- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Die wiedergefundene Geschichte
Hans Jürgen Kugler
Die wiedergefundene Geschichte
Es war einmal ein Geschichtenerzähler, der suchte eine Geschichte. Da ihm zu Hause partout keine mehr einfallen wollte, packte er sein Schreibzeug und ging in die Welt hinaus. Denn er hatte gehört, daß dort draußen die Geschichten gewissermaßen auf der Straße herumlägen. Und was wäre er denn für ein Geschichtenerzähler, wenn er keine Geschichte mehr fände, die er erzählen könnte. Also ging er neugierig los und sperrte Augen und Ohren weit auf, um auf seinem Weg auch ja keine Geschichte zu verpassen, wenn er denn auf eine träfe.
Er war erst ein paar Minuten unterwegs, als er an einem Baum vorbeikam. Wenn die Geschichten auf der Straße liegen, dann können sie wohl ebenso gut auch an den Bäumen hängen, dachte er sich und fragte den Baum gleich rundheraus: "He, Baum, weißt du nicht eine gute Geschichte für mich? Ich bin nämlich ein Geschichtenerzähler und ich lebe davon, Geschichten zu erzählen. Aber mir will einfach keine mehr einfallen. Kannst du mir nicht weiterhelfen?"
Er wartete eine ganze Weile, aber der Baum antwortete nicht, wie es nun einmal die Natur der Bäume ist, die schweigen nämlich im Walde, wie man so sagt.
Als der Geschichtenerzähler auch nach zehn Minuten nichts von dem Baum hörte, sagte er: "Also gut, nichts für ungut, Alter. Vielleicht bist du ja ein andermal gesprächiger." Sprach’s, gab dem Baum noch einen Klaps auf die Rinde und zog weiter.
Bald darauf kam er an einer Höhle vorbei. Mit klopfendem Herzen ging er näher heran.
"Prima!", dachte er. "Eine Höhle. Höhlen sind so schön dunkel und geheimnisvoll. Da steckt doch bestimmt eine tolle Geschichte drin."
Vorsichtig steckte er den Kopf in den Eingang und spähte aufmerksam in das Dunkel hinein.
"Hallo!" rief er, zuerst leise und zögerlich, aber bald wurde er mutiger: "Hallo, hallo! Ist da jemand? Eine Geschichte vielleicht? Eine klitzekleine? Ich brauche nämlich dringend eine!"
"… -ne! …-ne!" antwortete ihm ein Echo.
",Ne?‘" fragte der Geschichtenerzähler nach. "Also nicht? Schade! Schade!"
"… a-de! …a-de!" antwortete das Echo.
Na ja, wenigstens ist derjenige in der Höhle freundlich. Wenn er auch keine Geschichte für mich hat, so verabschiedet er sich immerhin, wie es sich gehört.
Allzu weit war er ja noch nicht gekommen auf der Suche nach einer Geschichte, aber er hatte ja auch erst damit angefangen. Irgend etwas würde sich schon noch ereignen, irgendwann mußte er doch …
Wie er so ziellos durch das Land streift, sieht er auf einmal ein riesiges graues Schloß vor sich aufragen, das ihm bisher noch nicht aufgefallen war. "Gehen wir mal hin", sagte er sich, "in diesem Schloß muß ja irgend jemand wohnen, und wer weiß?, vielleicht weiß der ja eine gute Geschichte für mich."
Nachdem er den breiten Weg durch den weiten Schloßpark durchquert hatte, kam er an ein großes, gußeisernes Schloßtor, das zu seinem Erstaunen sperrangelweit offenstand. Weit und breit war niemand zu sehen, keine Torwachen, keine Bediensteten, keine Gärtner oder Hofschranzen, noch nicht einmal Touristen. Also ging der Geschichtenerzähler einfach weiter, trat durch das hohe Eingangstor und passierte einen langen Gang, an dessen Ende die Tür zu einem großen Gewölbe sich wie beim Aldi durch Zauberhand von selbst aufschwang.
"Hallo, ist da jemand?" rief er in den Saal hinein. Niemand antwortete, aber er meinte vom Ende des Saales ein leises Rascheln zu vernehmen. Also trat er näher. Der Raum war leer und ziemlich düster, die schweren Vorhänge heruntergezogen, dennoch konnte er an der gegenüberliegenden Wand so etwas wie einen Podest erkennen, auf dem ein gewaltiger roter Sessel stand. Als sich seine Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, sah er, daß auf diesem Sessel jemand saß, eine kleine graue Gestalt, die in sich zusammengesunken tief in die Polster gekauert war und zu schlafen schien.
"Entschuldigen Sie bitte, daß ich hier so einfach hereinplatze", sagte der Geschichtenerzähler höflich, "aber die Tür war sperrangelweit offen, und weit und breit ist niemand zu sehen, darum bin ich einfach mal hereingekommen. Ich bin ein Geschichtenerzähler auf der Suche nach einer Geschichte, wissen Sie …"
"Oh, das tut mir aber wirklich leid", antwortete die Gestalt. "Da kommen Sie zu spät", sagte sie und richtete sich mühsam in seinem Sessel auf. " Es gibt keine Geschichten mehr, das ist ja das Traurige. Sie müssen wissen, ich bin der König von Tristanien und bis vor kurzem noch herrschte ich über ein großes, glückliches Reich, in dem es vor Geschichten nur so wimmelte." Die Gestalt seufzte und fuhr dann fort: "Aber vor ein paar Tagen kam eine böse Hexe vorbei und hat sie alle weggezaubert. Weiß der Teufel warum und wieso. Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Oh, es ist ja alles so maßlos traurig", klagte der traurige König von Tristanien und verfiel wieder in seine todesähnliche Erstarrung.
