- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Die Spanische Romanze
Es war im Spätherbst, als ich mich wieder einmal an jenen Tag in Paris erinnerte. Ich ging am Morgen im Park spazieren und spürte die nasse Kälte in den Gliedern. Das Laub raschelte unter meinen Schritten. Einzelne gelbe Blätter hingen noch an den Ästen, warteten nur auf den nächsten Windstoß. Ein Haiku Bashôs kam mir in den Sinn:
Nebelweiße Luft.
Rotgelbe Blätter im Wind.
So still die Bäume.
Mir ging auf, dass ich dieses Haiku vor langer Zeit tatsächlich gesehen hatte. Natürlich – die weißen Pantomimen. Und ich erinnerte mich, an die Tauben, die vielen Touristen, hörte die eigentümliche Melodie ...
Die „Spanische Romanze“ – wohl jeder Gitarrenschüler kennt diese Komposition.
Zum ersten Mal kam ich mit ihr als kleiner Junge im Haus meines Vaters Keiichi Nakamura in Berührung. Seine Schüler besuchten ihn oft und musizierten mit ihm. Mich faszinierte der einzigartige Klang der Konzertgitarre, dieses weiche und doch kraftvolle Eintauchen in eine Welt der Eleganz und Emotionalität. Die höheren Töne klingen klar und glänzend und als Kind kamen sie mir vor wie das silberhelle Läuten der Furi, die meine Mutter im Sommer immer in unserem Garten aufhing, um die bösen Geister zu vertreiben. Heute würde ich diese Töne eher mit einer Farbe assoziieren, mit der Farbe honiggelb. Die tieferen Töne hingegen haben eine Resonanz, die das Herz berührt und eine solide Grundlage für die musikalische Reise bildet. Sie können sich, was ihre Wirkung angeht, fast mit den Klängen einer Taiko-Trommel messen.
Mein Vater war ein Meister auf der Gitarre und ich wollte unbedingt so spielen können wie er. Darum brachte ich mir, noch bevor ich Noten lesen konnte, die „Spanische Romanze” bei, die ich oft genug von seinen Schülern gehört hatte. Ein merkwürdiges Stück. Es ist irgendwann im 19. Jahrhundert entstanden und niemand weiß, wer es komponiert hat. Diese Romanze mit ihren sanften, melodischen Phrasen übt einen ganz eigenen Zauber aus. Es ist, als ob jede Note eine Geschichte von Sehnsucht und Leidenschaft erzählt und die feinen dynamischen Nuancen, von leisen Passagen bis hin zu starken Akzenten, lösen im Hörer die verschiedensten Gefühle aus, als würde sich in ihrem Geist ein besonders kunstvoller Fächer entfalten. Kompositorisch gesehen ist jedoch überhaupt nicht viel an der „Romanze“ dran. Ja, sie weist sogar einige Schnitzer auf, wie zum Beispiel diese verdoppelten Terzen zwischen Melodie und Begleitung. Außerdem ist sie harmonisch recht einfach gehalten.
Dennoch - ich habe fast ein halbes Jahr benötigt, um die „Romanze“ zu lernen. Ich hatte keinerlei Hilfe. Mein Vater betrachtete meine ersten musikalischen Gehversuche eher misstrauisch. Als er aber sah oder vielmehr hörte, dass ich es ganz allein geschafft hatte, änderte sich seine Einstellung und von da an übernahm er meine Ausbildung.
Nun ja, ich hatte den besten Lehrer, den man sich denken kann, hatte erste Erfolge bei Wettbewerben in Japan, konnte einen Preis beim „Ramirez-Gitarrenwettbewerb“ in Spanien erringen, wurde bei Konzerten in Europa als neuer Stern gefeiert. Damals glaubte ich, die Welt einreißen zu können, wagte mich an die schwierigsten Stücke und interpretierte die alten Meister in immer gewagterer und, wie ich damals glaubte, genialerer Weise. An die „Spanische Romanze“ dachte ich schon lange nicht mehr.
Bis zu jenem Tag in Paris.
Ich hatte zu der Zeit ein Stipendium für einen Kurs mit Maestro Andres Segovia in Santiago de Compostela erhalten. Da gerade Semesterferien waren, beschloss ich, dem Rat meines Freundes Pablo zu folgen und buchte einen einwöchigen Urlaub in Paris, um dort nebenher etwas Geld als Straßenmusikant zu verdienen.
Es muss gleich am zweiten oder dritten Tag gewesen sein. Ich hockte auf dem Boulevard St. Germain und verfluchte Pablos Vorschlag. Ich saß auf meinem Klappstuhl, vor mir den Hut mit den paar kümmerlichen Münzen, die zum größten Teil von mir stammten. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, war ich pleite, denn meine Reisekasse ging zur Neige und als Student litt ich damals an chronischer Geldnot. Meine Finger streichelten die Saiten der Gitarre und entlockten ihr die atemberaubendsten Glissandos und Arpeggios. Ich spielte glaube ich Poncas Sonata Classica, irgendetwas Anspruchsvolles jedenfalls, mit komplizierten Akkordverbindungen, die meiner linken Hand alles abverlangten und einem Feuerwerk an schnellen Läufen, die ich mit traumwandlerischer Sicherheit abspulte.
Kaum jemand schien es zu bemerken.
Passanten gingen vorbei. Manchmal blieben sie stehen, aber nur für einen kurzen Moment. Nach einem freundlichen Nicken gingen sie weiter. Nur selten rückte einer von diesen Geizkragen einen Sou heraus, obwohl ich sie mit meinen Blicken förmlich hypnotisierte.
