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Die Zauberinsel Sylt
Ich strecke mich. „Endlich hat man mal wieder so richtig Platz“, ziehe meine Maske vom Gesicht und trinke einen Schluck starken Kaffee. „Ja, endlich kann man gemütlich reisen“, sage ich zu mir , stelle die porzellan Tasse auf den Unterteller und vertiefe mich in den Zauberberg von Thomas Mann. Auch dort geht es um Krankheit, wie im Augenblick überall. Kann Krankheit ein Weg sein? Ein Ausweg? Ein persönlicher, sowie einer für die Gesellschaft?
Ich räuspere mich. Der Atem geht jetzt frei.
Plötzlich drängt sich mir ein Satz auf. „Der Genuss von Schönheit und die Präsenz einer gut funktionierenden Gesellschaft ist die Basis von Kultur und wenn es, um auf diese Werte zurück zukommen, eine Pandemie braucht, warum nicht?“
Absichtlich zur Feier meiner kleinen Reise ins Eigenheim an die Nordsee, habe ich mich in die erste Klasse hochgebucht, das ist ein neuer Schritt, eine Akzeptanz meiner besser gestellten Situation, so etwas hätte ich mir vor einem Jahr noch nicht gegönnt. Doch ich muss sagen, die Trennung von den Normalos tut mir richtig gut, ja, das ist ein neues Lebensgefühl.
Ich frage mich auch schon, was mit mir passiert ist?
Ich wurde weder befördert, noch habe ich eine Gehaltserhöhung bekommen?
Nein, nichts der gleichen. Trotzdem geht es aufwärts. Die Entwicklung fühlt sich richtig an. Zurück versetzt in die Zeit meiner Lieblingsbücher, bei denen die Bürger noch streng in Aufgabengebiete geteilt lebten, jeder seinen Platz in der Gesellschaft hatte und wusste in welche Kaste er gehörte, lässt mich hoffen. Dieses Gefühl lässt mein Herz höher schlagen. Oder ist das alles nur eine Illusion, sind wir nicht auf den Weg dort hin?
Eins ist gewiss, mir erscheint eine solche Struktur, als erstrebenswert, da sie Sicherheit vermittelt. Wäre sie nicht sogar gerecht?
Heute genieße ich einmal die scheinbare Rückkehr zu dieser Lebensart, die mir erlaubt meine Klassenzugehörigkeit zu fühlen.
Ich weiß mein Glück zu schätzen. Es beschert mir in der vornehmen Stille dahin zu gleiten, nicht wie früher von den vulgären Worten der Prolos umspült zu reisen, denn sie fehlen hier nun ausnahmslos. Schon die Öffnung des Busverkehrs zwischen den Städten hat da viel ins Reine gebracht und zu meinem Vergnügen die Ärmsten aus den Zügen verbannt. Und die Pandemiegesetze tun jetzt den Rest. Endlich reisen wir wieder unter uns. Wir, die durch unsere Investitionen die Infrastruktur und Gebäude errichten haben, können nun diese getrennt und komfortable nützen und bekommen unsere Risiken und Leistungen, die wir durch das Geschäft mit Aktien, zur Entstehung von Arbeitsplätze und Wohlstand beigetragen haben, durch das genießen einer parallelen, gehobeneren Welt ausgezahlt. Denn wer sonst als wir, hat zu der Erschaffung dieses Staates, der jedem Bürgen dient, jetzt so facettenreich und fortschrittlich beschaffen ist, beigetragen?
Natürlich hat mir der Ausnahmezustand, da ich nur ein kleiner Fisch bin, den Aufwand, die Genehmigung meiner Reise schriftlich zu beantragen, beschert. Da ich belohnt werde, nehme ich jedoch auch diese Schikane gerne in Kauf.
Beim Lesen des Zauberbergs bauen sich vor den Augen die langen Gänge des Sanatoriums auf, in dem Hans, außerhalb der Zeit und dem Zeitgeschehen in den Höhen der Berge, promeniert. Ja, wie ist dieser Roman doch ästhetisch, ein Wunderwerk der Schreibkunst. Plötzlich bin ich mitten drin, sehe die Teppiche, höre die gedämpften Schritte, erkenne die vielen Türen. Ein Mann vom Personal kommt mir mit einem Früchteplateau und einer Maske entgegen, schiebt sich an mir vorüber und grüßt freundlich. Doch als ich durch eine Tür hinaustrete erfasst der Blick statt den Bergen die Wellen des Meeres. Sie toben und brechen sich am Schiffsrumpf. Über mir leuchtet der Himmel in morgendlichen Farben, spiegelt sich in der See. In der Ferne nehme ich einen kleinen Streifen Land wahr, der langsam in mein Blickfeld tritt und im Nebelschleier vorbei schwimmt. Der Wind weht mir um die Nase.
