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Dschinn Tonic
Wenn ich Mama als Kind gefragt habe, warum Papa sich verändert hat, meinte sie, er habe die Bekanntschaft mit ein paar seltsamen Wesen gemacht. Flaschengeistern.
Das erklärte zumindest all die leeren Flaschen, die ich in unserer Wohnung fand. Nachts schlich ich aus meinem Bett, horchte am Türspalt, konnte aus dem Wohnzimmer Stimmen hören, und am Morgen, wenn Papa leblos auf der Couch schlief, sammelte ich die Flaschen vom Boden auf, schüttelte sie und lugte hinein.
Papa kam und ging immer öfter, dann ging er und kam gar nicht mehr. Mama hat kurz geweint, mich schließlich auf ihr Fahrrad gesetzt und vor einem Haus mit Löchern im Dach abgesetzt. Sie müsse zur Telefonzelle, und das ginge nicht mit einem Schreihals wie mir am Arm.
Eine Zeit lang habe ich geglaubt, sie hätte auch einen Flaschengeist getroffen, oder zumindest einen Telefonzellengeist, der seinen fetten Körper mit beiden Händen aus dem Hörer zwang, sie in ein Gespräch verwickelte und mit fortnahm.
Irgendwann hatte ich mehr Pflegefamilien kennengelernt als Friseure. Mit vierzehn wurde ich mit einer Bibel in der Hand vor einem protzigen Anwesen ausgesetzt, dass bereits von außen aussah, als beherberge es einen Geist. Anstatt dem Weg zur Haustür folgte ich dem Wagen, der mich abgesetzt hatte, immer in eine Richtung.
Das Buch wollte ich im ersten Winter verbrennen, aber die Seiten waren dünner als ein Haar und der Einband stinkt, wenn er Feuer fängt, also habe ich es bei einem einäugigen Typen gegen zwei Flaschen klarer Flüssigkeit getauscht. Von der Nacht weiß ich nicht mehr viel, aber am nächsten Morgen, als die Flaschen leer waren, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben diesen Aha-Moment, das Gefühl, tatsächlich etwas begriffen zu haben.
Es gibt keine Flaschengeister.
„Jaden?“
„Hm?“
Es ist der Neue. Er sitzt neben mir, hält mir die Pulle hin. „Ist nicht mehr viel drin.“
„Jo.“
Ich trinke aus, spucke zwischen die U-Bahngleise. Wir schweigen. Im Hintergrund lehnt Heer in einer Telefonzelle und spricht mit dem Jugendamt. Eigentlich haben sie ihm ein Zimmer zugesagt, aber sie halten ihn hin, seit Monaten. Neue Sachbearbeiter, ungültige oder fehlende Dokumente, der volle Beamtenalptraum.
Ich ziehe die letzte Flasche aus der Jacke. Das Glas ist bereits zerkratzt und das Etikett bleich, und als ich sie in das Licht halte, merke ich, dass die Flüssigkeit fehlt.
„Fuck.“
Frustriert stelle ich die Flasche auf den Boden, nehme Anlauf und schieße sie über die Gleise. Der Neue reißt die Arme hoch. Für den Bruchteil einer Sekunde fühle ich mich nicht wie ein besoffener Penner. Eher wie der beste Torjäger Deutschlands.
Dann trifft die Flasche die Wand, Glas splittert, es zischt. Eine grüne Wolke breitet sich aus, zieht sich wieder zusammen, wird fest. Acht Dinger bilden sich aus der Masse, sechs Arme, zwei Beine, schuppig und glänzend wie eine frisch polierte Jadestatue. Zwischen den Schultern wächst ein weiterer Huckel. Erst die Haare, ein langer, brauner Pferdeschwanz, dann das Gesicht. Schließlich zwei orange Augen.
Neben mir lässt der Neue seine Flasche fallen.
Der Flaschengeist ist viel freundlicher, als es im ersten Augenblick den Anschein hat. Wir nennen ihn Tonic, nach Dschinn Tonic. Eigentlich heißt er anders, aber sein Name ist lang und kompliziert und als der Neue endlich zu reden wagt, verknotet sich seine Zunge fast bei dem Versuch, es auszusprechen.
Der Dschinn hat einen afrikanischen Akzent und als ich ihn darauf anspreche, beginnt er von sich zu erzählen. Er wurde im Mamluckenreich geboren, wo auch immer das liegen mag, und ist im späten Mittelalter an Bord einer Galeere nach Venedig ausgewandert. Von da aus hat er Europa erkundet, bis ihn ein französischer Alchemist in einer Flasche eingesperrt hat.
