Er hörte eine weit entfernte Stimme, die seinen Namen rief. Es kostete ihn einige Anstrengung, seine Augen auch nur einen winzigen Spalt zu öffnen. Alles war undeutlich, verschwommen. In seinem Kopf rumorte es. Plötzlich spürte Thomas einen Stich an seinem linken Arm, verbunden mit einem leichten Schmerz. Er sah, wie ein Mann aufstand und zufrieden eine Spritze in einen durchsichtigen Plastikbeutel steckte. Der Beutel selbst war klar und deutlich zu erkennen, der Mann jedoch... „Was... „Was soll... Was...“ Alles war verschwommen, als ob sich ein nebliger Schleier im Wohnzimmer breitgemacht hatte. Thomas hörte jemanden etwas sagen, aber er konnte er nicht genau verstehen. Großer Gott, was geht hier vor? Silvia! Er versuchte, sich aufzusetzen. Es gelang nicht. „Silvia? Wo... Silvia?“ Oh nein, dieser merkwürdige Apparat... Dieser verdammte Brutkasten... „Silvia!“ Jemand beugte sich über ihn. Er erinnerte sich an diesen kleinen Chinesen.
„Es ist alles in Ordnung, Herr Brandenburg. Ihrer Frau geht es hervorragend.“
Es war eindeutige der kleine Chinese. „Was... Was haben Sie mit ihr gemacht?“, keuchte er. Es gelang ihm bei aller Anstrengung nicht, das Gesicht des Mannes zu erkennen. Immer noch war alles um ihn herum nebelig und verschwommen. „Wo ist sie?“ Und dann hörte er ein Brüllen. Kein menschliches Brüllen. Was geht hier nur vor?
Der kleine Chinese nickte zufrieden und sagte: „Ah... Sie haben Cheng gefunden. Perfekt!“
Das Brüllen kam näher. Thomas unternahm einen letzten Versuch, sich aufzurichten. „Argh...“ Zwecklos. Keine Chance.
„Gleich, Herr Brandenburg“, murmelte der gesichtslose Chinese leise. „Gleich erkläre ich Ihnen alles. Haben Sie noch etwas Geduld.“
„Ihr Schweine!“, zischte Thomas wütend. „Was... Was...“ Speichel lief aus seinem Mund, die Augen begannen zu tränen und das Rumoren in seinem Kopf wurde etwas stärker. „Verdammt, was habt Ihr vor?“
„Wenn Sie sich zu sehr anstrengen, verschlimmern Sie die Wirkung des Serums, Herr Brandenburg.“
„Serum?“ Thomas fiel auf, dass er außer der Stimme des Chinesen, das unheimliche Brüllen und sich selbst sonst nichts hörte. Als ob nur diese drei Dinge existierten. „Was für ein Serum, verdammt!“
„Später“, sagte der Chinese gelassen. „Er ist da.“
Thomas stöhnte auf. Alles begann sich um ihn herum zu drehen. Er wurde müde und schläfrig. Und dann sah er, wie etwas ins Wohnzimmer geführt wurde. Immer noch war alles wie in einem Traum. Unwirklich, surreal und absurd. Es war ein Tier, vielleicht ein Bär. Oder was anderes. Thomas kämpfte, zwang sich, wach zu bleiben. Großer Gott... Und dann erkannte er seine Frau, die neben dem Brutkasten auf einem Tisch lag. War es ein Tisch? Gott, diese Kopfschmerzen! Er öffnete seinen Mund, um sie zu rufen. „Sss... S... Sil... Sss... S...“ Ein Hustenanfall beendete seine Bemühungen. Hilflos mußte er mit ansehen, wie dieses haarige, riesengroße Etwas leise knurrend auf den Tisch zuging. Und dann legte es sich auf Silvia. Mit letzter Kraft gelang es Thomas endlich, sich aufzurichten. „Silvia!“, schrie er panisch. Dann kippte er zur Seite, rutschte von der Couch und blieb regungslos auf dem Boden liegen. „...wurde auch Zeit...“ „Gerade noch rechtzeitig.“ „Ja...“ Thomas Brandenburg fiel in eine tröstende Ohnmacht.
