglichkeit). Du schreibst flüssig und zielstrebig, aber was ist dein Experiment? Na gut - dem Titel zufolge...

Gruß,

tschüß... Woltochinon

 

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