Ja, so stand ich auf Deck und schaute über die Adria in die Ferne. Vielleicht sah ich nach Istrien hinüber, als ich nach einer Decke griff, zu einem Liegestuhl ging und mich dort einwickelte, um zu verweilen. Ich sehe mich noch jetzt dort verharren.
Plötzlich erlebe ich diesen Moment, mit voller Wucht. Ich kann mich so genau erinnern dass ich mich hier im Zug wie auf dem Schiff fühle. Ich höre jetzt auch schon das Rauschen des Meeres, spüre die Sonne auf der Haut und lasse sie für mich hoch hinauf in den blauen, wolkenlosen Himmel steigen. Der Atem geht jetzt tief. Meine Lungen füllen sich bis zum Anschlag.
Da piepst mein Mobiltelefon. Es reißt mich aus den Träumen, die Erinnerung an meine Kreuzfahrt im Mittelmeer verliert an Kraft und verschwindet.
Ich lege das Buch auf den Tisch, lasse kurz meinen Blick durch den Waggon schweifen, schaue dann aufs Telefon vor mir, erkenne ein paar Eilmeldungen, die sich dort auf dem Bildschirm zeigen. Der Bundestag hat die freiwilligen Rekruten eingeführt. Eine Ministerin verteidigt die Entscheidung. Der hohe Lohn von 1400 Euro wird kritisiert, da beim Freiwilligen Sozialen Jahr nur ein Bruchteil davon bezahlt wird und dass obwohl man noch vor kurzem behauptete, die Pflegeberufe aufwerten zu wollen. Ich muss grinsen. „Das ist Politik“, und blättere mit einem wischenden Finger weiter.
Da kommen Demonstranten zum Vorschein. „Ach die Querdenker schon wieder. Vertraute Bekannte“, murmle ich, „sie haben mal wieder demonstriert. Auch das noch! Die Rechten stehen auf. Und die Polizei hat nicht eingegriffen. Ach, sollen sie nur! Das ändert nichts!“
Ich höre eine Stimme hinter mir. „Ja, haben sie mit mir gesprochen?“, frage ich und richte mich in meinem Sitz auf.
Eine junge Frau tritt vor mich, zieht ihre Uniform zurecht. „Möchten sie etwas zum Essen oder noch etwas zu Trinken“
Ich bitte freundlich um ein Sandwich und schaue, als sie weitere Bestellungen aufnimmt, hinter ihr her. „Das ist ein lobenswerter Service hier und hübsch sieht sie auch noch aus“, sage ich mir und nehme einen Schluck vom jetzt schon lauwarmen Kaffee.
Als sie kurze Zeit später zu mir herantritt, schrecke ich aus meinen Buch auf. Ich rieche das zarte Parfüm. „Hier, bitte sehr!“, sagt sie und schon kommt ein Batzen Soße geflogen, landet vor mir auf dem Tisch. Sie legt das Sandwich dazu.
„Entschuldigen sie mich, wie ungeschickt von mir“, höre ich ihre Stimme und spüre, wie in mir der Ärger über ihre Ungeschicklichkeit aufsteigt.
„Was fällt ihnen ein, können sie denn nicht aufpassen“, vernehme ich meine Stimme. „Sie sind ja unfähig für diesen Job! Wer hat sie denn eingestellt?“
Mit einer eleganten Bewegung wischt sie die Soße vom Tisch. Ich schaue ihr zu, bekomme mich jedoch nicht in den Griff.
„Bitte, es tut mir wirklich leid. Aber schreien sie mich nicht an!“, bringt sie noch heraus.
Da ballen sich meine Hände zu Fäusten und der Ärger überrollte mich vollends.
