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Die Taube
„Mama, ich wollte doch Schokolade!“
„Du wolltest Eis haben, hier hast du es. Hör auf, dich zu beklagen.“
Der Junge schleckte artig sein Himbeereis, obwohl er Himbeere nicht leiden konnte. Aber es war ein heißer Sommertag und er war dankbar für jede Form der Abkühlung. Er blickte um sich. Der Park war erfüllt von lärmenden Kindern, genervten Müttern und viel zu vielen Tauben. Wo diese Biester wohl immer her kommen? Das letzte Rückzugsgebiet der Stadtkinder hatten sie sich angeeignet. Und die Kinder mussten darunter leiden.
Er saß auf einer Parkbank, das Eis in der rechten Hand und ließ seine Füße baumeln. Gleich neben der Bank, auf einer rot karierten Decke saß ein junges Pärchen, das wohl irgendeinen Anlass mit Sekt feierte. Sie lachten beide und der junge Man ließ den Korken der Flasche knallen.
Die Taube, die bisher noch seelenruhig auf der Kante der Parkbank gesessen hatte, bekam beinahe einen Schock, als sie das laute Donnern des Korkens hörte. Sie wagte einen Blitzstart direkt an dem Kopf des Jungen vorbei und floh vor dem verhallenden Lärm.
Der Junge erschrak über die vorbei fliegende Taube und ließ sein Himbeereis fallen. Nach allen Regeln der Unvorhersehbarkeit traf es, wie gewohnt, sein frisch gewaschenes, blütenweißes Hemd. Seine Mutter warf die Haare wutschnaubend in den Nacken. Weißes Hemd – Himbeerflecken – Hemd wegwerfen. Mit einem Schritt war sie neben ihrem Jungen und versetze ihm eine schallende Ohrfeige, so dass der rote Abdruck ihrer Hand noch eine Stunde später auf seinem Gesicht zu sehen war.
Zehn Meter von der Mutter entfernt ging ein hektisch telefonierender, aalglatter Werbefachmann in einem teuren Armani-Anzug durch den Park. Er telefonierte mit seinem Vorgesetzten. „Ich habe die Pläne fertig, wenn ich es ihnen doch sage! Das Konzept steht bis morgen, wir sind nur 2 Wochen hinter dem Zeitplan!“. Er beschwor seinen Gesprächspartner förmlich. Als er das Klatschen der Hand hörte, das bei dem Jungen nicht nur eine schmerzende Stelle im Gesicht, sonder noch dazu eine schmerzliche Erinnerung an Himbeereis bescheren würde, war er von seinem Gespräch abgelenkt. Nur für eine Minute, oder vielleicht war es auch nur der Bruchteil einer Sekunde, hatte er seinem Gesprächspartner nicht zugehört. Als er die Frau mit einem finsteren Blick gestraft hatte und sich dem Telefonat wieder ganz widmen konnte, war der wütende Mann auf der anderen Leitung in Höchstform. Er fand einen Bruchteil zu spät in die Wirklichkeit zurück und plötzlich war aus seinem Handy nur noch ein leises, rhythmisches Läuten zu hören. Er hatte aufgelegt.
Das Gesicht des wütenden Mannes war blutrot, seine Stirn schweißüberströmt und er konnte sich kaum beruhigen. „Was bildet sich dieser Arsch überhaupt ein, mich zwei Wochen lang warten zu lassen? Das ist unmöglich, das wird seine Karriere beenden. Ich werde seine Karriere beenden! Ich werde…“. Plötzlich brach der Mann mitten im Satz ab. Er rang nach Luft, griff an seine Krawatte, die ihm wie ein Strick vorkam, der sich immer enger und enger um seinen Hals schnürte. Er konnte jetzt nicht mehr atmen, seine Brust schmerzte und niemand war in der Nähe, der ihm hätte helfen können. Der wütende Mann starb an einem Herzinfarkt.
