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Fassade

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19.01.2015
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Fassade

Am ersten Tag des neuen Projekts nahm ich den Bus um 5:36 Uhr. Den würde ich jetzt jeden Tag nehmen, fünf Tage die Woche, sechs Wochen lang, und ich dachte eigentlich nur an das nächste Wochenende, als an diesem neuen Montag mein Wecker zum ersten Mal um 4:30 Uhr klingelte.

An der Bushaltestelle nahm ich nichts wahr. Kein Wetter, keine Menschen, so etwas lernte man in Berlin. Im Bus selbst war ebenfalls alles stoisch. Ich starrte aus dem Fenster. Zwei Kreuzungen hinter meiner fiel mir eine Baustelle auf. Eine komplette Fassade war vollständig mit Planen verkleidet worden, so dass von dem Haus nichts mehr zu sehen war. Ich überlegte, was es dort zuvor gegeben habe. Angestrengt versuchte ich ein Bild dieses Straßenabschnitts aus meinen Erinnerungen zu bemühen. Doch mir fiel nichts dazu ein. Keine Farbe, keine Gardinen, kein Ladengeschäft im Erdgeschoss. Eine Baulücke war es aber nicht gewesen, das wäre mir doch aufgefallen. Genau in dem Moment, als der Bus an der verhüllten Fassade vorbei fuhr, kam ein Mann aus den Planen. Ich konnte dahinter eine Haustür erkennen. Der Mann war jung. Er trug einen schicken, anthrazitfarbenen Anzug mit dunkelblauen Nadelstreifen, eine Seidenkrawatte in einem hellen Pastellton und eine Aktentasche. Als er den Bus sah, begann er zu laufen. Er lief im gleichen Tempo neben dem Bus her, der nicht besonders schnell fuhr im frühmorgendlichen Verkehr und dann auch an einer Ampel halten musste. Der junge Mann im Anzug lief bis zur nächsten Haltestelle immer auf der Höhe des Busses. Dann stieg er ein. Er setzte sich ganz nach vorn, hinter den Fahrer, nahm ein Buch aus seiner Aktentasche und begann zu lesen. Ich saß in einiger Entfernung, schräg hinter ihm, und beobachtete, was er tat. Dann drehte ich mich nach dem Haus um. Das Baugerüst hatte große Teile des Gehwegs zugestellt und so konnte man die Verhüllung der Fassade auch von hier aus noch gut erkennen. Wie ein überdimensional vorspringender Erker sah es im Straßenzug aus.

Nun wusste ich also, dass das unsichtbare Haus bewohnt war, dass hinter dem Fassadenmantel Menschen lebten. Ich schaute wieder auf den jungen Mann. Doch aus meiner Perspektive war nur sein Jackett von schräg hinten und ein Teil seines Buches zu sehen, ohne dass ich erkennen konnte, was er las. Ich war nun wach und aus meiner Lethargie gerissen und schaute weiter aus dem Fenster. Das Kaufhausgebäude unten an der Hauptstraße stand nun schon fast ein halbes Jahr leer und verfiel. An der nächsten Kreuzung war ein neuer 1€-Shop eingezogen. Daneben klaffte ein Loch im Erdgeschoss, wo bis damals noch ein Schlecker gewesen war. Die Gegend verkommt, dachte ich. So schade. An der vorletzten Haltestelle stieg ich aus und um in die U-Bahn. Der junge Mann im schicken Anzug blieb sitzen. Er fuhr also bis zur Endhaltestelle.

Am nächsten Morgen nahm ich wieder den Bus um 5:36 Uhr. Und wieder kam der junge Mann hinter seinem Vorhang hervor, genau, als der Bus auf der Höhe des Hauses war, wieder lief er bis zur Haltestelle neben dem Bus her. Er trug wieder einen Anzug und eine Krawatte, heute in einem ganz dunklen Violettton, er setzte sich hinter den Fahrer. Dieses Mal nahm er eine Zeitung aus seiner Aktentasche, die er zu lesen begann. Ich stellte fest, dass ich ebenfalls auf dem gleichen Platz saß wie gestern.

