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Eine Frau mit Kindern
»Hörst du zu? Das ist wichtig. Sehr wichtig sogar.«
Timo nickte.
»Nein. Es ist sogar das aller Wichtigste, hörst du?«
Timo nickte erneut.
»Wenn ein Fremder zu dir sagt, dass er dich mit dem Auto mitnehmen kann, dann darfst du auf gar keinen Fall bei ihm einsteigen. Hörst du? Niemals.«
Timo nickte nicht. Seine Augen wanderten die weiße Wand hinter seiner Mutter nach oben und er stellte sich den Fremden vor.
»Und wenn ein Fremder sagt, dass dein Vater oder ich ihn geschickt hätten, um dich abzuholen, dann lügt er, hörst du? Dann ist er ein Lügner.«
Timo reagierte nicht. Er konnte den Fremden deutlich sehen. Ein dunkler Sportwagen hatte links neben dem Bordstein angehalten und das Fenster auf der Beifahrerseite wurde heruntergefahren. Timo sah sich um. Er erkannte, dass er die Straße weit genug entlanggegangen war und nur noch um die nächste Ecke gehen musste, um seine Schule sehen zu können. Der Haupteingang war noch etwas weiter weg, aber in ein paar Minuten würde er diesen erreicht haben und dort war es sicher. Womöglich war es auch hier schon sicher. Seine Schule lag mitten in der Innenstadt und um diese Uhrzeit brachten viele Eltern ihre Kinder dorthin, bevor sie zur Arbeit gingen. Viele Menschen die alles sehen könnten. Aber Timo wagte nicht, sich sicher zu fühlen. Manchmal war Angst etwas Gutes, das wusste er.
Der Fremde schenkte ihm ein Lächeln. Und obwohl sich seine Lippen nicht zu bewegen schienen und Timo keine Stimme hören konnte, forderte ihn der Fremde auf einzusteigen.
Aber Timo wollte nicht einsteigen und rührte sich nicht.
Lautlos berichtete der Fremde von einem Notfall, einem sehr ernsten Notfall. Außerdem hatte Timos Mutter ihn doch erst hergeschickt, um ihren geliebten Sohn abzuholen.
Er lächelte.Timo nicht.
Jetzt verschwand auch sein Lächeln und Timo wünschte es sich sofort zurück, als er das wahre Gesicht des Fremden sehen konnte und plötzlich schrie eine verzerrte Stimme in seinem Kopf.
»KOMM SOFORT HER. SONST WERDE ICH DICH …«
»… sterben vor Sorge, hast du verstanden?«
Timo erschrak und das Gesicht des Fremden wich der besorgten Miene seiner Mutter.
»Hast du mich verstanden?«
»Ja«
»Was habe ich gerade gesagt?«
»Dass ich bei niemandem ins Auto steigen soll.«
»Timo, ich werde gleich wirklich wütend! Du sollst mir gefälligst zuhören!«, stöhnte seine Mutter, die ihn grob an den Schultern gepackt hatte. Timo erkannte an ihrer Stimme, dass sie den Tränen nah war.
»Dein Vater und ich würden dich niemals von jemandem abholen lassen, den du nicht kennst, hörst du? Niemals, würden wir das tun. Nicke, wenn du verstanden hast.«
Er tat es.
»Gut.«, sagte sie und sah ihm eindringlich in die Augen. »Sehr gut.«
Nach einer Weile ließ sie seine Schultern los und wich einen Schritt zurück.
»Wenn wir uns mal verlieren sollten, in der Stadt oder in einem Schwimmbad, dann suchst du eine Frau, die Kinder hat, hörst du?«
»Wie heißt sie denn?«
»Nein, mein Schatz. Wenn du merkst, dass du verlorengegangen bist und weder mich, noch deinen Vater oder jemand anderen sehen kannst, den du kennst …« Sie machte eine Pause und holte tief Luft.
»… dann suchst du eine Frau, die Kinder hat. Ganz egal welche. Es muss nur eine Frau sein, die mit mindestens einem Kind unterwegs ist, okay?«
»Okay«
Sie ging noch einen Schritt zurück und ihre ohnehin schon besorgte Miene wurde noch etwas finsterer.
»Hoffen wir einfach, dass du nie verloren gehst. Wir werden einfach immer gut aufpassen.«
»Okay«
»Du kannst jetzt spielen gehen.«
Timo drehte sich um und lief in sein Zimmer. Am nächsten Tag ging er das erste Mal alleine zur Schule.
Warum hast du Angst? Nur Babys haben Angst, schnaubte Jack.
»Ich habe keine Angst«, protestierte Timo. »Ich will nur nicht, dass sie sich Sorgen machen.«
Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Jetzt ist es zu spät. Sieh dich doch nur um…kannst du jemanden sehen, den du kennst?
