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- Anmerkungen zum Text
Föhn ist eine spezielle Wetterlage, die das Befinden vieler Menschen beeinträchtigt. Die sind oft nervös und gereizt – auch geschehen an Föhntagen mehr Unfälle als im Durchschnitt.
Und es gibt das Phänomen der ‚unglaublich nahen Berge‘, meteorologisch einfach zu erklären.
Föhn und Sterne
Wir sind verkuppelt worden.
Für einen Mann gibt es nichts Schlimmeres. Plötzlich ist sein ganzes Repertoire nichts mehr wert: das fantasievolle Anpirschen, die Balztänze, all das Geistreiche, Weltmännische, seine Großzügigkeit.
Doch verstimmt bin ich deshalb keineswegs – Judith hat mir vom ersten Augenblick an sehr gefallen.
Das erste Abtasten bleibt uns trotzdem nicht erspart, auch wenn wir das sehr elegant und unauffällig machen. Altersflecken an den Schläfen und kabelartige blaue Adern auf dem Handrücken interessieren uns nicht. Der Körper hat an Wichtigkeit verloren, jetzt zählt der Mensch.
So schaffen wir Situationen, stellen Fangfragen, um herauszufinden, wie der andere tickt.
Doch vielleicht ist das alles Blödsinn. Zwar unterstelle ich Judith, mich genau zu durchleuchten, habe aber keine Vorstellung davon, wie raffiniert und präzise die Methoden einer Frau tatsächlich sind. So beschließe ich, es locker angehen zu lassen und keinen Herren zu spielen, der ich nicht bin.
* * *
Freundliches Wetter, weit voraus die Berge – mehr zu ahnen als zu sehen.
Das Tanksymbol leuchtet auf. „Uji“, sagt Judith, „der säuft aber kräftig. Das waren doch keine fünfhundert Kilometer.“
„Vierhundertfünfzig, um genau zu sein. Der wiegt ja auch anderthalb Tonnen.“
Wir haben ihn geliehen, weil wir unserem Auto die zweifache Alpenüberquerung nicht mehr zumuten möchten. Es ist unsere erste gemeinsame Reise, für uns als Opern-Fans muss es Verona sein.
Bald kommt ein Hinweis auf die nächste Tankstelle: Nach dem Tunnel 800 Meter.
Über der Doppelröhre thront Sankt Christophorus, in Beton mit Stab und Jesuskind.
Judith bekreuzigt sich. Um die Hände nicht vom Steuer nehmen zu müssen, bitte ich sie, das auch für mich zu tun. Sie führt das prompt aus und sagt dabei: „Lieber Heiliger Christophorus, das ist für Burkhard.“
Dann nehme ich doch eine Hand vom Steuer und tätschle ihren Oberschenkel: „Lieb von dir, danke.“
Sie legt meine Hand zurück aufs Steuer.
„Entschuldige“, sage ich, „Hab mich früher immer an meiner Mutter festgehalten, wenn ich Angst hatte.“
„Ich bin nicht deine Mutter, Burki. Und wieso Angst?“
„Ich hab einfach Angst vor Tunneln. Bin jedes Mal froh, wenn ich da heil durchko ...“ Der Wechsel vom grellen Tageslicht zur Tunnelbeleuchtung ist abrupt – ich kann nicht gleichzeitig reden und mich konzentrieren.
Wir stecken im Konvoi, fühle mich von hinten bedrängt. Trotzdem versuche ich, Abstand zu halten. Ich stehe unter Hochspannung. Da! Bremslichter flackern, in der selben Sekunde hab ich den Fuß auf der Bremse. Gott sei Dank falscher Alarm, wir rauschen weiter. Für Judith unhörbar lass ich die angehaltene Luft ab, der Tunnel nimmt kein Ende.
Irre; nur durch eine weiße Linie von meiner Spur getrennt die Scheinwerfer des Gegenverkehrs – unablässig, ein Lichterpaar nach dem anderen, go go go bis in alle Ewigkeit.