Wir nehmen es hin.
„Bist du ein echter Flaschengeist? Mit Wünschen erfüllen und so?“, fragt der Neue irgendwann.
Tonic hebt nacheinander beide Beine an, als würde er auf eine unsichtbare Liege steigen, und legt sich schwebend auf den Rücken. Seine sechs Arme hängen in der Luft. „Natürlich kann ich Wünsche erfüllen. Jeder von euch bekommt drei, weil ihr mich befreit habt. Ihr könnt euch aber nicht mehr Wünsche wünschen, und auch keine Todeswünsche. So was mache ich nicht.“ Als er meinen Blick sieht, hebt er entschuldigend die Arme. „Das ist unprofessionell. Ich bin ein Dschinn, kein Dämon.“
„Bullshit“, sage ich, und Tonic schaut mich an. Ich traue ihm nicht. Ich habe mit Dingen, die aus Flaschen kommen, bislang keine guten Erfahrungen gemacht, und ein grünes Monster aus Rauch macht da keinen Unterschied.
„Probiere es aus“, sagt der Flaschengeist und paddelt auf seiner unsichtbaren Liege ein Stückchen näher. „Wünsche dir was. Geld. Frauen. Vodka.“
„Ich wünsche mir, dass Heer ein Zimmer bekommt.“
„Dein Wunsch ist mir Befehl“, sagt der Dschinn und einer seiner Arme löst sich und fällt zu Boden. Rauch schießt aus dem Loch, nimmt mir die Sicht. Neben mir hustet der Neue. Als wir wieder sehen könne, ist die Dschinnhaut ganz glatt, dort, wo noch eben sein sechster Arm war.
Im Hintergrund knallt etwas, dann laute Schritte. Heer kommt, strahlt, wippt auf und ab. „Ich hab das Zimmer!“ Er packt mich an den Schultern, schüttelt mich. „Heute Nacht schlafen wir im Warmen!“
Erst jetzt bemerkt er den Dschinn und sein Gesicht nimmt eine Farbe an, die Tonics gasiger Haut mindestens ebenbürtig ist. Ich zwinge ihn zwischen mich und Nikolaj auf die Bank und gebe ihm die Kurzfassung.
Als ich fertig bin, starrt Heer auf seine Füße und schweigt. Stattdessen räuspert sich der Neue. „Ich will jetzt.“
Der Dschinn wendet sich ihm zu.
„Ich will eine Platinkarte, die mit dem endlosen Geld. Und einen Ferrari.“
Es zischt, Rauch vernebelt die Sicht, dann zischt es erneut. Als ich wieder sehen kann, hält Nikolaj in der einen Hand eine Karte, in der anderen einen Autoschlüssel. Der Dschinn zeigt mit dem Finger zur Decke. „Dein Auto parkt am Ausgang. Fahre vorsichtig.“ Der Kleine öffnet den Mund, sagt kein Wort. Tonic lächelt. „Hast du auch schon einen dritten Wunsch? Vielleicht einen Führerschein?“
Nikolaj läuft los, ohne ein Wort zum Abschied.
Heer sieht ihm hinterher. Der Anwalt in ihm würde sicher gerne eine Standpauke halten, warum man Kindern weder Auto noch Platinkarte schenken sollte, aber er ist noch zu überwältigt. Ein Zimmer im Jugendheim, das ist besser als Nikolajs Wünsche zusammen.
Das Zimmer ist nicht sehr groß, mit einem Bett, einem kleinen Schrank und grell orangen Wänden, aber das ist egal. Für Heer ist es das Paradies.
Ich brauche eine Weile, um ihn zu beruhigen. Immer wieder dreht er auf und macht Freudensprünge, und dann wird er ganz still. Erst das Zimmer, dann der Dschinn. Langer Tag.
Wir müssen betteln und bitten, aber schließlich lässt sich Tonic dazu überreden, auch Heer drei Wünsche zu erfüllen. Technisch gesehen war er bei seiner Befreiung dabei, sowohl im Penny als auch in der U-Bahn. Tonic stimmt zu. Aus seiner Seite wachsen drei weitere Arme.
Fünf Wünsche. Zusammen haben wir noch fünf Wünsche.
Heer und ich diskutieren die ganze Nacht, was man alles machen könnte. Wir schwärmen von Essen und Menschen, von Reisen, die wir früher unternehmen wollten und irgendwann vergessen haben. Tonic spinnt mit, lacht viel und schwebt durch den Raum wie ein fliegender Tintenfisch.