So vergingen die Tage, an denen ich den Bus um 5:36 Uhr nahm. Der junge Mann kam jedes Mal aus dem Haus, wenn der Bus daran vorbei fuhr, lief ein Stück neben ihm her, stieg dann zu. Dann nahm er etwas zu lesen aus seiner Aktentasche, wobei es jeden Tag etwas anderes war, mal ein dickes Buch, mal ein dünnes, ein Reclam oder ein Hardcover, eine Zeitung, groß oder im Pocketformat, eine Zeitschrift, einmal hatte er ein Buch dabei, das das Format einer Bibel hatte. Und ich rückte jeden Tag ein bisschen näher an ihn heran und beobachtete den jungen Mann, der hinter der verhüllten Fassade wohnte. Ich stellte mir das Leben hinter den Planen wie in Watte wohnen vor. Oder wie in einem Iglu. Oder als sei man bei lebendigem Leib in Tücher und Binden eingeschlagen. Quasi mumifiziert. Oder vielleicht war es wie in einem riesigen Wintergarten, so weit stand das Baugerüst auf dem Gehsteig vor. Ob die Sonne wohl durch die Planen schien? Ostsonne musste es auf dieser Straßenseite geben. Gegenüber lag die Usbekische Botschaft, in einem ehemaligen Offizierskasino der alten Kaserne. Nur halbhoch. Sonne musste es hier schon geben, am Morgen. Doch in diesem Herbstgrau konnte man das nicht sehen. So dachte ich. Und mit jedem Tag war ich gespannter, was sie wohl machen würden, mit der Fassade, in welcher Farbe sie sie streichen würden. Vielleicht auch die Fensterrahmen? Ich wollte sie sehen, die neue, schicke Aufmachung des Hauses. Doch das blieb verpackt.

Und mit jedem Tag rückte ich näher nach vorne, im Bus, an den Fahrer heran, weil ich neugierig war, was er las, der unbekannte junge Mann im Anzug mit seiner Aktentasche. Ich saß nie so, dass ich ihn direkt sehen konnte, aber seine Lektüre gelang es mir hin und wieder zu studieren, von schräg hinter seinem Rücken. Und er las viel. Und schräge Sachen. Er las Charlotte Roche. Dann las er die FAZ. Einmal hatte er eine Autobild dabei. Einmal Tolstoi. Einen Autoren mit spanischem Namen, den ich mir nicht merken konnte. Amerikanische Krimis. Sogar Heidegger! Und Kant. Dann aber auch den Aldiprospekt. Er las 11 Freunde, die brand eins, die Brigitte, die Süddeutsche, die Morgenpost, einmal hatte er eine Gebrauchsanweisung von irgendeinem elektronischen Gerät vor sich, einmal einen Stapel ausgedruckter, dicht betexteter Blätter, einmal ein Notizbuch, in dem etwas Handschriftliches zu stehen schien. Er las Gedichte von Goethe und Kästner, Romane, deren Umschlagblatt ich nicht sehen konnte, und unzählige Autoren, die ich nicht kannte oder erkannte, da er mir leider seine Literaturauswahl niemals direkt zeigte. Einmal hatte er tatsächlich die Bibel dabei. Und jeden Tag trug er eine andere Krawatte.

Natürlich gab es Varianten. Einmal war es so voll im Bus, dass ich durchrücken musste und nur ganz hinten noch einen Stehplatz bekam. Da sah ich nichts, als wir an der verkleideten Fassade vorbeifuhren, außer den speckigen Kragen der Regenjacke meines Stehnachbarn. Einmal hatte der Bus so viel Verspätung, dass nach knapp einer halben Stunde gleich zwei hintereinander kamen. Als wir dann an dem verhüllten Haus entlangfuhren, war ich gerade damit beschäftigt, mit meinem Chef zu telefonieren, um anzumelden, dass ich später käme. Da nahm ich nur am Rande wahr, dass der junge Mann wieder genau in dem Moment aus seiner Fassade kam, als die beiden Busse daran vorbeifuhren. Er hatte also nicht an der Haltestelle gewartet. Er stieg in den anderen Bus. Einmal verschlief ich und verpasste den Bus, knapp zwar, doch ich verpasste ihn. Ich versuchte auch noch zur nächsten Haltestelle vorzulaufen, doch von meinem nackten Eckhaus aus, war das utopisch. Hin und wieder war der Platz, sein Stammplatz, direkt hinter dem Fahrer besetzt. Dann stellte er sich daneben, hielt sich an einer Schlaufe fest und las. Wurde der Platz frei, setzte er sich. Ein einziges Mal setzte er sich auf die andere Seite des Busses, direkt hinter die Tür. Ich wollte ganz unbedingt wissen, was er da las, an diesem besonderen Tag. Doch nun saß ich natürlich genau hinter ihm und sah gar nichts außer seinen Nadelstreifenrücken. Ein bisschen klopfte mein Herz auch, weil ich ihm an diesem Tag so nahe war, wie noch nie zuvor. Und einmal kam er nicht. Der Bus war pünktlich, fuhr auf das Haus zu, daran vorbei und nichts regte sich, die schützenden Planen blieben verschlossen.