War mein Spiel so schlecht? Ich konnte es nicht glauben. War ich nicht Matsu Nakamura, der Jungstar der Gitarrenszene, hatte ich nicht erste Preise in diversen Wettbewerben gewonnen?
Das alles schien hier auf der Straße nicht zu zählen. Die einzigen, die mein Spiel zu würdigen wussten, waren die Tauben. Geduldig harrten sie in meiner Nähe aus, neigten hin und wieder ihre kleinen Köpfchen, um die Feinheiten meines Spiels besser hören zu können. Ich hatte sie mit Brotkrumen bestochen.
Lag es vielleicht an meinem Platz?
Die Straße war voller Touristen, die sich als stetiger Strom an mir vorbeischoben. Schräg gegenüber stauten sie sich am Stand der weißen Pantomimen zu einem großen Menschenauflauf. Die weißen Pantomimen – ich sehe sie vor mir, als wären sie erst gestern aufgetreten. Sie taten nicht viel, standen mit ihren nebelweißen Fantasiekostümen und rot-gelben Blätterhüten einfach nur ganz still und starr da. Sie bewegten einen Finger als wäre er ein Blatt im Wind und der Menge entfuhr ein „Ah” und „Oh”. Sie ruckten mit ihren Armen – begeisterter Applaus und das Klingen von Münzen.
Oder die Dame mit dem Hündchen gleich daneben. Sie hielt einen gelben Ring ungefähr zwei Zentimeter hoch über die Straße und ihr Pudel stolzierte hindurch, beklatscht von den Zuschauern.
Traurig spielte meine Gitarre dazu.
Plötzlich bemerkte ich auf meiner Seite der Straße in einigen Schritten Entfernung ein Mädchen, das sich lässig an die Häuserwand lehnte. Sie trug verwaschene Jeans und ein T-Shirt. Schwarze Haare fielen ihr locker über die Schultern und dunkle Augen in einem schmalen, braunen Gesicht musterten mich. Ihr Gesichtsausdruck war ganz entspannt, während sie – wahrhaftig, es war keine Täuschung – mir zuhörte.
Ich weiß nicht, wieso, vielleicht schien es mir einfach nur passend zu sein, ich begann, die schon lange vergessen geglaubte „Spanische Romanze“ zu spielen.
Ich sah das Mädchen an und spielte die ersten Takte. Lange hatte ich das Stück nicht mehr gespielt und ich musste mich erst nach und nach in den Geist der Komposition hineinfinden. Und da war sie wieder, diese Mischung aus Melancholie und Sehnsucht. Während ich die langsame Einleitung spielte, kamen die Erinnerungen. Daran, mit welcher Verbissenheit aber auch mit welcher Freude ich dieses Stück geübt hatte. Ich wurde sicherer, ließ mich von dessen Stimmung tragen und die Faszination kam wieder. Ich ging ganz in der Melodie der „Romanze“ auf. Ich blickte zu dem Mädchen hin und es lächelte. Da geschah etwas Merkwürdiges. Die dunklen Augen des Mädchens nahmen mich mit auf eine Reise; ich saß nicht mehr länger in der St. Germain, sah nicht die Touristen, die weißen Pantomimen, hörte nicht das Kläffen des Pudels.
Wir saßen an einer staubigen, mit Eichen und Johannisbrotbäumen gesäumten Landstraße. In der Ferne schimmerten die Häuser eines Dorfes. Auf uns brannte die Sonne Andalusiens herab und ich spielte für dieses spanische Mädchen eine Romanze, geboren aus einer Laune des Augenblicks heraus, hielt mich schon längst nicht mehr an die Noten des Stückes, sondern ließ mich einfach treiben und reihte Töne wie Perlen auf einer Schnur aneinander, jonglierte wie ein Gaukler mit ihnen, band sie zu einem Strauß und...
„Oh marvelous! How beautiful!”
Die Stimme riss mich aus meinem Traum. Ich blickte auf. Vor mir stand eine etwa fünfzigjährige Frau, reich mit Schmuck behängt, dem Akzent nach Amerikanerin, mit langen, gelben Zöpfen wie ein Schulmädchen und klatschte begeistert in die Hände. Und neben ihr und dahinter noch mindestens ein Dutzend andere Touristen, die ebenfalls klatschten. Noch ganz benommen konnte ich es nicht glauben und lächelte schüchtern in die Runde. Das Geräusch von Geldstücken weckte mich vollends auf. Tatsächlich, der Hut füllte sich schnell. Nicht nur mit Münzen. Die Amerikanerin nestelte an ihrer Handtasche, zweifellos im Begriff mich fürstlich zu belohnen.
Mein Blick wanderte zu dem Mädchen.
Sie war weg.
Ich wünschte, ich wäre damals einfach sitzen geblieben, hätte mich in meinem neuen Ruhm als Star der Straßenmusikanten-Szene gesonnt, noch ein wenig weitergespielt und wäre am Abend mit meiner Ausbeute zufrieden in mein Quartier gefahren. Stattdessen bin ich aufgestanden, raffte meine Sachen in den Rucksack, schnappte mir meine Gitarre und lief zu der Ecke, an der das Mädchen gestanden hatte. Ich entdeckte sie fast sofort. Mitten im Strom der Menschen flanierte sie die Nebenstraße entlang, die hier in den Boulevard mündete, blieb dann und wann stehen, ging weiter. Offensichtlich tat sie das, was die Franzosen „Faire du lèche-vitrine – Schaufenster lecken“ nennen. Ich wollte ihr nach – und rührte mich nicht vom Fleck. Da war sie, die Unbekannte, schon einige hundert Meter von mir entfernt und nur ab und zu gaben die Passanten um sie herum den Blick auf sie frei. Wenn ich ihr nachlief, konnte ich sie sicherlich noch erreichen. Warum zögerte ich? Ich fragte mich das damals und frage es mich noch heute. Hatte ich eine dieser Vorahnungen? Yokan, das intuitive Wissen um die Zukunft? Endlich gab ich mir einen Ruck und hastete ihr nach. Ich irrte durch die Straßen, aber es war, als hätte es sie nie gegeben. Wie sollte ich sie inmitten dieser Masse von Menschen finden? Ich wollte gerade aufgeben, als sie wieder auftauchte. Sie trat aus einer Boutique unmittelbar vor mir auf die Straße und ich wäre beinahe in sie hineingerannt. Hochgezogene Augenbrauen, dann ein Lächeln, das sich vertiefte.