„Ich habe das Fliegen vermisst“, sagt er irgendwann und dreht eine Pirouette. „Das ist Freiheit.“
Irgendwann, als wir müde werden und langsam begreifen, was heute eigentlich alles passiert ist, lehnt Heer sich zurück, den Kopf in den Armen verborgen. Auf einmal sieht er sehr alt aus.
„Du hast einen deiner Wünsche für mich gegeben“, sagt er und schaut mich an. „Warum?“
Ich zucke mit den Schultern. Eigentlich war es nur ein Test, aber ich bereute es nicht. Es tut gut, Heer wieder glücklich zu sehen, und der Dschinn über unseren Köpfen strahlt mit. Es ist beinahe seltsam, aber ich habe vergessen, wie sich eine Situation anfühlt, die mich nicht herunterzieht.
Er klopft ein paar Mal auf den Boden, dann wendet er sich an Tonic. „Ich kenne meinen ersten Wunsch.“
„Nur zu.“
Heer blickt mich an. „Ich wünsche mir, dass Jaden und ich keine Alkoholiker mehr sind.“
Auf einmal fühle ich mich anders, nicht besser oder schlechter. Einfach nur anders.
Heer und ich beschließen, fürs erste unsere letzten vier Wünsche zu sparen, bis wir genau wissen, was wir damit anfangen wollen.
Auf einmal ist eine Woche vorbei. Wir denken nicht mehr oft an Nikolaj. Er hatte seine Wünsche und wir unsere, und die haben uns genauso schnell wieder auseinander gebracht, wie wir uns gefunden haben. Nur einmal zeigt mir Heer einen Zeitungsartikel. Darauf ein roter Ferrari, auf dem Dach liegend. Das Bild wurde im Dunklen aufgenommen, aber man kann Glassplitter auf der Straße erkennen und eine Hand, die aus dem Fensterrahmen heraus hängt.
Man könnte also sagen, wir waren ziemlich überrascht, Nikolaj wiederzusehen.
Heer und ich machen uns gerade auf, das Jugendheim durch den Hinterausgang zu verlassen, als er uns draußen abfängt. Für einen Unfalltoten sieht er erstaunlich gut aus, ein Pflaster an der Backe, eins am Kinn, mit dunkelblauer Regenjacke und einer Maschinenpistole in der Hand.
Nikolaj macht nicht den Eindruck, als hätte er sich in den letzten Tagen Ruhe gegönnt und intensiv darüber nachgedacht, was er mit seinem restlichen Leben anfangen möchte. Seine Augen sind leicht rosig. Die Hand mit der Waffe zittert.
„Jetzt bezahlt ihr“, schreit er uns an und schnieft.
Heer und ich werfen uns einen Blick zu.
„Hey, Kleiner“, sage ich.
Er kommt näher. Auf einmal werden seine Hände ruhig. „Tut nicht so, als hättet ihr keine Ahnung.“
„Die haben wir tatsächlich nicht.“
„Gib es zu.“ Er kommt ganz nah ran, hält mir die Waffe direkt vor meine Augen. „Ihr habt mir das angetan. Ihr habt euch gewünscht, dass ich einen Unfall habe, richtig? Weil ihr neidisch auf mich wart!“
Heer verschränkt die Arme. Falls ihn die Waffe nervös macht, lässt er es sich nicht anmerken, aber gut. Ihm wird sie auch nicht unter die Nase gehalten. „Jetzt beruhige dich mal, Nikolaj. Wir würden uns doch nie etwas wünschen, das dir schadet.“
Er lacht. Sein Lachen ist seltsam, mehr ein Atemzug. Er zieht die Mundwinkel nach außen und keucht wie ein Irrer. „Das soll ich euch glauben?“
„Frag doch Tonic, wenn du es genau wissen willst.“
„Ich war bei ihm, und er hat noch vier Arme.“, sagt Nikolaj. „Deswegen gehen wir jetzt zu ihm.“ Seine Hände schließen sich fester um die Waffe. „Eure beschissenen vier Wünsche gehören mir.“
Wir finden Tonic am Hafen, eine tannengrüne, wolkige Gestalt, die auf dem Rücken über das Wasser schwebt und dabei Kraulübungen macht. Von uns allen sieht er am glücklichsten aus.
„Hey Tonic“, sage ich und bleibe am Rand stehen
Als der Dschinn uns entdeckt, winkt er und kommt herbei geflogen. „Hallo, Jungs. Wie gehts?“
„Hast du ihm die Waffe gegeben?“
Der Dschinn lächelt. „Ich würde ihm eine Atombombe geben, wenn er danach gefragt hätte.“ Er legt die Hand entschuldigend auf die Brust. „Nicht, dass ich das wollte, aber so ist die Regel. Was kann ich euch Gutes tun? Schokolade? Eine Hütte in den Bergen, eine Yacht?“ Er zwinkert mir zu. „Vielleicht doch die Atombombe?“
Ich schüttle den Kopf.