Am ersten Wochenende, während des Projekts, schlief ich fast nur und dachte an gar nichts. Am zweiten Wochenende lag ich auch viel im Bett und dachte an den Unbekannten aus dem verhüllten Haus. Am dritten Wochenende stellte ich mir vor, wie auch er Wochenende hätte und was er wohl täte. Vielleicht Dinge wie ich, putzen, einkaufen, den ganzen nervigen Überlebenskram. Vielleicht auch kochen oder Essengehen. Vielleicht joggen oder zu irgendeiner Ballsportart mit Freunden. Und dann fiel mir auf, dass ich keine Vorstellung von seinem Gesicht hatte. Denn nachdem er eingestiegen war, wobei ich ihn immer nur kurz und niemals direkt sehen konnte, nahm er sofort seine Tageslektüre aus seiner Aktentasche und konzentrierte sich ganz auf sie. Sein Gesicht war also immer nur Erinnerung an ein weißes Blatt mit schwarzen Buchstaben. Und dabei blieb es auch. Nicht eine Sekunde hatte ich die Idee oder das Bedürfnis ihn anzusprechen.

An meinem letzten Tag, an dem ich den Bus morgens um 5:36 Uhr nehmen musste, war alles wie immer. Die Fassade war nach wie vor abgehangen, er kam daraus hervor, lief kurz, stieg dann zu. Ich war wieder ein bisschen aufgeregt, weil ich wissen wollte, was er heute wohl lesen würde, an meinem letzte Tag. Der junge Mann setzte sich und holte eine Bildzeitung hervor. Ich war ziemlich enttäuscht, doch versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, dass er ja nicht wissen konnte, dass es unsere letzte gemeinsame Fahrt war. Ich stieg ein letztes Mal an der vorletzten Haltestelle aus und der junge Mann fuhr, wie immer, weiter zur Endhaltestelle.

Am darauf folgenden Montag schlief ich bis 11:00 Uhr. Dann erwachte ich und mein erster Gedanke war, was der Nadelstreifenmann aus dem verhüllten Haus heute wohl im Bus gelesen hatte. Nach einer Woche dachte ich, ob wohl die Fassade inzwischen fertig sei und wie sie wohl aussähe. Ich überlegte kurz hinzulaufen, doch es war inzwischen Winter und ich fand es zu kalt zum Rausgehen ohne Grund. Und einen echten Grund gab es nicht, nur einen vorgeschobenen. Noch eine Woche später erwachte ich montags um 8:00 Uhr, dachte daran, was der Mann heute im Bus wohl gelesen hatte, dachte daran, wie die Fassade wohl inzwischen aussah und ich dachte daran, dass ich mich niemals gefragt hatte, wo dieser Mann eigentlich hinfuhr oder hinging, wenn er an der Endhaltestelle ausgestiegen war, was er arbeitete und welchen Bus er nachmittags oder abends zurück zu seinem eingepackten Haus nahm. Nachdem ich das einmal gedacht hatte, konnte ich die ganze Woche nicht mehr richtig schlafen. Vielleicht war auch Vollmond. Doch das konnte man durch die ständig dicke Wolkendecke nicht sehen.