»Nein«
Ganz genau. Und wieso bist du ganz alleine?
»Ich weiß nicht. Ich habe doch nur ganz kurz mal weggeschaut.«
Bist du sicher, dass es nur ganz kurz war?
Timo war sich nicht sicher. Vielleicht war es auch ein klein wenig länger gewesen.
»Ja«
Lügner.
»Nein!«, gab er prompt zurück und spürte wie sich seine Augen mit Tränen füllten.
Fängst du jetzt auch noch an zu heulen? Nur Babys heulen, höhnte Jack und lachte.
»Ich heule nicht«, schluchzte Timo und spürte, dass sich eine Träne dazu entschieden hatte, sein Auge zu verlassen und seine Wange herunterzuwandern. Es folgten noch ein paar mehr und Timo wischte sie mit der rechten Hand weg.
Meine Fresse, hör endlich auf zu heulen! Du weißt doch ganz genau, was du jetzt tun musst.
Timo überlegte. Er hatte keine Ahnung, was er tun musste.
Nach wem sollst du suchen, wenn du verloren gegangen bist?
Plötzlich fiel es ihm wieder ein.
»Nach der Frau mit Kindern!«, sagte Timo und seine Miene erhellte sich. »Aber wie hieß sie denn noch gleich?«
Du verblödeter kleiner …
»Sie hat keinen Namen!«, fiel Timo der Stimme in seinem Kopf ins Wort. Der Stimme, die ihn schon viele Male in seinem Leben gerettet hatte, weil sie sich an Dinge erinnern konnte, die Timo längst vergessen hatte. Die Stimme, die sich anhört wie Jack Napier aus diesem Batman-Film, bevor er in die Säure gefallen war. Timo hatte sich diesen Film letztes Jahr mit seinem Freund Daniel angesehen und monatelang Alpträume gehabt. Aber nicht von Jack, sondern von der Person, die er im Laufe des Films geworden war. Die Alpträume hörten mit der Zeit auf. Die Stimme blieb.
»Es muss nur eine Frau sein mit einem Kind!«
Er wischte sich die letzten Tränen aus seinem Gesicht und hob den Kopf.
»Das Oktoberfest ist das größte Volksfest der Welt. Pass gut auf, dass du immer mich oder deinen Vater sehen kannst, hörst du?« Das hatte seine Mutter heute Morgen zu ihm gesagt. Erst jetzt wurde Timo bewusst, wie viele Menschen die ganze Zeit um ihn herumliefen. Und alle Frauen und Männer waren ähnlich gekleidet.
Kein Wunder, dass ich Mama und Papa verloren hab, dachte Timo.
Er sah sich um.
Eine Gruppe Jugendlicher kam auf ihn zu. Zwei von den Jungs hatten ungewöhnlich große Gläser in der Hand und alle lachten sehr laut.
Die können mir nicht helfen.
Timo drängte sich durch die vielen Menschen und entdeckte eine freie Fläche neben einem Essensstand. Dort angekommen drehte er sich um und hatte jetzt einen besseren Überblick über die Masse an Menschen.
Das sind bestimmt über Hundert!
Timo kniff die Augen zusammen und betrachtete jede Frau, die er sehen konnte. Keine von ihnen hielt die Hand eines Kindes oder trug eines auf dem Arm.
Wie wäre es, wenn du gleich nach einem Kind Ausschau hältst, Dummkopf, spottete Jack.
»Ja richtig! Gute Idee.«, platzte es aus Timo heraus, woraufhin ihm ein Mann aus der Essensschlange einen verwirrten Blick zuwarf.
Eine Frau muss nicht unbedingt ein Kind haben, aber ein Kind hat ganz bestimmt immer eine Mutter.
Und tatsächlich entdeckte er nach ein paar Sekunden ein kleines Mädchen, dass plötzlich in der Masse aufgetaucht war, wie ein Waljunges, dass zum Luftholen an die Wasseroberfläche geschwommen war.
Timo hatte sie zwar nur für einen kurzen Augenblick sehen können, bevor sie wieder in die Tiefen des Meeres abgetaucht war, aber dieser Augenblick hatte genügt, um sie deutlich zu erkennen.
Sie war etwas kleiner als Timo und hatte ihre dunkelbraunen Haare zu einem langen Zopf gebunden. Außerdem trug sie das gleiche Kleid wie all die anderen Frauen in der Menschenmenge.
Sie tauchte erneut auf und dieses Mal gemeinsam mit ihrer Mutter.Das Mädchen stolperte hinter einer großen Frau her, die sie an der einen Hand hinter sich herziehen musste und mit der Anderen einen Kinderwagen vor sich herschob. Die Mutter tauchte wieder ab und etwas anderes kam zum Vorschein.