„Oh, the guitarman.“ Ihr Akzent war nicht spanisch, sondern der einer Französin.
„Yes, that`s me“, war meine geistreiche Antwort.
„You played the guitar well.“
Mein Französisch war ein Rohdiamant, der noch geschliffen werden musste. Dauernd kam ich mit den Zeiten durcheinander. Deshalb sagte ich auf englisch: „Das warst du gewesen.“
„Ich?“
Ich sagte ihr, dass sie mich inspiriert hatte, wollte es vielmehr sagen, aber statt „inspired“ hatte ich wohl das falsche Wort gewählt, ich glaube, es war „inflamed“, jedenfalls lachte sie.
„Inflamed?“
„Ich bin Matsu“, sagte ich rasch, um die Peinlichkeit zu überspielen.
„Matsu, the Guitarman. Ich bin Sophie. Sag mal, hast du mich etwa verfolgt?“
„Und wenn es so wäre?“
In der Pause, die entstand, hielt ich buchstäblich die Luft an. Wie würde sie reagieren? So, wie sie aussah, hatte sie bestimmt jede Menge Übung darin, lästige Verehrer abzuwimmeln. Ich glaubte nun zu wissen, warum ich gezögert hatte, sie zu suchen. Ich hatte mich davor gefürchtet, dass der Zauber des Augenblicks, den ich vorhin beim Spielen der Spanischen Romanze erlebt hatte, unwiederbringlich zerstört würde. Ich hatte recht und auch wieder nicht. Das hier war keine geheimnisvolle Unbekannte. Nein, vor mir stand ein attraktives französisches Mädchen, das einen ganz anderen Zauber auf mich ausübte.
„O-kay.“ Sie zog das Wort in die Länge, als ob sie einen Schlussstrich unter eine schwierige Rechnung mit vielen Unbekannten ziehen würde. „Und wieso?“
Ich atmete aus. „Weil ich dich zu einem Kaffee einladen wollte.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“
Kurz darauf saßen wir uns in einem Straßencafé gegenüber, jeder einen Café au lait vor sich, und unterhielten uns. Nachdem ich die üblichen Fragen beantwortet hatte – woher ich komme, warum ich als Japaner so gut Gitarre spielen könne – erzählte sie mir, sie sei aus der Provence, wolle unbedingt Schauspielerin werden und spiele hier in Paris gerade in einem Off-Theaterprojekt, einem Monolog nach einem Stück von Jean Cocteau. Ich hatte Mühe, mich auf ihre Worte zu konzentrieren. Der Strom der Menschen zog an uns vorbei, ich spürte die Wärme der Sonne auf meinen bloßen Armen, roch den Duft des Kaffees. Der Stuhl, auf dem ich saß, war extrem unbequem und ich bekam allmählich Rückenschmerzen. Irgendwo heulte eine Sirene. Alles war so real, aber dennoch glaubte ich mich in einem Traum. Meine Blicke wanderten über ihr Gesicht. Es war nicht schön wie das eines Models. Dafür war ihre Nase etwas zu groß und die Kinnpartie zu ausgeprägt. Aber für mich passte alles zusammen. Besonders faszinierten mich ihre Augen. Sie waren nicht schwarz, wie ich anfangs geglaubt hatte, sondern von einem sehr dunklen Blau und sonderbar starr und glänzend.
„Wie wär‘s? Heute Abend?“, fragte sie.
„Heute Abend?“
Schon wieder lachte sie, und schon wieder über mich.
„Hast du mir überhaupt zugehört? Ja. Heute Abend. Da spiele ich. Komm doch hin.“
„Ja, klar. Ich komme gerne“, beeilte ich mich zu versichern.
Sie kramte in ihrer Handtasche, holte einen Flyer im Postkarten-Format heraus und gab ihn mir. „Ich muss noch zur Probe. Also dann, Guitarman. Danke für den Kaffee. Bis heute Abend.“
Ich stand auf und wir verabschiedeten uns mit dem in Paris üblichen Abschiedsritual: Bises links, Bises rechts. Dabei drückte ich sie vorsichtig an mich, als wäre sie eine zerbrechliche Puppe. Ich spürte ihren Atem über meine Wange streifen. Ich roch den Duft ihres Parfüms. Ihre warme Hand ruhte für einen kurzen Moment auf meinem Oberarm. „A bientôt, Guitarman“, flüsterte sie mir ins Ohr.