Der Geschichtenerzähler sah, daß er hier nicht mehr viel ausrichten konnte und zog weiter.
Da der König schon mal den Teufel ins Spiel gebracht hatte, ließ der auch nicht lange auf sich warten, denn wenn man den Teufel nennt, kommt er auch schon angerennt, wie man so schön sagt. Folgerichtig tauchte denn auch wie aus dem Nichts plötzlich ein elegant gekleideter Herr vor dem Geschichtenerzähler auf.
"Guten Tag, mein lieber Herr Geschichtenerzähler. Wie ich höre, suchen Sie dringend nach Geschichten, da Ihnen keine mehr einfallen wollen. Kein Grund zum Traurigsein, da kann ich Ihnen weiterhelfen. Für ein äußerst geringes Entgelt bin ich in der Lage, Ihnen jederzeit die schönsten, spannendsten, aufregendsten und tiefsinnigsten Geschichten der Welt zu liefern, druckfertig gesetzt und gebunden. Selbstverständlich gehört zum Lieferumfang auch ein für Sie äußerst vorteilhafter Vertrag mit einem der renommiertesten Verlage der Welt. Alles, was Sie zu tun haben, ist diesen kleinen Kontrakt hier zu unterschreiben …" Und mit diesem Worten reichte der elegant gekleidete Herr dem Geschichtenerzähler eine ziemlich abgegriffene Pergamentrolle, die er nun mit einem Tropfen Blut unterzeichnen sollte.
"Nein, vielen Dank", sagte der Geschichtenerzähler. "Diese Geschichte kenne ich schon. Die kauft einem heute sowieso keiner mehr ab. Die ist uralt und hat soo nen Bart. Behalten Sie Ihren Kontrakt und stören Sie mich nicht länger bei meiner Suche nach einer guten Geschichte. Auf Wiedersehen."
Der elegant gekleidete Herr grollte noch eine Weile vor sich hin, aber der Teufel hat keine Macht über die, die nicht an ihn glauben, und so mußte er den Geschichtenerzähler wohl oder übel ziehen lassen.
Nach einiger Zeit kam ihm auf seinem Weg ein Mönch entgegen, der mit weit ausholenden Gebärden und immerzu Kreuze schlagend fortwährend seinen Herrn um Erbarmen anflehte.
"Guter Tag, lieber Bruder", sprach der Geschichtenerzähler den Mönch an. "Ich störe ja nur ungern, aber ich brauche dringend jemanden, der mir eine gute Geschichte erzählen kann. Ich bin schon den ganzen Tag unterwegs, und ich habe immer noch keine Geschichte gefunden. Ich bin nämlich Geschichtenerzähler, wissen Sie, und wenn ich keine Geschichten mehr finde …"
"Da seid Ihr aber bei mir an den Falschen geraten", unterbrach der Mönch seinen Redeschwall. "Woher soll denn gerade ich Geschichten kennen? Ich habe genug damit zu tun, den ganzen Tag über zu beten und die Sünden zu bereuen, die ich nicht begangen habe, da habe ich keine Zeit, mir auch noch irgendwelche Geschichten auszudenken. Aber einen guten Rat kann ich Ihnen dennoch geben. Fragen Sie doch die Kinder, die haben den ganzen Tag nichts als Unsinn im Kopf, da finden Sie bestimmt, was Sie suchen", sagte er noch und wies auf ein nahegelegenes Dorf.
"Danke schön", sagte der Geschichtenerzähler. "Und bereuen Sie nicht zu tief, sonst bereuen Sie das eines Tages auch noch", konnte er sich nicht verkneifen, dem Mönch noch mit auf den Weg zu geben.
Als er sich dem Dorf näherte, scholl ihm schon von weitem das fröhliche Geschrei der Kinder entgegen, die auf dem Platz in der Mitte des Dorfes herumtollten. Er war kaum ein paar Meter in die Straße eingebogen, da kamen die Kinder schon auf ihn zugerannt, die ihn sofort erkannt hatten.
"Hallo, Herr Geschichtenerzähler", riefen sie fröhlich. "Wir haben schon soo lange auf dich gewartet. Komm und erzähle uns eine Geschichte, bitte, bitte!"
Der Geschichtenerzähler freute sich sehr über das herzliche Empfang, den ihm die Kinder bereiteten, setzte sich auf den Rand des Brunnens und legte sein Schreibzeug neben sich.
"Eigentlich bin ich ja zu euch gekommen, weil ich hoffte, daß ich von euch eine neue Geschichte zu hören bekomme, aber so wie es ausschaut, muß ich mich wohl noch ein ganz klein wenig gedulden.
"Eine Geschichte! Eine Geschichte!" forderten die Kinder fröhlich im Chor.
"Nun, da ihr mich ja so nett darum bittet, kann ich ja wohl nicht anders. Also gut, hört zu: Es war einmal ein Geschichtenerzähler, der suchte eine Geschichte …"