„Los“, sagt Nikolaj. „Wünscht euch meinen Ferrari.“
„Warum kaufst du ihn dir nicht einfach?"
Nikolaj spuckt auf den Boden. „Die Bullen haben meine Karte eingesackt.“
„Gibt es nicht irgendeine Regel, die besagt, dass man Wünsche nicht unter Zwang aussprechen darf?“, fragt Heer und erntet dafür einen bösen Blick von Nikolaj.
Tonic schüttelt den Kopf. „Nein. Wunsch ist Wunsch.“
„Mach jetzt“, sagt der Kleine zu Heer, schwenkt mit der Waffe zu ihm herum. „Los!“
„Scheiße, Niko“, beginnt Heer, aber er bricht ab, als er sein Gesicht sieht.
Ich werfe einen Blick zu Tonic, signalisiere mit einen Räuspern, dass ich meinen Wunsch kenne. Der Dschinn lächelt mir zu und schwebt ein Stück näher heran.
„Sprich“, sagt er.
„Ich wünsche mir, Nikolaj wäre ein Schwein.“
Einmal mehr schießt Rauch hervor. Als er sich lichtet, steht an der Stelle, an der der Neue eben noch gestanden hat, ein großes, rosiges Ferkel, mit einer Regenjacke auf den Schultern und der Maschinenpistole zwischen den kleinen Beinen. Entsetzt quiekend will das Tier davonlaufen, aber Heer setzt ihm nach und packt es, bevor Nikolaj fliehen kann.
Am Abend sitzen wir wieder in Heers Zimmer und lauschen dem Regen gegen das Fenster prasseln. Das Schwein konnten wir unmöglich mit ins Jugendheim nehmen, also haben wir es an einen Fahrradständer im Hinterhof gekettet. Nicht gerade warm, geschweige denn trocken, aber unser Mitleid hält sich in Grenzen.
Während über unseren Köpfen Tonic seine Bahnen durchs Zimmer zieht, überlegen Heer und ich, was wir mit unseren letzten drei Wünschen anfangen wollen. Niko in ein Schwein zu verwandeln war eine spontane Entscheidung, keine Idee, auf die ich im Nachhinein besonders stolz bin, und wir finden beide, dass ein Dasein als Tier für ihn keine dauerhafte Lösung ist. Und trotzdem weigere ich mich, noch einen weiteren Wunsch für den Neuen herzugeben.
„Schade, dass man sich nicht noch mehr Wünsche wünschen kann“, sagt Heer und setzt sich in seinem Bett auf. „Gibt es noch mehr wie dich, Tonic?“
Der Dschinn stoppt in der Luft. „Mehr wie was?“
„Naja, Leute wie dich eben. Mehr Dschinns, die Wünsche erfüllen können.“
Tonic schwebt ganz nah an ihn heran. „Darum geht es euch also? Um die Wünsche?“
„Natürlich nicht“, sage ich, bevor Streit entstehen kann. „Du bist unser Freund, Tonic. Aber wir bräuchten wirklich noch ein, zwei Wünsche. Wir können Nikolaj ja nicht für ewig da draußen im Regen hocken lassen.“
„Dann holt ihn doch rein.“
„Er ist ein Schwein!“
Heer nickt. „Und er hat uns mit einer Waffe bedroht. Tut mir leid, aber meine Wünsche gebe ich nicht für ihn her.“
Der Dschinn paddelt durch die Luft und lässt sich auf der Türkante nieder. „Viele Dschinns gibt es nicht, nein, und die wenigen, die ich kenne, dürften mittlerweile längst verstorben sein. Vielleicht stecken ein paar immer noch in Flaschen, aber sie zu finden ist so gut wie unmöglich.“
„Wie meinst du das, verstorben?“, fragt Heer. „Kann ein Dschinn sterben?“
Tonic lacht. „Wenn alle seine Wünsche aufgebraucht wurden.“ Als er unsere Blicke sieht, zuckt er mit den Schultern. „Was denkt ihr denn? Wir sind da, um Wünsche zu erfüllen. Nicht mehr.“ Er schwingt sich von der Türkante und schwebt weiter, zieht erneut einsam Bahn um Bahn durch das Zimmer.
Heer und ich schweigen und plötzlich wünsche ich mir still, ich könnte mich betrinken.