Sie winkte mir noch einmal zu und ging. Erst lange nachdem sie in der Menge verschwunden war, besah ich mir den Flyer. Als Eye-Catcher prangte auf der Vorderseite in der oberen linken Ecke eine weiße Rosenblüte, die mit dicken roten Tropfen benetzt war. Sehr melodramatisch, fand ich, aber vielleicht passte es zu dem Stück, in dem Sophie spielte. Dessen Name stand neben der Rosenblüte. Er lautete: „Die menschliche Stimme“, verfasst von Jean Cocteau. Ich hatte weder von dem Stück noch von dem Verfasser je zuvor etwas gehört. Auf der Rückseite der Karte war der Spielort, ein gewisses „Théâtre noir“ mit Adresse und Spielzeiten aufgeführt, dazu natürlich die unvermeidlichen Sponsoren.
Der Beginn der Vorstellung an diesem Tag war für zwanzig Uhr angesetzt. Ich blickte auf meine Uhr. Es war früher Nachmittag, sodass noch genug Zeit blieb, mich über das Stück zu informieren. Heute würde man einfach sein Smartphone zücken und nach ein paar Klicks Bescheid wissen, zur damaligen Zeit war das etwas umständlicher. Das Mittel der Wahl hieß „Internetcafé“. Nachdem ich eins gefunden hatte, erfuhr ich dort, dass „La voix humaine – Die menschliche Stimme“, ein Theaterstück des französischen Autors Jean Cocteau, zuerst 1930 aufgeführt worden war. Cocteau spielte mit dem damals noch neuen technischen Medium Telefon. Eine Frau telefoniert mit ihrem Ex-Geliebten, den sie noch immer verzweifelt liebt. Zu hören ist nur die Frau. Der Ex-Geliebte ist lediglich durch die Reaktion der Frau präsent. Das Telefonkabel ist ihre einzige Verbindung, sodass die Isolation und Verlorenheit der Frau betont wird.
Puh, das war schwere Kost und ich konnte mir Sophie in dieser Rolle kaum vorstellen. War sie dazu nicht viel zu sehr von Lebensfreude erfüllt? So kam es mir jedenfalls vor, obwohl ich sie schließlich erst seit ein paar Minuten kannte. Ich war gespannt auf die Vorstellung, ich war gespannt auf sie.
Um mir bis zum Beginn des Stückes die Zeit zu vertreiben, beschloss ich, noch etwas am Ufer der Seine spazieren zu gehen. Ich nahm die Metro und stieg an der Station Saint-Michel aus. Sobald ich die quirlige Atmosphäre des Boulevards St. Michel mit seinen Geschäften, Kunstgalerien und Straßencafés hinter mir gelassen hatte, öffnete sich vor mir der Blick auf die Seine. Während ich die breite Uferpromenade entlang ging, vorbei an der „Pont Au Double“ und der „Pont Notre Dame“, blickte ich immer wieder aufs Wasser, das in der Sonne glitzerte und funkelte. Große Flusskreuzfahrtschiffe und kleinere Boote durchpflügten die Seine und dann und wann winkte mir jemand vom Deck aus zu, wie um mich aufzumuntern. Tatsächlich hatte mich eine mir unerklärliche Schwermut ergriffen. Was war nur los mit mir? Gerade hatte ich ein bezauberndes Mädchen getroffen und würde sie bald wiedersehen. Als wollte sich das Wetter mit mir solidarisieren, lag inzwischen auch eine drückende Hitze wie ein schwerer Mantel über der sommerlichen Idylle. Der Himmel war nicht mehr blau, sondern diesig und mit bleigrauen Wolken bezogen. Sicher würde es nicht mehr lange dauern, bis sich ein Gewitter entlud. Außer mir waren hier, weit weg vom Zentrum des Trubels in der Nähe von „Saint Michel“, nur wenige Spaziergänger unterwegs.
Ich trat an den Stand eines Bouquinisten heran. Ich kann mich noch entsinnen, dass ich mich darüber wunderte, einen Bouquinisten so weit weg von dem Gewimmel ein paar Kilometer hinter mir zu sehen. Wahllos nahm ich mal dieses und mal jenes Buch zur Hand, blätterte darin herum.
„Kann ich Ihnen helfen, Monsieur?“, fragte der Bouquiniste, ein älterer Mann mit vollem grauen Haar, das er mit einem Stirnband in Schach hielt.
Ich wollte schon abwehren, doch dann sagte ich, einer Eingebung folgend: „Ja, ich suche nach einem Theaterstück. Es soll sehr bekannt sein. ‚La voix humain‘ von … von …“
„Von Cocteau, oui, naturellement. Es ist sehr bekannt. Und Sie haben Glück, Monsieur. Ich habe ein Exemplar da.“ Er wühlte ein paar Minuten in seinen Büchern und überreichte mir dann ein schmales, abgegriffenes Bändchen. „Ein trauriges Stück. Und heute aus der Mode. Für junge Leute wie Sie ist das doch nichts. Eine Frau, die über eine Stunde am Telefon redet und am Ende weint. Darf ich fragen, weshalb Sie sich für das Stück interessieren?“
Ich hatte Mühe gehabt, den Worten des Bouqiniste zu folgen, obwohl er extra langsam gesprochen hatte. Nun suchte ich in meinem Französisch nach den passenden Puzzleteilchen, die sich zu einer Antwort zusammensetzen ließen und erklärte, dass eine Bekannte von mir die Rolle der Frau übernommen hatte.
„Und Sie? Sind Sie ihr Geliebter?“, fragte er.
