- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Eiskaltes Töten
Eine eisige Decke aus Schnee hat sich über die Stadt gelegt und das Leben für einen Moment angehalten. Kein Auto fährt, niemand scheint auf den Straßen unterwegs zu sein und diejenigen, die noch wach sind, sitzen gemütlich vor dem wärmenden Kamin.
Linas Mund ist trocken. Sie zieht die Gardine so weit zu, dass gerade einmal ein Finger dazwischen gepasst hätte, verkriecht sich tief in ihrem Bett, das direkt neben dem Fenster steht, aber kann ihren Blick nicht vom Spalt zwischen Vorhang und Wand nehmen. Sie wartet ab und sieht durch ihn nach draußen. Da ist es. Ein Tier, denkt sie. Doch es ist eine dunkle Gestalt, der Körper stockdünn und unnatürlich lang, wie ein Schatten, wenn die Sonne tief steht. Ganz langsam bewegt sie sich durch den dichten Schnee. Ihr Instinkt lässt sie erstarren. Dieses Wesen ist böse.
Es ist mitten in der Nacht, die alte Straßenlampe flackert und Lina ist gerade nach unten getappt, um den Rest ihrer Weihnachtsschokolade zu holen, als sie ihn entdeckt hat. Erst hat sie gedacht, er stünde still, doch dann hat sie die Spur hinter ihm auf der Straße gesehen. Jetzt schlurft er durch den Schnee an ihrem Haus vorbei.
Er hat sich in eine schwarze Lumpendecke gehüllt. Je näher er kommt, desto besser kann sie ihn erkennen. Die Haut ist schwarz, die Nase krumm, Bartstoppeln stechen wie Messer aus dem Kinn und seine kalten Augen sind zu Schlitzen verengt.
Plötzlich hört das Flackern auf, das Licht erlischt und mit ihm verschwindet auch der Schatten des Mannes. Da bleibt er unter ihrem Fenster stehen.
Lina hält den Atem an. Ihre Kehle zieht sich zusammen und sie betet, dass dieses Wesen weitergehen und verschwinden möge. Da dreht es sich um. Langsam sieht es die Hauswand hoch zu ihrem Zimmer. Lina will den Vorhang zuziehen, sich unter ihrer warmen Decke verstecken, wenn nötig eine Weile unterm Bett ausharren, doch sie ist wie erstarrt und schafft es nur, sich nach unten zu drücken und die Decke bis zu ihren Augen zu ziehen. Er schaut sie an.
Schmerzvoll verkrampft sich ihr Magen, sie will schreien, doch Angst lähmt ihren Körper. Der Mann sieht sie ganz ruhig an und hebt eine dürre Hand und winkt ihr dann zu.
Ein breites Grinsen frisst sich auf das Gesicht des Mannes.
Eine Weile steht er so da, die Augen auf das Fenster fixiert. Gemächlich bewegt er sich auf sie zu und zieht sich auf den Bürgersteig in den Schnee, nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Lina schaut ihn an. So hat sie sich immer einen Mörder oder einen Dieb vorgestellt. Mit genau diesen Augen und dem hässlichen Gesicht. Da beginnt sie sich wieder zu regen. Sollte sie ihre Eltern holen? Sie würden wieder missgelaunt und böse sein, aber sie würde vermutlich in ihr Bett gelassen werden. Dabei hat sie eigentlich damit aufhören wollen. Hanna ist zwei Jahre jünger als sie und schläft immer in ihrem eigenen Bett.
Also rafft Lina ihren ganzen Mut und ihre Entschlossenheit zusammen und winkt dem Mann zögerlich zurück.
Sie richtet sich ein wenig auf, ihr Pyjama klebt an ihrer Haut. Es fühlt sich gut an, stark zu sein und sich der Angst entgegenzustellen. Auch ihr Atem beruhigt sich wieder. Da weicht sein Blick von ihr auf den Fenstergriff. Mit einem schrecklich ausgemergelten Finger zeigt er erst auf sie und dann auf das Fenster.
Lina möchte den Kopf schütteln. Sein intensiver Blick ist auf sie gerichtet und brennt ihr förmlich auf der Haut.
Mit ihrer glitschigen Hand greift sie nach dem Fenstergriff und öffnet es einen kleinen Spalt. Nächtliche Kälte durchflutet ihr Kinderzimmer und ein verdorbener, beißender Geruch, der sie an ihr totes Kaninchen erinnert, dringt zu ihr. Wieder hält sie den Atem an.
“Guten Abend“, sagt er plötzlich mit kratziger, aber erstaunlich vernünftiger Stimme.
“Was willst du?“, fragt sie wütend und ängstlich.
“Nun ja“, setzt er höflich an, “zunächst wünsche ich dir einfach einen schönen Abend.“
“Danke, aber was willst du denn?“
“Wünscht du mir denn keinen schönen Abend?“ Jetzt klingt er fast schon beleidigt.