Dieses Ausgeliefertsein ist mein Tod. Hilflos bin ich. Da kommen uns Leute entgegen, vielleicht bekifft, mit Restalkohol, übermüdete Brummis, manche trinken, abgefahrene Pneus – eine winzige Unachtsamkeit und Crash! Feuer. Notausgänge blockiert, oder nicht erreichbar. Schwarze Schwaden, der letzte Sauerstoff lässt die Flammen lodern, für mich bleibt nichts. Für mich und Judith.
Sie redet. Nein, sie plappert. Das liegt an meinen Nerven. Was für ein Frust, in einem Rohr zu stecken, obwohl doch Reisen in Freiheit eine wundervolle Sache ist.
Der Allradantrieb hat ganze Arbeit geleistet, wir tanken. Siebzig Liter mit Reservekanister, das Tankschloss schnappt ein. So werden wir die Berge meistern!
Judith stippt mich an und zeigt geradeaus.
Jessas – die stehen wie in einem Kabinett der Wunder direkt vor uns! Ist uns beim Ärger über die Spritpreise gar nicht aufgefallen. Der reine Wahnsinn. Judith macht Bilder, kann es nicht fassen. Theaterleute haben das für uns arrangiert – Berge auf Rädern, vom Horizont vor unsere Nasen.
Noch fix bezahlen, Reise Reise. Oder doch einen kurzen Schwarzen?
Wir nehmen zwei Doppio. Die Dame neben uns bestellt Cappuccino, sagt dann zum Mädchen hinter dem Tresen: „Einen Sambuca noch dazu. Föhn macht mir immer Migräne.“
„Ach, Sie Ärmste. Ich kenne das“, meint die und macht das Glaserl schön voll.
Am Nachmittag packen wir auf unserem Zwischenstopp die Koffer aus, Christophorus hat seinen Stab bis zum letzten Meter über uns gehalten.
Das Hotel liegt am Hang, mit Blick über Tal und Autobahn. Etwas aus der Zeit gefallen, aber dekorativ: Holzbalkone, Geranien wie Wasserfälle, Marterl mit Rosen, geschnitzte Heilige. In den Fluren ausgestopfte Tiere und rote Kästen mit gerollten Schläuchen, Feuerwehrhelmen und Äxten, um Hotelgäste aus eventueller Notlage zu befreien.
Wir sind wegen der Küche gekommen. Ein Stern im Michelin. Nach allem, was man hört, soll er mehr als verdient sein und sich dieses Jahr verdoppeln. Nein, die Überlegung, Zwei-Sterne-Küche noch zu Ein-Stern-Preisen zu genießen, ist uns fremd. Und wir schwelgen durch die Abgeklärtheit des Alters nicht schon in Vorfreude auf himmlische Genüsse, sondern legen die Beine hoch und lernen noch ein paar italienische Floskeln.
Der Sommelier empfiehlt wegen des Föhns, vielleicht im Scherz oder aus Fürsorglichkeit, einen Champagner mit Chlorophyllperlen.
Wir haben teuer getankt und wählen Sekt von der Saar.
Dann schießt die Küche aus allen Rohren. Meeresgetier, frischer als in der Bretagne, Deftiges mit Himmelsgeschmack, Feines und Verwegenes mit Könnerschaft, Delikates und Süßes mit Hingabe bereitet. Immer der richtige Wein dazu. Wir sind total beglückt – mehr geht nicht.
Obwohl wir einen Batzen Geld verprassen, staunen wir doch, dass ein alter Armagnac so viel kostet wie ein halbes Menü.
Ich umfasse die Taille meiner Gefährtin, mein aufgedrehtes Hirn ist sogleich bei ‚Gefährtin der Nacht‘. Piccolo scherzo, wir haben Einzelzimmer gebucht.
Im Prospekt steht zwar, der Lift sei in Planung, heute müssen wir noch mit der Treppe vorlieb nehmen.
Nach einigen Stufen wird mir klar, dass ich das kleinere Menü hätte wählen sollen – nur kommen zu den Klopfgeräuschen im Ohr andere Geräusche. Jemand brüllt. Tobt wie ein Verrückter.
Wir erreichen die Etage, das Geschrei wird wüster.
‚Du Schwein‘ hören wir, ‚Du gottserbärmliches Schwein‘. Etwas splittert.