Überrascht über seine Direktheit brachte ich nur ein „Non“ heraus. Gleich darauf begriff ich, dass er auf „Die menschliche Stimme“ anspielte und fügte hinzu. „Dann – wäre ich ja ihr Ex-Geliebter, wenn ich das Stück richtig verstehe. N'est-ce pas?“
„Oui, Monsieur, Sie haben recht. Und ich hoffe, es ist nicht so.“ Er zwinkerte mir zu. Dann brach er urplötzlich in Gelächter aus. Es klang wie das Bellen eines Hundes vermischt mit dem Geräusch, das ein mit Nägeln gefüllter Eimer beim Schütteln erzeugen mochte. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Und ihn selbst schüttelte es auch wirklich, seinen gesamten dürren Körper. Seine Augen quollen fast aus ihren Höhlen, er beugte sich nach vorn, japste nach Luft und lachte zwischendurch immer weiter. Am deutlichsten aber von dieser ganzen Szene ist mir ein bräunlich-schwarz verfärbter Zahn im weit aufgerissenen Mund des Bouquiniste im Gedächtnis geblieben. Er lieferte die passende Kulisse für dieses groteske Lachen.
Ich war zu Tode erschrocken, trat einen Schritt zurück und geriet ins Stolpern. Dann drehte ich mich um und floh, mehr laufend als gehend, verfolgt von diesem Lachen, das mir noch immer einen Schauer über den Rücken jagt, wenn ich daran denke.
Irgendwann blieb ich keuchend stehen. Das Lachen war verstummt. Als ich zurückblickte, konnte ich den Bouquiniste nicht mehr sehen. Mir war flau im Magen und mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb, als wäre es ein verzweifelter Gefangener. Zu allem Überfluss wanderten außerdem gezackte, flimmernde Linien über mein Gesichtsfeld, Anzeichen für eine stille Migräne, die mich als junger Mann häufig in Stresssituationen heimsuchte. Ich sah mich nach einer Bank um, fand eine unter einer großen Platane und setzte mich. Mit geschlossenen Augen atmete ich ein paar Mal tief ein und aus und nach einer Weile beruhigte sich mein Puls wieder. Die gezackten Linien waren an den Rand meines Gesichtsfeldes gewandert und im Begriff, zu verschwinden. Was war das nur gewesen?, fragte ich mich. Der Typ hatte mich ohne Zweifel ausgelacht, aber warum? War der Mann plötzlich irre geworden? Inmitten des Gefühlschaos in meinem Inneren, als befände er sich im Auge des Sturms, formte sich ein einfacher Gedanke. Wie unterschiedlich Menschen doch lachen können. Auch Sophie hatte mich ausgelacht, aber ihr Lachen hatte etwas von der sorglosen Heiterkeit spielender Kinder an sich gehabt. Was für ein Unterschied zu dem grässlichen Gelächter von eben, das direkt aus einer Kammer des Schreckens gekommen schien. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, nicht mehr daran zu denken. Da merkte ich, dass ich immer noch das Büchlein „Die menschliche Stimme“ in der Hand hatte. Das kam mir gerade recht. Um mich abzulenken, blätterte ich darin herum und allmählich konnte ich mich so weit auf den Inhalt konzentrieren, dass einzelne Passagen in meinem Bewusstsein hängen blieben.
„… Hallo! Bist Du’s … Ich hör ganz schlecht … Das ist ja schrecklich … da sind mehrere Leute in der Leitung …“
Das Gespräch wurde unterbrochen, dann wieder aufgenommen, es gab einen Disput mit der Dame von der Vermittlung und so weiter. Vielleicht wollte Cocteau auf die Art zeigen, wie fragil die Verbindung der Frau zu ihrem Ex-Geliebten war, überlegte ich. Ich fand das alles aber ziemlich nichtssagend und blätterte weiter.
„… Ich auch, ich habe mich nicht für so stark gehalten…
… Du brauchst mich nicht zu bewundern. Ich bewege mich fast wie eine Schlafwandlerin. Ich ziehe mich an, ich gehe aus ich komme nachhause wie eine Maschine. Morgen bin ich vielleicht schon mutloser…
… Aber Cheri, ich habe dir nicht den geringsten Vorwurf zu machen…
… Unserer Liebe stand viel zu viel im Weg. Wir mussten das aushalten, fünf Jahre Glück verweigern oder die Risiken akzeptieren…
… Ich habe es nicht besser verdient. Ich wollte verrückt sein und ganz verrückt glücklich sein.“
Ungefähr in der Art ging der Monolog weiter. Die Frau machte offenkundig ihrem Ex-Geliebten etwas vor, vielleicht auch sich selbst. Ich klappte das Buch wieder zu. Das Ende wollte ich lieber von Sophie gespielt sehen, als es zu lesen. Sophie! Bald würde ich sie wiedersehen. Meine Stimmung hatte sich trotz der niederdrückenden Lektüre inzwischen wieder gehoben. Das Gewitter war ausgeblieben und die Sonne bereits zum Horizont gewandert. Es wurde Zeit aufzubrechen.
Laut meinem Stadtplan lag der Spielort in der Nähe des Parks „Bois de Boulogne“ im 16. Arrondissement. Um dorthin zu kommen, musste ich mit der Metro zur Station „Porte Maillot“ fahren. Nach kaum einer halben Stunde befand ich mich in einer Wohngegend, die wohl den betuchteren Parisern vorbehalten blieb. Entlang der Straße reihten sich elegante Villen aneinander, mit gepflegten Blumenrabatten und Zierrasen, teilweise sogar parkähnlichen Grünanlagen davor.