“Es ist doch nach Mitternacht, fast schon Morgen.“
“Leider habe ich keine Uhr und weiß deswegen auch nicht, wie spät es ist. Hast du eine Uhr?“, fragt er.
“Nein“, lügt sie.
“Das ist aber schade. Hast du dir etwa keine zu Weihnachten gewünscht?“
“Was willst du?“
“Wie kommst du darauf, dass ich etwas will?“ Seine Stimme klingt verletzt und er betont das letzte Wort sehr seltsam.
“Na, du wolltest doch, dass ich das Fenster aufmache. Warum denn?“
Ratlos sieht er jetzt vor sich auf den Schnee. Dann bewegt er sich noch weiter zu ihr. Wenn er den Arm hebt, kann er bestimmt schon mein Fenster berühren, so lang ist er, denkt Lina.
“Nun, ich weiß nicht genau, wie ich das sagen soll, aber um ganz ehrlich zu sein, wollte ich zu euch ins Haus.“
Neugierig sieht er sie an. Überrascht stockt Lina. Mit so etwas hat sie nicht gerechnet. Was soll sie jetzt tun? Mit zitternder Stimme sagt sie: “Aber ich kann dich doch nicht einfach in unser Haus lassen.“
“Ich sehe, dass ihr da eine große Couch habt“, er deutete auf das Wohnzimmerfenster unter ihrem Zimmer, “die sieht gemütlich aus. Auf der kann ich doch heute Nacht schlafen und morgen früh bin ich wieder weg. Was sagst du dazu?“
Angst drückt auf ihrem Körper. In ihr zieht sich alles zusammen. Seine fröhliche Stimme, diese fiesen Augen und das hämische Lächeln. Dieser Mann will Böses. “Ich … Ich kann doch keinen Fremden reinlassen.“
Der Schweiß auf ihrem Körper ist so kalt geworden, dass es sich anfühlt, als würde eine dünne Eisschicht sie festhalten.
“Ich bin doch nicht fremd. Ich habe kein Bett, kein Kissen, mir ist kalt und ich will schlafen. Ich bin wie du.“
“Nein“
“Nein?“
“Du bist nicht wie ich. Du bist anders.“
“Anders?“, fragt er und blickt sie ganz aufmerksam an.
“Woher willst du wissen, dass ich anders bin?“
“Na, das weiß man doch. Du siehst eben so …“
Da unterbricht er sie. “Wie sehe ich aus?“ Er klingt wütend, fast frustriert.
“Ich weiß es nicht.“
“Du weißt es nicht mehr?“, er lächelt, “Na gut, Mädchen, aber sieh mich mal wirklich an. Ich friere hier draußen. Bei euch ist es warm, du hast eine dicke Decke, die Heizung läuft und ihr habt viel Platz. Ich hingegen besitze nichts, das ich nicht bei mir habe und jetzt sieh mich an. Das ist alles. Glaubst du nicht, dass mir auch kalt sein kann? Wirst du mich also hier draußen erfrieren lassen oder gehst du schnell runter, machst mir auf, ich leg mich hin und du kannst weiterschlafen?“
Er tut einen weiteren Schritt nach vorne, steht jetzt fast direkt unter ihr. Erneut packt sie die Angst. Was sollte sie ihm antworten und würde es überhaupt etwas bringen?
“Lass mich jetzt rein.“
Das ist keine Bitte, denkt Lina. Grausam und befehlend klingt es. Panik breitet sich in ihr aus. Was wird der Mann jetzt tun?
Schnell stößt sie das Fenster zu, so fest, dass der Griff fast abgebrochen wäre. Mit der anderen Hand zieht sie die Gardine fest zu und dann die Decke über ihren ganzen kalten Körper und presst sich gegen die Wand. Sie lauscht genau hin, doch abgesehen von ihren heftigen Atemstößen, ist da nichts.
Irgendwann löst sie sich von der Wand und legt sich normal hin. Stunden liegt sie noch da und nichts passiert. Als die ersten Regentropfen fallen, erschreckt sie sich so sehr, dass sie kurz denkt, an einem Herzinfarkt zu sterben, kann sich aber wieder beruhigen und fällt in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen hat Lina alles vergessen. Der Regen hat aufgehört und Hanna und sie wollen draußen mit dem selbstgebauten Schlitten fahren und einen großen Schneemann bauen. Lina öffnet gerade die Haustür, hüpft jauchzend durch den dicken Schnee, als sie über etwas stolpert und liegen bleibt. Nur wenige Zentimeter von ihrem Kopf entfernt starren sie die weit aufgerissenen Augen des Obdachlosen an. Die Haut ist an Stellen bleich, wie Knochen, an anderen schon schwarz. Die Augenbrauen und -lider sind zugefroren und weiß.