‚Und dir hab ich vertraut! Du mieses Stück!‘ Etwas Gewaltiges kracht zu Boden, die Dielen erzittern, es rumort wie bei einem Erdbeben – ein mächtiger Schrank, eine Vitrine vielleicht? Dazu ein kolossales Klirren, wuchtig wie Domglocken, doch auch hell wie ein Xylophon, komponiert von splitternden Vasen, Karaffen und Porzellan.
Jetzt tritt er in den Flur, breitbeinig, mit angewinkelten Armen. Er ist nicht sehr groß, aber sein Auftritt ist riesig.
Mit der Axt aus einem dieser roten Kästen macht er Kleinholz.
Die eichene Vertäfelung kracht von der Wand, dann eine Türzarge. Der Schwung nach oben holt den Lüster von der Decke, ein Auerhahn stürzt ab. Eine kleine Bühne, er nutzt sie ausgiebig. Wir können unsere Zimmer nicht erreichen, er wütet und brüllt, kommt uns langsam entgegen. Bilde ich mir sein Augenrollen nur ein?
Doch jetzt – ich spüre es – bekomme auch ich den bösen Blick. Das muss der Föhn sein, oder die Mischung aus Föhn und Wein. Aus dem nächsten roten Kasten reiße ich die Axt und schreie ihn an: „Aus dem Weg, du Wicht! Hier kommt Judith, die Königin!“ Ich mache zwei beherzte Schritte auf ihn zu, er bleibt verblüfft stehen.
„Und ich bin ihr Ritter!“ deklamiere ich noch lauter. „Für dieses herrliche Weib zertrümmere ich Festungen und Burgen – und dich, du erbärmlicher Wurm.“ Ich lass die Axt durch die Luft sausen, bin selbst erstaunt, wie gut mir das gelingt.
Bald bin ich knapp vor unseren Zimmertüren, mein Widersacher macht einen Schritt zurück, hebt aber die Axt zum nächsten Schlag. „Runter damit!“, herrsche ich ihn an und zitiere H. M. Tribaquod-Allier, so laut ich kann: „Verkenne den Liebenden nicht, seiner Kraft kann nichts widerstehen. Hat alle Macht der Welt und legt sie der Frau seines Herzens zu Füßen.“
Judith ist jetzt hinter mir. „Burki, lass den doch“, sagt sie, „bringst dich nur in Gefahr“.
Begütigend legt sie die Hand auf meine Schulter.
Ritter, der ich bin, drehe ich mich zu ihr: „Keine Bange, meine Liebe! Werde ihn in seine Grenzen weisen.“
„Aber du hast eben so schöne Sachen gesagt … das verwirrt mich doch sehr.“
„Tja, jetzt isses raus“, sage ich kleinlaut. „Ist alles wahr.“
Ihre Hand rutscht etwas höher und krault meinen Nacken. „Hab‘s gerne gehört.“
„Gestatten?!“, bellt eine barsche Stimme, Judith empört sich: „Na, hören Sie mal, Sie unverschämter Flegel!“, da legt sich ein starker Arm um meinen Hals, ein anderer entwindet mir die Axt.
„Nein, nicht er!“, gellt Judith, „Der andere ist der Verrückte! Mein Begleiter hat das nur gespielt.“
Sie zeigt in den Flur mit Dutzenden Türen – aber da ist niemand.
Der Ältere mit zwei Sternen auf der Schulter sagt: „Madame, ich verstehe, dass Sie irritiert sind. Bitte gehen Sie auf Ihr Zimmer und stören Sie nicht unsere Arbeit.“
Die beiden ohne Sterne nehmen mich in die Mitte und halten die Axt vor meine Brust, der Zweisterner macht ein Foto von mir, dann fotografiert er die Verwüstungen. Zu dritt führen sie mich ab.
Ich versuche noch, einen Blick Judiths zu erhaschen, sehe aber, wie sie die beiseite gestellte Axt erhebt, um mich herauszuschlagen. „Um Gottes Willen!“, schreie ich, „Du machst alles noch schlimmer!“ Der Jüngste des Trios entwaffnet meine Begleiterin und sperrt sie in eines der Zimmer.
Ich gratuliere mir zu dieser fabelhaften Frau. Die werde ich heiraten – in Verona, noch vor der Oper!
„Tolles Pärchen, die beiden“, sagt jemand hinter mir.