Nach einigem Suchen entdeckte ich an einem Zaun ein Plakat mit einem roten Schriftzug auf schwarzem Grund: „Théâtre noir“. Ich war am Ziel. Hinter üppigem Grün halb verborgen sah ich ein gelbes, zweistöckiges Haus, zu dem ein breiter Kiesweg hinführte. Die Gartentür war nicht verschlossen und ich betrat das Grundstück. Niemand außer mir war zu sehen und das kam mir sehr merkwürdig vor. Nach meiner Uhr war es noch eine halbe Stunde bis zum Vorstellungsbeginn und selbst, wenn ich in Rechnung stellte, dass es sich nur um eine kleine Off-Produktion handelte, mussten doch schon andere Besucher eingetroffen sein. Und war es nicht auch seltsam, dass draußen am Zaun nichts auf die heutige Vorstellung hinwies? Als ich zum Haus ging, fiel mir auf, dass der Putz an einigen Stellen abgeblättert war und ausgedehnte Flächen des Mauerwerks freigab. Ein großer Riss zog sich an der Vorderfront vom Dach bis zum Boden hin. Außerdem konnten die Fensterahmen dringend einen neuen Anstrich vertragen. Das Haus hatte eindeutig seine besten Zeiten hinter sich und dasselbe galt auch für die Dame, die auf mein Klingeln hin die Eingangstür öffnete. Sie hatte schlohweißes, lockiges Haar, war klein und zierlich und stand in etwas gebeugter Haltung vor mir.
„Sie wünschen, Monsieur?“, fragte sie freundlich.
„Entschuldigen Sie, Madame, hier sollte doch heute Abend eine Theatervorstellung stattfinden“, sagte ich.
„Eine Theatervorstellung?“, echote sie. „Heute Abend?“
„Ja, hier ist doch das ‚Théâtre noir‘. Oder nicht?“ Unsicher geworden schaute ich sie an. Sollte ich mich vertan haben und das Theater befand sich auf dem Nachbargrundstück?
„Oui, Monsieur. Aber hier findet schon lange keine Vorstellung mehr statt. Es sind kaum noch Besucher gekommen, da hat sich der Aufwand einfach nicht mehr gelohnt. Ich sollte das Plakat wirklich mal entfernen. Ich bring‘s einfach nicht über mich.“
„Aber Madame ...“, ich kramte in meiner Tasche und zog die Karte hervor, die mir Sophie gegeben hatte. „Sehen Sie. ‚Die menschliche Stimme‘ von Jean Cocteau. Das Stück soll doch heute hier aufgeführt werden.“
Die Dame nahm die Karte und betrachtete sie eingehend durch ihre Brille, drehte sie und besah sich auch die Rückseite. Dann gab sie mir die Karte mit einem Schulterzucken zurück. „Das muss ein Irrtum sein“, sagte sie. „Ich kann mich erinnern, dass vor etwa zwei Jahren einige junge Leute hier waren, die mich gefragt haben, ob sie das Stück in meinem Theater aufführen könnten. Sie waren sehr enthusiastisch. Es hat mir leidgetan, ich selbst mag das Stück, aber ich musste ihnen einen Korb geben. Für so was gibt es einfach kein Publikum mehr. Was hätte es ihnen genützt, vor zwei drei alten Schachteln wie mir zu spielen.“
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Die Frau bemerkte natürlich meine Enttäuschung. Vielleicht wollte sie mich aus einem mütterlichen Impuls heraus trösten, denn sie lud mich ein. „Kommen Sie doch herein“, sagte sie. „Wir müssen nicht hier draußen reden. Ich mache Ihnen eine Tasse Tee und Sie erzählen mir, wie Sie zu der Karte gekommen sind. Vielleicht klärt sich ja alles auf.“
Gar nichts würde sich aufklären. Ich wollte nur noch weg, um irgendwo zur Ruhe zu kommen, aber wer weiß, wie oft die alte Dame Gelegenheit hatte, mit anderen zu reden. Mit ihrem geblümten, knielangen Kleid, der Perlenkette und den strassverzierten Hausschuhen wirkte sie aus der Zeit gefallen. Wie sie so dastand und mich durch ihre Brille mit den getönten Gläsern hindurch erwartungsvoll ansah, brachte ich es einfach nicht fertig abzulehnen und nickte ergeben.
„Ich bin Madame Laurent“, sagte sie und nachdem ich meinen Namen gemurmelt hatte, „kommen Sie, Monsieur Nakamura.“ Wenig später saßen wir in einem hellen Zimmer, das ihr wohl als Arbeitszimmer diente, denn in der Ecke neben einem großen Fenster stand ein altertümlich aussehender Sekretär mit vielen Schubfächern, an denen sich gedrechselte Griffe befanden und daneben ein mit Aktenordnern gefülltes Regal. An den Wänden hingen zahlreiche gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien. Die Frau bat mich, an einem kleinen Tisch in der Mitte des Zimmers Platz zu nehmen und verschwand, um Tee zu machen. Während ich wartete, fragte ich mich, was ich hier eigentlich sollte und überlegte schon, einfach aufzustehen und zu gehen, blieb aber sitzen. Zerstreut betrachtete ich die Fotografien. Zum überwiegenden Teil zeigten sie offenbar Szenen aus Theateraufführungen mit Darstellern in verschiedensten Posen und Kostümen. Auf vielen der Fotos war eine Frau zu sehen, die mir bekannt vorkam. Ich sah genauer hin. Dieses schmale, ovalförmige, von schwarzen Haaren eingerahmte Gesicht, die etwas zu große Nase, die ausgeprägte Kinnpartie, die dunklen Augen – die Ähnlichkeit mit Sophie war frappierend. Ich stand auf, um mir die Bilder näher zu betrachten. Gleich darauf erschien Madame Laurent wieder und stellte ein Tablett mit zwei Tassen Tee auf dem Tischchen ab.