Am Montag, vier Wochen, nachdem ich zum letzten Mal zu meinem letzten Projekt gefahren war, stand ich wieder um 4:30 Uhr auf, und es ging erstaunlich leicht. Ich stieg in den 5:36 Uhr Bus, der pünktlich war. Mein Herz klopfte, als wir uns schleichend dem Haus mit der verhüllten Fassade näherten. Schon von weitem konnte man die Planen an den Baugerüsten sehen, die weit bis auf dem Gehweg standen. Nichts hatte sich dort verändert. Ich war sehr aufgeregt. Als wir auf der Höhe des verkleideten Hauses waren, schoben sich die Planen auseinander, und der junge Mann kam hervor, trug, wie immer, einen Nadelstreifenanzug und eine Seidenkrawatte - hatte ich diese nicht schon einmal gesehen? - und er lief neben dem Bus her bis zur Haltestelle. Er setzte sich hinter den Fahrer und er las einen Roman, an diesem Tag, aber ich konnte nicht sehen, von wem der war, oder wie er hieß. Der Bus fuhr weiter. Wir erreichten die vorletzte Haltestelle. Doch dieses Mal stieg ich nicht aus. Ich blieb sitzen und fuhr mit dem jungen Mann mit der Aktentasche mit, bis zur Endhaltestelle. Dort packte der sein Buch nicht ein, sondern verließ den Bus, setzte sich in der Haltestelle auf die Bank und las weiter. Ich stieg auch aus, mein Herz klopfte, da ich ihn nun stalkte, was ja ein bisschen verboten war. Ich ging ein paar Schritte, um scheinbar die Fahrplänen zu studieren, was ich für unverfänglicher hielt, als neben ihm zu stehen. Dann kam der nächste Bus. Er stieg ein und ich stieg auch ein. Er setzte sich auf den Sitz hinter den Fahrer und las. Mehr geschah nicht. Nach einer Fahrt, die mir sehr lang erschien, stieg er an einer S-Bahn-Station aus. Ich folgte ihm und versucht etwas Distanz zwischen uns zu lassen. Die S-Bahn kam, Ringbahn. Wir stiegen ein. Wenn er an einer der nächsten drei Stationen wieder aussteigt, hätte er das direkt mit dem ersten Bus einfacher haben können, dachte ich. Doch er stieg nicht aus. Er saß in der S-Bahn und las in seinem Buch. Wir fuhren den Ring. Irgendwann öffnete er seine Aktentasche, holte eine Thermoskanne hervor und schenkte sich Kaffee ein. Er trank und las. Ich schaute ihm verstohlen zu und hatte Hunger. Es war immer noch früh und die stupide Fahrerei duselte mich ein. Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, stand er auf und stieg die nächste Station aus. Er verließ zielstrebig den Bahnhof und stellte sich wieder an eine Bushaltestelle. Das Buch hatte er in der Hand, einen Finger darin. Ich folgte ihm, hatte keine Ahnung, wo wir waren, die Uhren behaupteten, es sei Viertel nach sieben. Es waren inzwischen auch mehr Menschen unterwegs und ich spekulierte darauf, dass er mich durch die anderen nicht bemerkte. Der Mann setzte sich dieses Mal nicht in die Haltestelle, er stand genau vor einer Säule des Wartehäuschens und starrte ganz geradeaus. Er wirkte nun etwas angespannt. Ein dummer Stehplatz, dachte ich, wenn es nun zu regnen beginnt, dann wird er halb nass und bleibt halb trocken. Ein Bus fuhr vor, doch er stieg nicht ein. Menschen kamen in die Haltestelle und verließen sie wieder. Er wartete und ich mit ihm. Dann, nach einer ganzen Weile, stieg er in irgendeinen Bus. Von der gleichen Linie hatte er zuvor drei oder vier vorbeifahren lassen. Ich stieg auch ein. Der Bus fuhr in Richtung Flughafen. Er war voll. Der Mann stand im Gang und las nun wieder, hielt sich an einer Halteschlaufe fest und schien etwas entspannter zu sein. Als wir am Flughafen ankamen, war es fast halb neun. Ein ganz schön langer Weg zur Arbeit, dachte ich. Doch der Nadelstreifenmann mit der Seidenkrawatte und der Aktentasche ging nicht zur Arbeit. Er setzte sich in der Check-In-Halle auf eine Bank. Dann öffnete er wieder seine Aktentasche, holte seine Thermoskanne heraus und eine Tupperdose, aus der er belegte Brote nahm. Er lehnte sich zurück, schlug sein Buch auf und las. Ich setzte mich in ein Restaurant und bestellte ein völlig überteuertes Frühstück mit schlechtem Kaffee. Ich aß und beobachtete, wie er aß und las.
Und so saßen wir den halben Tag.
Ich aß mein Frühstück und das Gedeck wurde abgeräumt. Er saß auf der Bank und zog einen Apfel aus seiner Aktentasche. Fluggäste kamen und gingen und kamen, checkten ein und gingen wieder. Neue kamen. Die Kellnerin kam zu mir und fragte ob ich noch etwas bestellen wolle. Ich verneinte. Der Mann saß auf seiner Bank und las. Gegen elf kam die Kellnerin erneut zu mir und fragte ob ich jetzt vielleicht noch etwas bestellen wolle. Ich nahm noch einen schlechten Kaffee. An dem nippte ich. Um zwölf kam die Kellnerin und sagte, es sei Schichtwechsel und ob ich bitte bezahlen könne. Ich tat es und nippte immer noch an meinem Kaffee, der schon lange kalt war. Die neue Kellnerin kam nicht zu mir.