Der Zeiger der Drehuhr machte eine weitere Bewegung. Klack... Der tote Punkt war erreicht. Mitternacht. Das Ende aller Dinge. Für den winzigen Bruchteil einer Sekunde bewegte sich der Zeiger weiter vorwärts. Doch dann stoppte er unmittelbar. Für einen Moment war die Zeit stehen geblieben. Und dann begann er sich rückwärts zu bewegen. Immer schneller und schneller. Während im Rest der Welt der stete Irsinn seinen Lauf nahm, befand sich die Dürrenstraße in einer Art Blase, die unbeeindruckt von den Geschehnissen ihr eigenes Kapitel in das niemals endende Buch der Geschichte schrieb. Schneller und schneller raste der Zeiger rückwärts. Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte die Drehuhr schließlich. Der dunkle Himmel war verschwunden. Warme Sonnenstrahlen tauchten die Dürrenstraße in ein angenehmes Licht. Der tote Punkt war überwunden...
Silvia schmiegte sich an Thomas. „He?“
Er runzelte die Stirn. Thomas mochte es nicht, wenn er so zeitig geweckt wurde. „Was ist denn?“, fragte er mürrisch.
„Tut mir leid.“
„Was tut dir leid?“
„Ich weiß, du bist nicht glücklich, Thomas“, sagte Silvia leise. „Ich weiß, dass es meine Schuld ist. Die Fehlgeburt damals, ich...“
„He, schon gut.“
„Vielleicht sollten wir zu einer Eheberatung gehen. Ich will uns nicht verlieren!“
Thomas schluckte. Langsam drehte er sich zu ihr um und fuhr mit seiner Hand über ihren dicken Bauch. Silvia war im fünften Monat schwanger. „Ja“, antwortete er. „Vielleicht sollten wir das.“ Er lächelte sie an. „Ich will nämlich auch nicht, dass wir uns verlieren, weißt du?“ Silvia schloß die Augen und kuschelte sich fest an ihn ran. „Willst du wirklich nicht wissen, was es wird?“
Er sah hoch zur Decke und entdeckte eine Fliege. Seine Augen verfolgten ihre Flugbahn. „Nein. Lassen wir uns doch überraschen, hm?“
„Ja.“
„Okay.“
Frau Helene Groll öffnete das Fenter und genoß das grelle, ihre alten Augen blendene Licht der Sonne. Das wird ein guter Tag, dachte sie. Dann hatte sie auch schon Egon entdeckt, der die Ladentür aufschloß. War er dünner geworden, oder bildete sie sich das nur ein? Als Egon sich umdrehte und zu ihr rüberwinkte, setzte sie ihr schönstes Sonntagslächeln auf und winkte zurück. Vielleicht würde sie nachher in den Tabakladen gehen, auf ein kleines Schwätzchen. Aber irgendwas stimmte nicht. So sehr Frau Groll sich auch anstrengte, es fiel ihr auf den ersten Blick nicht auf.
Die Berghoffs saßen vor dem Fernseher. Der Apparat war nicht eingeschaltet. Statt dessen sahen sie dem kleinen Hund zu, der sie ankläffte und aufgeregt hin und her rannte. Seufzend nickte Herr Berghoff und sagte zu seiner Tochter Laura: „Also schön, von mir aus. Behalten wir ihn.“
Direkt nebenan lagen Melvin Gruber und Kathrin Wallkow nackt im Bett. Zufrieden zogen sie abwechselnd an dem kleinen Joint und inhallierten den Rauch. Sie sahen glücklich aus. Sie hatten vor, bei dem herrlichen Wetter im Park draußen zu picknicken. Vielleicht sogar eine Nummer zu schieben, während ihnen Leute dabei zusehen würden. Melvin legte den Joint zur Seite und küsste leidenschaftlich seine Freundin.
Im Haus Nummer Fünfzehn starrte Ewald Tönnecke gedankenverloren auf die vielen kleinen Zettel in seiner Hand. Eigentlich hatte er vorgehabt, an jede Tür einen dieser Zettel zu befestigen. Immerhin stand die nächste Mieterversammlung kurz bevor. Aber bei dem Wetter? „Ach, Scheiße!“, murmelte er und steckte die Zettel weg. „Kommt doch eh keiner von den Spinnern...“
Hong San fingerte einen Fisch aus dem großen Becken, hinten in der Küche. Er ärgerte sich, dass seine Angestellten wieder zu spät kamen. Dabei hatte er ihnen doch... Jemand sagte: „Guten Morgen!“ San drehte sich um. Er sah den dicken, bunten Strauß Blumen. Und dann seine Mitarbeiter. Es verschlug ihn glatt die Sprache.