„Das sind Erinnerungen an meine Zeit als Schauspielerin“, sagte sie, „ja, damals bin ich sogar am ‚Théâtre du Châtelet‘ aufgetreten.“ Sie seufzte. „Das ist jetzt schon so lange her. Aber mein Herz schlägt immer noch für die Bretter, die die Welt bedeuten. Diesen Monolog von Cocteau, den habe ich übrigens auch mal gespielt.“
„Die Frau hier auf dem Foto“, ich deutete auf eins der Bilder, „wissen Sie, wer das ist?“
„Wie sollte ich das nicht wissen?“ Madame Laurent kicherte. „Das bin ja ich.“ Sie musste meinen entgeisterten Blick bemerkt haben und verstand ihn falsch. „Nun, zugegeben, ich bin inzwischen alt und hässlich und habe kaum noch Ähnlichkeit mit diesem Mädchen da.“
„Aber nein, Madame, das ist es nicht“, sagte ich rasch. „Sie sind ihr tatsächlich sehr ähnlich.“ Es stimmte. Bei genauerem Hinsehen und wenn ich mir die Falten wegdachte und die weißen, lockigen Haare durch lange, schwarze ersetzte, konnte Madame Laurent durchaus die Frau auf den Bildern sein. „Es ist nur, die Schauspielerin hier sieht auch so aus wie das Mädchen, das mir die Karte gegeben hat.“
„Zufälle gibt es.“ Madame Laurent schüttelte den Kopf. „Aber trinken wir erst einmal Tee. Dabei können Sie mir alles erzählen.“
Wir setzten uns und ich begann zunächst mit Widerwillen, empfand dann aber sogar Erleichterung dabei, mir alles, was mir heute passiert war, von der Seele reden zu können. Während ich zwischendurch immer mal wieder an dem Tee nippte, der meiner Erinnerung nach ausgezeichnet schmeckte, erzählte ich von meinem Auftritt als Straßenmusikant, wie mich das unbekannte Mädchen zum Spielen der „Spanischen Romanze“ inspiriert hatte, wie ich ihr nachgelaufen war und wie sie mich schließlich eingeladen hatte, die heutige Vorstellung zu besuchen. „‚Die menschliche Stimme‘ von Cocteau, im ‚Théâtre noir‘. Hier auf der Karte steht es“, beendete ich meinen Bericht.
Die alte Dame schwieg lange. Dann sagte sie: „Oui, Monsieur, das ist wirklich seltsam. Ich kann nur vermuten, dass sie die Karten verwechselt hat. Vielleicht gehört sie zu den jungen Leuten, die vor zwei Jahren hier vorgesprochen haben. Vielleicht haben sie beim Druck der Flyer etwas durcheinander gebracht. Ihre neue Freundin hat Ihnen dann versehentlich einen der Fehldrucke gegeben.“
Das war immerhin eine vage Möglichkeit, auch wenn sie viel zu viele „Vielleicht“ enthielt. Wie auch immer. Hier saß ich nun und meine Verabredung war geplatzt.
„Es war bestimmt ein Irrtum“, versuchte mich Madame Laurent zu trösten. „Gehen Sie einfach morgen wieder an Ihren Platz an der „Saint Germain“. Sie werden sehen, Ihre Freundin wird sich auch da einfinden.“
„Ja, kann sein“, sagte ich nur.
Ich wollte mich gerade verabschieden, als Madame Laurent sagte: Ich weiß, meine Bitte ist vermessen und Ihnen ist sicher nicht danach, aber würden Sie für mich einmal diese ‚Spanische Romanze‘ spielen?“ Sie lächelte mich schüchtern an.
Wie hätte ich ihr die Bitte abschlagen können. Ich holte meine Gitarre aus dem Flur, wo ich sie abgestellt hatte und begann das Stück zu spielen. Ich spielte weiß Gott nicht besonders gut, spulte die Noten mehr oder weniger mechanisch herunter. Ich glaube, einmal vertat ich mich sogar und geriet kurz ins Stocken. Ihr schien es trotzdem gefallen zu haben.
„Merci beaucoup, Ich danke Ihnen vielmals, Monsieur“, sagte sie. Sie nahm die Brille ab und betupfte ihre Augen mit einem Tüchlein. „Ihr Spiel hat mich an etwas aus meiner Jugend erinnert, wissen Sie“, meinte sie dabei. In dem kurzen Moment, bevor sie ihre Brille wieder aufsetzte, sah sie mich direkt an. Ihre Augen waren von einem sehr dunklen Blau und sonderbar starr und glänzend.
Ich saß da wie erstarrt. Was ging hier vor? Wollte sich das Schicksal heute über mich lustig machen? Madame Laurent fragte mich, was ich hätte. Ich wehrte ab, es sei nichts, raffte die letzten Reste meiner Selbstbeherrschung zusammen, bedankte mich für den Tee und verabschiedete mich. Wieder auf der Straße atmete ich ein paar Mal tief ein und aus. Ohne mich noch einmal umzudrehen machte ich mich auf den Weg zurück ins Hotel. Inzwischen dämmerte es schon. Es war ein ruhiger, lauer Sommerabend. Die ersten Sterne waren zu sehen und am Horizont zeigte sich der Mond. Ich aber hatte keinen Sinn für all das. In meinem Kopf wirbelten die Eindrücke des Tages herum und entfalteten ein Eigenleben. Ich sah Sophie, die mich anlächelte, während ich die „Spanische Romanze“ spielte, dann stand an ihrer Stelle Madame Laurent und betupfte sich die Augen, der Mund des Bouquiniste stieß sein grässliches Lachen aus und flüsterte gleich darauf mit der Stimme Sophies: „A bientôt, Guitarman“. Mich überkam plötzlich das seltsame Gefühl, dass es mich zweimal gab, so, als ob zwei Schablonen von mir, die bisher exakt übereinander gelegen hatten, sich gegeneinander verschoben hätten. Zum einen war ich der Matsu, der durch die Straßen dieses Pariser Viertels ging und zum anderen gab es noch einen Matsu, der den anderen beobachtete und ihn fragte, ob er das alles nicht schon einmal erlebt habe. Das Gefühl war beängstigend und verflog erst, als ich mein Hotel in der Nähe von „Gare du Nord“ erreicht hatte.
