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Elfriede Jelinek: Die Ausgesperrten

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Elfriede Jelinek: Die Ausgesperrten

Titel: Die Ausgesperrten
Autor: Efriede Jelinek
Verlag: ro ro ro
Jahr: 1980
Umfang: 266 Seiten
ISBN: 3 499 1551 92


Mit spitzer Feder nimmt Jelinek, am Beispiel einer Wiener Familie der späten fünfziger Jahre, die verlogene Spießbürgerlichkeit unserer Gesellschaft aufs Korn. Vielfach wurde „Die Ausgesperrten“, als eines ihrer lesbarsten Bücher bezeichnet, die Handlung basiert auf einer wahren Begebenheit.
Rainer Maria und seine Zwillingsschwester Anna stammen aus einer einfachen Familie. Ihr Vater ist ein Macho und Kriegsinvalide, im großen Krieg hat er ein Bein verloren, aber nicht seine faschistische Denkweise. Er trauert um den verlorenen Krieg, lauthals, das können alle hören, wie er sagt. Damals war er halt noch etwas, fesch, stramm und in Uniform, heute ist er gar nichts mehr. Nur ein Krückengeher, ein Sozialfall, über den die Gassenbuben lachen.
Ständig tyrannisiert er seine Ehefrau, nötigt sie zu unappetitlichen Pornofotos, die er auch gerne im Freundeskreis herumzeigt, um sie zu demütigen. In einer Lade liegt sein Revolver, immer öfter bedroht er die Gattin mit dem Umbringen. Er schlägt sie wegen kleinster Verfehlungen, der brutale Krüppel lebt in beständiger Angst, von ihr nicht als vollwertiger Mann akzeptiert zu werden. Die Kinder wissen davon, häufig erwachen sie nachts vom Schreien der Mutter.
Die Ehefrau erträgt ihren Tyrannen tapfer, lebt nur für ihre Kinder, sie schickt sie (unter eigenen Entbehrungen) auf das Gymnasium, sie sollen einmal etwas Besseres werden. Dennoch strafen sie die Kinder mit Verachtung, beschämen sie mit Schimpfworten und emotionaler Zurückweisung.
Rainer Maria, der erstgeborene Zwilling, liest Sartre und Camus. Er diskutiert sie in seiner Clique, die aus der Zwillingsschwester Anna und zwei weiteren Freunden besteht. Zunehmend verfällt Rainer dem Größenwahn, er versteigt sich immer mehr in intellektuelles Pseudogeschwafel. Bald lebt er in einer fiktiven Parallelwelt, die Realität erträgt er immer schwerer. Er stilisiert Kriminalität und Gewalt zum Ideal, gemeinsam mit seinen Bewunderern überfällt er nachts ahnungslose Passanten und raubt sie aus.
Einer der anderen heißt Hans Sepp, er ist einfacher Schlosser, ein paar Jahre älter als die anderen, aber ohne jede Reife. Gnadenhalber darf er dabei sein. Hans ist stolz darauf. Er strebt insgeheim nach Bildung, möchte später einmal die Matura nachmachen. Für sein Idol ist er nur ein dummer Prolet.
Anna, die Schwester Rainers, ist eigentlich gar nichts. Nur jung und unreif. Vom Überbruder fasziniert, liebt sie es, Gewalt gegen Menschen auszuüben, häufig spielt sie den Lockvogel für die ahnungslosen Opfer. Das macht sie geil.
Dann gibt es noch Sophie. Sie wohnt, vom Leben gelangweilt, in einer noblen Villa in Hietzing, über Geld wird zu Hause nicht gesprochen. Eigentlich heißt sie Sophie von Pachhofen, wird später studieren und einmal etwas Besonderes werden. Für sie ist das ganz selbstverständlich, für ihre Eltern auch.
Alle vier sind geprägt von einem tiefen Lebensekel und dem Gefühl, in einer verlogenen, reaktionären Gesellschaftsordnung gefangen zu sein. Gemeinsam diskutieren sie Sartre und „Der Fremde“ von Camus, versuchen, ihre Frustration durch Literatur zu bewältigen, was misslingt. Ihre Verzweiflung mündet in Gleichgültigkeit gegenüber ihren Mitmenschen und brutale Kriminalität.
Nach außen hin gibt sich Rainer als Führer, in Wahrheit ist er der größte Versager der Gruppe. Dies zeigt sich sowohl bei der Durchführung der Überfälle, wo er feige im Hintergrund agiert, als auch in Liebesdingen. Unfähig, sich emotional zu öffnen, versagt er bei seinem ersten Geschlechtsverkehr (einer Pflichtübung, wie er meint) wegen Potenzproblemen.
Von den anderen unbemerkt, gerät er zusehends in einen Strudel aus Selbstzweifeln und Depression, aus dem es für ihn kein Entrinnen mehr gibt. Alles erscheint ihm zunehmend sinnlos. Rainer reagiert mit der einzigen Emotion, die er noch äußern kann: brutale Gewalt, die sich in einem finalen Blutbad an seiner Familie manifestiert.
„Die Ausgesperrten“ ist ein komplexer Roman von bedrückender Stimmung. Meisterhaft erzählt Jelinek darin von Gewalt, Unterdrückung und jugendlicher Wut. In ihrer unverkennbaren, klaren, präzisen Sprache, geprägt von mitleidloser, emotionaler Kälte gegenüber ihren Protagonisten, formt sie dieses sozialkritische Lehrstück zu einem großartigen, lesenswerten Roman.
Ein Muss für jeden, der Jelineks Prosa mag.

 

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