Frau Helene Groll wählte eine Nummer an ihrem Telefon. „Ja, hören Sie? Groll, Dürrenstraße. Sie können nicht einfach die Drehuhr entfernen. Ja, genau. Sie haben richtig verstanden. Die ist nämlich weg! Sowas können Se einfach nicht machen!“
Eine wohltuende Zufriedenheit lag über der Dürrenstraße. Alle waren glücklich, zufrieden. Und in der Tat, es war ein wunderschöner Beginn eines noch schöneren Tages. Die Sonne sah wie gemalt aus. Und der Himmel erst...
***
Das Gewölbe wurde in schummriges Licht getaucht. Seltsames, bläuliches Licht. Zwei Männer saßen auf alten Holzstühlen sich gegenüber. Zwischen ihnen stand ein kleiner Tisch, auf dem ein Brettspiel stand. Im Hintergrund summte eine große, alte Uhr. Klack...
„Dieses Mal war es knapp, Jiau Tseng“, sagte der eine Mann und zog an seiner langen, glimmenden Pfeife.
Tseng nickte und nahm einen der kunstvoll verzierten Spielsteine in die Hand. „Ja, Meister Shiujan. Wir haben Cheng nicht rechtzeitig gefunden. Zum Glück ist alles gut verlaufen. Wir haben wieder fünfundzwanzig Jahre gewonnen.“ Er runzelte die Stirn und stellte dann den Spielstein auf das Brett.
„So?“, fragte Shiujan. „Haben wir das?“
Tseng lehnte sich etwas zurück. „Meister?“
Kopfschüttelnd kippte Shiujan den von Tseng gesetzten Spielstein um. „Du mußt noch vieles lernen, Jiau Tseng.“ Dann notierte er mit einem Bleistift zufrieden eine Punktzahl auf einen kleinen Schreibblock, der neben dem Spielbrett lag. „Dieses Mal wäre das Ende beinahe wirklich passiert. Es reicht nicht, im letzten Moment zu versuchen...“
Tseng unterbrach den alten Mann. „Wir...“
Erbost schlug Shiujan mit der Faust auf den Tisch. Spielsteine fielen um. „Wage es nicht, mich zu unterbrechen!“ Er räusperte sich und zog an der langen Pfeife. „Wir müssen nun abwarten, wie sich dieses Kind entwickeln wird. Cheng hat seine Schuldigkeit der Welt gegenüber getan. Er hat verhindert, dass Chung Besitz von der Frau ergreifen konnte. Es gibt immer zwei. Cheng und Chung. Jim und Jimmy. Alexej und Alexander. Immer zwei.“ Shiujan baute die Spielsteine wieder auf. „Wieder einmal waren wir schneller. Das Böse kann nur durch Böses besiegt werden.“
Tseng hustete leicht. „Und wie jedes Mal...“
„Ja.“ Der alte Mann lächelte. „Und wie jedes Mal stellst du mir die gleiche Frage, mein junger Freund. Und wie jedes Mal bekommst du die immer gleiche Antwort.“ Er nickte dem jüngeren Mann aufmunternd zu.
„Ja.“ Jiau Tseng seufzte. „Da gibt es so viele Dinge, die ich nicht weiß.“
„Es gibt immer Dinge, die ein Mensch nicht wissen kann“, sagte Shiujan. „Es hat bei unseren Urahnen angefangen. Und uns bleibt nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass wir den richtigen Schritt als erstes tun, und nicht die andere Seite.“
Tseng sagte nichts und starrte auf die Spielfiguren. Vorsichtig setzte er eine Figur auf ein Feld. „Oh...“
Shiujan sah auf das Spielbrett und runzelte die Stirn. „Du hat wohl gewonnen.“
„Ja.“ Tseng lächelte gequält. „Habe ich wohl...“
Der golden glitzernde große Zeiger der Uhr im Hintergrund bewegte sich nach vorn.
Klack...
Der tote Punkt. Das Ende aller Dinge.
Ein ewiger Kreislauf.
ENDE
copyright by al-dente, barkai, chaosqueen, Hanniball, Poncher