Um 14:08 Uhr schaute der Mann auf. Er sah zu mir herüber, die ich halb versunken am Tisch hing, und sofort hochschreckte, als er sich bewegte. Er sah mich direkt an, zwischen den ganzen Leuten hindurch, die mit schweren Koffern eincheckten und ohne Gepäck wieder zurück in Richtung der Gates gingen. Dann legte er sein Buch auf die Bank, stand auf, nahm seine Aktentasche und ging. Sofort fuhr ich hoch, er ging schnell und war schon fast in der Menge verschwunden. Ich stürmte hinter meinem Tisch hervor, meine Beine waren etwas steif vom langen sitzen, rannte auf die Bank zu, dort lag sein Buch, das er zurückgelassen hatte. Ich streckte die Hand danach aus. Ganz kurz hatte ich Bedenken. Dann nahm ich es. Es war „Vorsätzlich Herumlungern“ von Muriel Spark. Ich ließ es fast fallen, als ich das sah, und fühlte mich unglaublich ertappt. Ich fuhr hoch und herum, rechnete fest damit, dass der Unbekannte direkt hinter mir stehen würde, mit seiner Aktentasche, wie ein Gerichtsvollzieher oder gleich ein Vollstrecker, mich fixieren würde. Doch da war niemand. Nur Leute mit und ohne Gepäck, die kamen und gingen. Ich hielt das Buch fest und lief los. Lief in die Richtung, in der der Nadelstreifenmann verschwunden war. Drängelte mich durch, dann stand ich vor dem Terminal. Und er stand nur ein paar Schritt entfernt an der Bushaltestelle. Zielstrebig ging ich auf ihn zu. „Entschuldigen Sie“, sagte ich mit fester Stimme: „Entschuldigung, Sie haben Ihr Buch liegen gelassen.“

Er drehte sich zu mir um, starrte mich mit großen Augen an. Sein Blick wirkte befremdlich auf mich. Zum ersten Mal, sah ich nun in sein Gesicht. Es war ganz normal. Dann senkte er den Blick auf das Buch, das ich ihm entgegenhielt. Er nahm es mir ab, schaute mich noch einmal sonderbar an, fast wie verächtlich, drehte sich um und ging die Haltestelle hinunter. Ich blieb zunächst stehen. Nach ein paar Schritten warf er das Buch im Vorbeigehen in einen Mülleimer. Ich war baff. Dann lief ich wieder los hinter ihm her.
„Hallo“, rief ich: „Entschuldigung! Entschuldigen Sie bitte, hallo?“
Ich hatte den Eindruck, dass er erst sogar noch schneller ging, doch dann blieb er stehen, drehte sich um, mit ziemlich abgehackten Bewegungen. „Ja, bitte?“, sagte er aber es klang nicht höflich. „Entschuldigung“, wiederholte ich: „Ich habe mich gefragt, also, ich meine, vielleicht, also, darf ich Sie vielleicht auf einen Kaffee einladen.“
Er schaute mich an. Erst etwas dämlich. Dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln. Doch es war gar kein Lächeln, es war ein Lachen und dann ein recht breites Grinsen. Ja, nun grinste er mich an, breit, und es sah aus, als würde er mich ausgrinsen und ein bisschen für blöd halten. Und dann schaute er mitleidig, als er sagte: „Nee, Kleene, lass mal, muss nun wirklich nicht sein. Also, nee, wirklich nicht. Aber danke auch.“

Dann drehte er sich um und ließ mich nun wirklich stehen, ziemlich verätzt und auch vor den Kopf gestoßen, mit offenem Mund, den ich dann schnell zusammenpresste. Blut schoss mir ins Gesicht. Dann drehte ich mich um und stieg in den ersten Bus, der vorfuhr. Die Lippen presste ich die ganze Fahrt über zusammen, bis nach Hause.