Ich wache auf. Es ist mitten in der Nacht. Heer schläft in seinem Bett, weiter oben hängt Tonic kopfüber an der Decke.
Als Kind habe ich alle Arten von Geister gehasst, seien es Flaschen- oder Telefongeister und was auch immer. Und jetzt, wo ich zum ersten Mal etwas Gutes in einer Flasche gefunden habe, verliere ich es wieder.
Natürlich könnten wir einfach unseren letzten Wunsch aufsparen, aber dann müssten wir den Rest unseres Lebens höllisch aufpassen. Nur ein einziger, unüberlegter Satz, der von unseren Lippen kommt, und Tonic verschwindet für immer. Das Risiko ist mir zu groß.
Ich schließe die Augen, döse zurück in den Schlaf, als mir auf einmal eine Idee kommt.
Ich wecke Heer und Tonic und erzähle ihnen von meinem Plan. Nachdem beide ihr Einverständnis gegeben haben, lassen wir eine Flasche aus der Gemeinschaftsküche mitgehen und laufen in den Hof. Nikolaj schläft, wacht auf, als wir die Kette lösen, und wir bedeuten ihm, still zu sein, damit er nicht das ganze Jugendheim aufweckt. Ungeduldig schwebt Tonic über unsere Köpfe.
Als wir um das Schwein herumstehen, kniet sich Heer zu Boden, packt es fest am Fuß und spricht als erstes. „Ich wünsche mir, Nikolaj wäre nicht länger ein Schwein, sondern ein Silberreiher.“ Wir haben lange mit Tonic über seine Faszination für die afrikanische Vogelwelt gesprochen. Silberreiher findet er besonders prächtig.
Grüner Rauch umwabert uns, verliert sich in der Nachtluft. Aus dem Schwein ist ein prächtiger, weißer Vogel mit schwarzem Schnabel und langen Stelzbeinen geworden. Er versucht zu fliehen und schlägt Heer seine Flügel ins Gesicht, aber der lässt Nikolaj nicht los.
„Ich wünsche mir, dass Tonic und Nikolaj ihre Körper tauschen.“
Es zischt erneut. Die Flügelschläge hören auf.
Als wir wieder sehen können, lässt Heer den Vogel vorsichtig los. Tonic schaut uns beide einmal an, krächzt kurz. Dann breitet er seine Schwingen aus und erhebt sich in die Luft. Er dreht ein paar Runden über unseren Köpfen wie Bahnen in einem Schwimmbad, als ihn ein Windstoß erfasst und der Silberreiher hinter einer Hausfassade verschwindet.
„Ach du Scheiße!“
Neben uns schwebt Niko, schaut auf seinen grünen, wabernden Körper. „Fuck!“
Aus meiner Jacke hole ich eine leere Flasche und bevor der neue Dschinn davon fliegen kann, sage ich: „Ich wünsche mir, du wärst in dieser Flasche gefangen.“
Wir bringen die Flasche zurück in die U-Bahn, wo wir Tonic das erste Mal getroffen haben. Irgendwann wird jemand Nikolaj finden und ihn aus der Flasche befreien, und dann ist es an ihm, was er damit macht. Ob er sich wünscht, dass der Neue wieder ein Mensch ist oder vielleicht doch nur ein Ferrari und die Platinkarte, ist nicht mehr unsere Entscheidung, und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht. Niko soll einfach froh sein, dass er kein Schwein mehr ist.
Heer darf im Jugendheim bleiben. Fürs erste hat er einen Aushilfsjob in einer Restaurantküche bekommen, zwei Blocks entfernt, wo er viermal die Woche Kartoffeln schält und Pfannen einfettet. Als nächstes will er sich einen Platz in einer Abendschule suchen, Abitur nachmachen. Vielleicht irgendwann studieren, Jura. Hauptsache, er hat wieder Träume.
Keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Ich würde gerne Mama treffen. Ich bin ihr nicht wirklich böse wegen dem Kloster. Auch wenn ich es gehasst habe, hat alles irgendwie seinen Weg gefunden, und das würde ich sie gerne wissen lassen. Manchmal glaube ich, dass es für sie noch härter sein könnte als für mich.
Ich glaube, ich gehe nach Nordafrika. Da war früher das Mamluckenreich, sagt zumindest Google. Ich werde mir ein Fahrrad klauen, ein paar Ersatzschläuche und Snickers, und dann fahre ich nach Süden, durch Österreich und Griechenland, die Türkei, den Libanon und Israel, bis ich in Ägypten bin, und dann setze ich mich irgendwo auf eine Bank und halte Ausschau nach einem Schwarm Silberreiher.