Ich spüre wie ich mich aufrichte. In voller Größe und ohne Mundschutz brülle ich: „Wen ich an ihrer Stelle wäre, würde ich mir nicht erlauben einen Gast darauf hinzuweisen, wen er anzuschreien hat und wen nicht! Denn das entscheide ich noch selbst. Was fällt ihnen ein mich maßzuregeln, sie Wurm! Ja, wer sind sie eigentlich, dass sie sich das erlauben können. Was fällt ihnen ein, das ist ja völlig unerhört“
„Bitte!“, ich sehe Verzweiflung in ihrem Gesicht. Ja, sogar Angst. Freude steigt in mir auf. Sie scheint sich plötzlich nach Hilfe umzusehen.
„Nein, da finden sie keine. Hier ist niemand! Aber ich möchte jetzt sofort ihren Chef sprechen? Jetzt aber mal schnell“
Da reicht es mir. Ich lass mich schimpfend in der 1.Klasse zurück, komme aus einem anderen Waggon, von den verstopften Toiletten abgewiesen und vom Blasendruck weiter getrieben durch die komfortablen Sitzreihen. Das erste was mir dort auffällt ist eine leere Porzellantasse auf einen verlassene Platz. "Also ist das wirklich so", murmle ich vor mich hin "hier bekommt man Porzellan", während ich an der Bar nur einen Pappbecher bekomme. Als ich bei meiner Bestellung nachfragte weshalb ich keine der auf der Maschine stehenden Tassen benutzen durfte, bekam ich die Antwort, dass diese nur in der ersten Klasse serviert werden. Das ist eine Hygieneregel die seit der Pandemie bestehe, wurde mir erklärend beteuert. Da ich mich damit nicht zufrienden gab und weiter fragte, gab mir der freundliche Angestellte zwar keine befriedigende Auskunft, hätte mir auch mit einem "darum" kommen können, doch er erklärte, dass er diese Anweisung auch nicht verstehe, sich aber an sie zu halten gedenke.
Nun von der Anwesenheit der Tasse kurz aufgehalten, wende ich mich wieder dem Gang zu. Kaum bin ich ein paar Schritte weiter gegangen, da vernehme ich eine aggressive Stimme und sehe schon den schimpfenden Fahrgast der mit roten Kopf wild fuchtelnd vor einer Bahnangestellten steht.
„Was für ein aufgeblasener Hanswurst.“, ruft es in mir, während ich weiter auf die beiden zu steuere, denn um mein Ziel zu erreichen, muss ich an ihnen vorbei und es wird dringend. Kaum stehe ich hinter der Bedienung, wende ich mich an den aufgebrachten Mann.
„Entschuldigung, muss das sein! Sie schreien ja wie ein Tier!“
Seine Augen funkeln mich kurz an, dann zuckt er zusammen, dreht sich weg. Ich merke wie er von mir getroffen zu schrumpfen beginnt und in seinen großen Sitz zurück sinkt, mit einer weiteren Bewegung hinter seinem Mundschutz verschwindet.
Ein murmeln bringt er noch hervor, es muss wohl eine Entschuldigung sein, die niemand versteht kann.
Ich empfange ein lächeln von der Bahnangestellten, die kurzer Hand das Wort ergreift und freundlich zu ihm sagt:
„Dann lassen sie sich ihr Sandwich schmecken. Nach der Aufregung tut das sicher gut“
dabei dreht sie sich um und läuft vor mir den Gang entlang.
Kurze Zeit später stoße ich die Tür zu den Toiletten auf, kann mich erleichtern. Es braucht nicht lange und ich mache mich auf den Rückweg zu meinem Platz in der 2. Klasse, komme dabei noch einmal an dem Herren vorbei.
Da sehe ich mit erstaunen dass er sich schon von seinem Zusammenbruch erholt hat. Erneut sitzt er aufgeblasen im komfortablen Sessel, beißt selbst verliebt und gierig in das Sandwich.
Kaum bin ich an ihm vorbei höre ich auch schon seine Stimme die erneut nach der Angestellten ruft. Ich vernehme die Schritte hinter mir.
Was ist das für ein Kerl? Ja, das würde ich gerne wissen?
Ich bleibe jedoch nicht stehen, gehe weiter, steuere auf die Tür des Großraumwagens zu, um aus der kühlen 1.Klasse zu entkommen und in meinen Waggon zurück zukehren.
Was denkt dieser Mensch, das würde ich so gerne wissen und verstehen? Müsste es mir nicht als Artgenosse möglich sein, mich in ihn einzufühlen, oder ist er und seine Welt mir schon so fern, dass trotz selber Spezies, der Versuch scheitern muss.