Der Winter verging und der Frühling kam. An einem bereits warmen Tag kam ich einmal morgens von einer durchzechten Nacht nach Hause. Die Sonne ging gerade auf. Ich nahm den Bus in die umgekehrte Richtung, die ich seinerzeit immer zu meinem Projekt gefahren war. Wir fuhren an dem Standort der ehemaligen Schleckerfiliale vorbei. Dort war jetzt ein KIK drinnen. In dem 1€-Shop gab es nun einen Rossmann. Daneben hingen Plakate im Schaufenster, dass demnächst ein Schreibwarenladen eröffnen würde. Das ehemalige Kaufhausgebäude wurde gerade entkernt. Ein C&A sollte dort einziehen, oder ein H&M. So gingen die Gerüchte. Dann bogen wir in meine Straße ein. Bereits von der Entfernung konnte man sehen, dass keine Baugerüst mehr den Gehweg vor dem ewig verhüllten Haus verstellte. Die Fassade schien fertig zu sein. Ich klebte im Bus an der Scheibe und war, trotz meines sich drehenden, alkoholisierten Kopfes, sehr aufgeregt und gespannt. Und dann hielten wir direkt vor der Fassade an der Bushaltestelle. Und ich war sprachlos.

Der mittlere Teil des Haus war sonnengelb angemalt worden, die an den Seiten vorspringenden Erkerzonen in pink. Die ganze Fassade war bestückt mit kleinen, goldglänzenden Engelsstatuen in Puttenformat, die jeweils mit einer Stange direkt an der Mauer befestigt waren. Sie alle orientierten sich zur Mitte des Gebäudes. Dort gab es eine große, goldfarbene Scheibe, auf die die Engelchen scheinbar zustrebten. Und genau in dem Moment, als der Bus an der Haltestelle vor dem Haus hielt, kam die Sonne hinter der Usbekischen Botschaft hervor, prallte auf die goldene Fassadenscheibe, die abstrahlte auf die Engel und von lauter gold und gelb und gleißend, gerahmt von pink, war ich geblendet und musste die Augen zusammenkneifen. Dann schob sich eine Wolke vor die Sonne und ich konnte wieder hinsehen. Der Bus fuhr an. Meine Augen klebten an der Fassade und mein Kopf dreht sich. Vor lauter Engeln wusste ich gar nicht, wo ich hinschauen sollte.

Dann entdeckte ich etwas: Im dritten Stockwerk hatte jemand, außen auf die Fensterbank, eine rote und eine grüne, weit überlebensgroße Gummibärchenstatue aus Plastik gestellt, wie man sie in manchem Baumarkt billig kaufen konnte. Die beiden Figuren verdeckten fast das halbe Fenster. Sie sahen ziemlich dämlich aus, zwischen all den Engeln und der ganzen Pracht, ziemlich dämlich, aber irgendwie auch ziemlich genial. Dann war das Haus außer Sicht. Ich drehte mich nach vorn. Ein Bus der gleichen Linie kam uns entgegen. Mir schauderte kurz. Doch es war schon weit nach 5:36 Uhr. Und an sein Gesicht konnte ich mich ja auch nicht erinnern.

 

Liebe rehla,

danke auch dir, für dein Lob und deine lieben Worte! Deine Ergänzung zum Arbeitslosen – Philanthrop – Gott um den Status des Verrückten finde ich sehr stimmig: Gott ist verrückt und der Himmel ein Irrenhaus. Wir haben das Ende gelöst! :D

Ich möchte an dieser Stelle einmal dann doch meine Inspiration für diese spezielle Geschichte auflösen. Es nennt sich tatsächlich Kunst:

http://www.moabitonline.de/12112

 

Oh wow, das war ja dann gar nicht so weit hergeholt. Und ich muss schon sagen: In meiner Fantasie hab ich mir das viel schlimmer vorgestellt, als es tatsächlich ist, vor allem die Engelsstatuen, die echt eher Vögeln ähneln. Fehlen nur noch die Gummibärchen. :lol:

OT: Die Kuhfassade (wenn man weiter runterscrollt in den Kommentaren) finde ich geil.

 

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