Das Pärchen, das auf der Decke gesessen hatte, freute sich über den wundervollen Tag. Er war gerade befördert worden und sie erwartete sehnsüchtig ihr erstes Baby. Es war perfekt. Ihr Gesicht glänzte bei jedem ihrer Worte und sie sprachen feurig und eifrig über die Zukunft. „Zu Schade, dass der Posten auf diese Weise frei geworden ist, nicht wahr, Schatz?“. Er sah sie etwas betrübt an, denn das war ein Punkt, der die Freude über die Beförderung trübte. „Ich weiß, Liebste, aber er war nicht mehr der Jüngste. Er hätte sich nicht so unheimlich über alles und jeden aufregen dürfen. Ein Herzinfarkt ist keine schöne Sache. Als ich mit ihm telefoniert habe, wegen der Verspätung des letzten Projektes, da war alles noch in Ordnung mit ihm! Ich verstehe nicht, wie schnell so etwas manchmal gehen kann.“. Er ließ den Korken der Flasche knallen und eine Taube verließ hastig ihren schattigen Platz auf der Bank. Sie flog am Kopf eines Jungen vorbei, der daraufhin sein Eis fallen ließ. Die Ohrfeige der strengen Mutter traf ihn hart, denn er hasste sie für jedes Mal, wenn sie ihn schlug. „Daddy würde so etwas niemals zulassen“. Er dachte es sich oft, traute sich aber nie, es laut auszusprechen. Schweigend nahm er die Bestrafung hin, er gab keinen Laut von sich und hütete sich davor, zu weinen.
Die klatschende Hand der Mutter erweckte die Aufmerksamkeit eines Werbefachmannes. Er war kurzzeitig abgelenkt von seinem Gespräch. Er wollte eigentlich nur noch schnell einige wenige Worte mit dem wütenden Mann wechseln, bevor er sich mit seiner Frau und seinem Sohn im Park traf. Sein Gesprächspartner hatte aufgelegt, doch er hatte ohnehin andere Probleme. Er sah dort auf der Bank seinen Sohn sitzen, seine Frau stand neben ihm. Die Ohrfeige war von ihr. „Mary, du Biest.“ Er dachte es sich, doch er würde es niemals laut vor ihr aussprechen. „Champ! Komm her!“ Er rief seinem Sohn zu und empfing ihn mit offenen Armen. Nichts Schöneres, als die leuchtenden Augen seines Sohnes zu sehen. Er war ein Wunschkind. Sie hatten ihn sich sehnlicher als alles andere auf dieser Welt gewünscht. „Mary, kannst du dich noch erinnern, als wir auf der karierten Decke deiner Mutter hier im Park gelegen sind, du hattest gerade erfahren dass du schwanger bist und ich wurde befördert? Kannst du dich erinnern Mary?“. „Ja, ich kann mich erinnern.“
„Du weißt doch noch, wie viele Nächte wir darum gebetet haben, Gott möge unseren Kinderwunsch erfüllen. Weißt du es noch Mary?“
„Ja, ich weiß es noch – verdammt, was soll die dumme Fragerei?“
„Wie kannst du es dann wagen, unseren Sohn zu schlagen?“.
Der Rest dieses Gesprächs verlief in unkontrollierten Bahnen und führte dazu, dass die Frau die Hand gegen ihren Mann erhob. Er war perplex. Er starrte sich aus weit aufgerissenen Augen an und konnte es nicht fassen. Es war zuerst Trauer – nicht Wut. Trauer darüber, was mit seiner Frau innerhalb weniger Jahre passiert war. Dann die Wut. Er wusste, wenn er jetzt nicht gehen würde, dann würde er sich nicht mehr länger kontrollieren können. Er macht am Absatz kehr und ging zurück in sein Büro.
Er war wütend. So wütend. In seinem Büro angekommen läutete auch schon das Telefon. Ein Mitarbeiter. Er war mit seinen Plänen im Verzug. Der wütende Mann war so in Rage, dass er sich nicht mehr beruhigen konnte. „Dass ist unmöglich, das wird seine Karriere beenden!“. Er war so in Rage. Zuerst seine Frau und dann dieser unzuverlässige Mitarbeiter. Die Ader auf seiner Stirn begann zu pochen. Sein Gesicht lief rot an und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er fühlte, dass seine Krawatte immer enger und enger wurde. Ein Stechen in der linken Brust.
Er starb in seinem Büro an einem Herzinfarkt.
Das dumpfe Aufschlagen seines Kopfes auf dem Schreibtisch erschreckte eine Taube, die wohl geglaubt hatte, auf dem Fenstersims des Büros endlich Ruhe gefunden zu haben.