Das Mädchen hielt einen kleinen Jungen mit kurzen blonden Haaren an der Hand, der ein grün-kariertes Hemd und eine Lederhose trug. Er war noch einen halben Kopf kleiner als das Mädchen und hatte einige Probleme damit Schritt zu halten. Er sah aus, als ob er jeden Moment stolpern würde, was seine Mutter jedoch nicht zu bemerken schien.Timo staunte.
Eine Kette aus Kindern, dachte er. Diese Frau hat drei Kinder. Das ist perfekt!
Dann verschwanden sie wieder im Meer und Timo rannte los.
Schnell.
»Okay«
Noch schneller.
»Ist ja gut.«
Noch schneller!
»Schneller kann ich nicht!«
Aber Jack hatte recht. Er durfte sie auf keinen Fall verlieren. Wer wusste schon, wann das nächste Mal eine Frau mit drei Kindern vorbeikommen würde…
»Entschuldigung!«, rief er, als das grün-karierte Hemd des Jungen in der Menge aufblitzte.
Die Kette bewegte sich weiter vorwärts.
»Entschuldigung!«, rief er, diesmal etwas lauter.
Der Junge drehte sich um und sah Timo einen Moment lang direkt an. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Er schenkte Timo ein kurzes Lächeln, während er mit unbeholfenen Schritten weiterstolperte.
Er wirkt unglücklich, dachte Timo. Wenn ich die ganze Zeit so schnell gehen müsste, wäre ich auch unglücklich.
»ENTSCHULDIGUNG!«, rief er so laut er konnte und endlich hielt die Kette an. Die Walfamilie schwamm an die Wasseroberfläche und drei Fontänen wurden ausgestoßen.
»Nanu, wer bist du denn?«, fragte die Frau. Sie stand jetzt direkt vor Timo und beugte sich zu ihm hinunter. »Wo ist denn deine Mama?«
»Ich weiß es nicht.«, gab Timo zurück. Mehr brachte er nicht hervor. Die Frau war etwas größer, als es bisher den Anschein gemacht hatte und ihr Gesicht war so freundich, dass sich Timo auf eine gewisse Weise zu ihr hingezogen fühlte. Ihre dunkelroten Haare hingen glatt herunter und waren so lang, dass sie den Boden berühren würden, wenn sie sich noch weiter heruntergebeugt hätte. Sie richtete sich auf und Timo staunte erneut über ihre Größe.
»Wie ist dein Name?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen. Ihr Blick wanderte durch die Menschenmenge und schien nach etwas zu suchen.
»Ich heiße Timo.«
Die Frau lächelte. Anscheinend hatte sie es gefunden, denn ihre zusammengekniffenen Augen wurden langsam wieder größer. Sie schaute auf ihn herab.
»Kinder, stellt euch vor«, sagte sie freundlich und deutete in ihre Richtung.
»Ich heiße Freja«, murmelte das Mädchen und lächelte sanft.
»Und ich ... also ... meine Mama nennt mich Sammy. Und ... mein Papa auch.«, stotterte der Junge mit gebrochener Stimme.
Wieso ist er denn so aufgebracht?
Die Frau schob Timo sanft auf sie zu und summte dabei leise eine fröhliche Melodie.
Sind es nicht drei Kinder, warf Jack ein.
»Sam, du nimmst Timo an die Hand.«, sagte sie freundlich, aber streng. »Wir wollen uns ja nicht auch noch verlieren.«
Sammy gehorchte.
Seine warme, feuchte Hand hatte die von Timo gepackt und hielt sie etwas fester als es nötig war.
Wieso ist er denn unglücklich?
Ist er das? Ist er wirklich unglücklich, fragte Jack.
In diesem Moment lockerte Sammy seinen Griff und Timo bemerkte, dass seine Hand leicht zitterte.
Hat er Angst?
Die Frau ergriff den Kinderwagen mit der Rechten, und streckte Freja ihre linke Hand entgegen. Das Mädchen ergriff sie und suchte gleichzeitig nach Sammys Hand.
»So und jetzt suchen wir weiter nach euren Eltern!«, sagte die Frau enthusiastisch.
Eure Eltern, wiederholte Jack.
Ihre langen, dürren Beine bewegten sich schnell und machten große Schritte. Gleichzeitig schob sie den Kinderwagen mit einer solchen Leichtigkeit, die Timo zum Staunen brachte.
So eine starke Frau, dachte Timo.
Ist sie stark, oder ist der Kinderwagen einfach nur leicht, flüsterte Jack. Timo, wieso ist er so leicht? Na? Timo? Denk nach!
Doch bevor Timo darüber nachdenken konnte tauchte die Walfamilie in der Menge unter.
Weil er leer ist, Timo. Deshalb ist er so leicht. Der Kinderwagen ist leer.
Doch das konnte Timo, der sich ganz darauf konzentrieren musste Sammys Hand zu halten und mit niemandem zusammenzustoßen, nicht mehr hören.