Am nächsten Tag fand ich mich wieder an meinem Platz am Boulevard Saint Germain ein, auch am übernächsten und den darauffolgenden Tagen. Ich spielte und hoffte, hoffte und spielte. Ab und zu spielte ich auch die „Spanische Romanze“. Mehr konnte ich nicht tun. Was wusste ich denn schon über Sophie? Nur ihren Vornamen und dass sie in einer Off-Theaterproduktion spielte, welche „Die menschliche Stimme“ aufführte. Meine Nachforschungen im Internet nach solchen Theaterprojekten hatten nichts ergeben. Nirgendwo wurde das Stück aufgeführt. Warum hatten wir nicht wenigstens unsere Handy-Nummern ausgetauscht?
Mittlerweile war ich schon bekannt unter den anderen Straßenkünstlern. Die weißen Pantomimen gewährten mir ein Winken mit ihren Blättern, wenn ich kam und die Dame mit dem Hündchen nickte mir freundlich zu. Sophie tauchte nicht mehr auf. Ich hatte es irgendwann aufgegeben, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, warum sie mir diese Karte mit dem falschen Treffpunkt gegeben hatte. Ein Streich? Ihre Art, sich über Verehrer lustig zu machen? Ich hatte sogar überlegt, dass sie auf diese verrückte Art etwas Abwechslung in das Leben der alten Dame vom „Théâtre noir“ bringen wollte. Vielleicht war Madame Laurent irgendwie mit ihr verwandt. Dann wieder sah ich Sophie vor mir, hörte ihr geflüstertes „A bientôt, Guitarman“, fühlte sie in meinen Armen, roch ihr Parfüm und meine Theorie kam mir absurd vor.
Die Wahrheit würde ich nie erfahren.
Als mein Urlaub zu Ende war, fuhr ich zurück nach Santiago de Compostela. Doch das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Eines Abends übte ich im Studentenwohnheim gerade die „Sonata para Guitarra“ des spanischen Komponisten Antonio José. Sie wollte und wollte mir nicht gelingen und das lag nicht nur daran, dass dieses Stück äußerst herausfordernd ist, was die technische Virtuosität betrifft. Ich konnte mich, wie so oft in letzter Zeit, einfach nicht konzentrieren. Ich dachte an Sophie und spielte unwillkürlich die ersten Takte der „Spanischen Romanze“. In diesem Augenblick klingelte mein Handy. Ich nahm den Anruf an und hörte zunächst nur ein Knistern und Rauschen. Dann nach einer Weile eine Stimme, sie schien von weit her zu kommen, wie von der dunklen Seite des Mondes. Es war die Stimme von Sophie.
„Du darfst nicht so spät noch arbeiten, wenn du morgens so früh wieder aufstehst…“
Was redete sie da? „Sophie!“, rief ich.
„… Erinnerst du dich an Yvonne, die wissen wollte, wie die Stimme durch all die Kabelschlingen hindurch geht. Das Kabel ist um meinen Hals gewickelt. Deine Stimme ist um meinen Hals gewickelt…“
Was für ein Kabel? Das Telefonkabel! Plötzlich wurde mir klar, dass sie „Die menschliche Stimme“ war. „Sophie, ich bin‘s. Matsu!“, versuchte ich es erneut, aber sie redete immer weiter:
„… Fast hätte ich gesagt, bis gleich … Das glaube ich kaum … Mein Liebster, mein schöner Liebster…“
Ihre Stimme wurde schwächer. So laut ich konnte, schrie ich wieder ihren Namen, presste das Handy ans Ohr.
Da, kaum noch zu verstehen, eine Reaktion: „Guitarman? … Matsu, bist du das?“
„Ja, ich bin‘s, the Guitarman!“
„Guitarman…“
Es rauschte noch eine Weile, dann ein Klicken und die Verbindung war weg. „Guitarman“ war das letzte Wort, das ich von ihr gehört habe.
So wie ihre Stimme am Telefon leiser und leiser geworden war, verblasste in meiner Erinnerung allmählich auch ihr Bild. Manchmal denke ich, das mit Sophie war nur eine Schwärmerei und ihr Anruf eine Ausgeburt meiner überreizten Fantasie, zumal damals auf meinem Handy unter den eingegangenen Anrufen nichts verzeichnet war.
In Japan lernte ich meine Frau kennen. Sie ist meine große Liebe und wir sind nun schon seit fast zwanzig Jahren verheiratet. Aber hin und wieder erinnere ich mich an jenen Tag in Paris.
Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich Sophie nicht verloren hätte. Dachte sie vielleicht auch ab und zu an mich, den Guitarman? War sie Schauspielerin geworden, hatte sie jemanden gefunden, mit dem sie glücklich war? Oder ist sie auf der dunklen Seite des Mondes, ein Telefonkabel um den Hals geschlungen und telefoniert mit ihrem Geliebten? Ich versuche sie zu erreichen und nehme meine Gitarre.