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Die Schneeleute
Letzen Winter haben wir auf einem Berg einen riesengroßen Schneemann gebaut, dein kleiner Bruder Simon, du, und ich. Eigentlich war dein Bruder noch zu klein um wirklich zu helfen, aber das war schon in Ordnung so.
Wir haben drei Schneekugeln gemacht, ein große, eine mittlere, und eine kleine, und gemeinsam haben wir die Kugeln aufeinander gestellt. Simon hat zwei Äste gefunden, aus denen machten wir die Arme. Du hast dem Schneemann Haare aus Zweigen gemacht, ich habe ihm Steine als Augen gegeben, und Simon hat ihm noch einen Mund gemacht. Hut hatte er keinen, aber das machte nichts.
Dann waren wir fertig, und weil wir alle ganz kalt und nass waren, gingen wir nach Hause und tranken Kakao.
Am nächsten Tag sind wir noch mal zu dem Schneemann gegangen und Papa war diesmal auch dabei. "Boa, der schaut ja totaaaaaaaaaaaaal super aus!", sagte er, "Aber etwas fehlt noch!" – "Was denn, Papa?", hast du gefragt. Und Simon hat auch gefragt: "Was?".
"Na eine Schneefrau natürlich! Mit wem soll denn der Schneemann tanzen?"
Also haben wir eine Schneefrau gebaut. Wir waren diesmal zu viert und hatten schon etwas Übung, und deshalb wurde die Schneefrau bald fertig. Simon hat ihr Haare aus Gras gemacht, und du hast Steinaugen für sie gefunden. Und weil wir wieder kalte Finger hatten (und außerdem begann es, finster zu werden), gingen wir wieder nach Hause Kakao trinken.
Und weil nachher zuerst du und dann dein Bruder Scharlach hatten, und wir danach lieber ins Hallenbad gingen, und weil dann deine Oma zu Besuch kam, und weil Papa und ich viel arbeiten mussten und keine Zeit hatten, sahen wir den Schneemann und seine Frau nie wieder.
Aber das macht nichts. Ich weiß nämlich ganz genau, wie ihre Geschichte weiterging:
Als wir heimgegangen waren um Kakao zu trinken, passierte erstmal nichts. Es wurde richtig finster. Und dann kam der Mond hervor, groß, voll und rund war er! Er gab zuerst dem Schneemann und dann der Schneefrau ein Bussi, und ob du's glaubst oder nicht: Sie wurden richtig lebendig!
Der Schneemann verneigte sich vor der Schneefrau und fragte: "Darf ich bitten, schöne Frau?", und die Schneefrau machte einen Knicks und sagte: "Sehr gern, mein Herr!".
Und sie tanzten. Sie tanzten den Berg hinunter, sie tanzten zum zugefrorenen See, sie tanzten auf dem See, dass es nur so huschte, sie tanzten aufs Ufer, sie tanzten den Weg entlang, sie tanzten, bis der Mond unterging, und er rief ihnen noch zu: "Passt auf die Sonne auf! Wenn die Sonne aufgeht, müsst ihr wieder auf dem Berg sein! Sie darf euch nicht tanzen sehen!". Und er verschwand.
Aber der Schneemann und die Schneefrau tanzten durch den Wald, sie tanzten auf der Wiese, sie tanzten auf dem zugefrorenen Bach.
Allmählich wurde es ein kleines bisschen hell im Osten, und der Schneemann und die Schneefrau tanzten und tanzten.
Dann wurde es ein bisschen heller, aber der Schneemann und seine Frau tanzten weiter.
Dann wurde der Himmel im Osten rosa, dieses blasse, kalte Rosa, wie man es nur an schönen Wintermorgen sieht, und die Schneeleute tanzten weiter.
Dann wurde das Rosa immer orangiger, goldener, und der restliche Himmel wurde blassblau.
Da rief der Schneemann "Ach herrje!" und die Scheefrau rief "Ojemine!" und die beiden rannten so schnell sie konnten zurück zum Berg.
Sie rannten über den Bach, sie rannten über die Wiese.
Das Rosa war jetzt ganz golden geworden und es wurde richtig hell.
Sie rannten den Weg entlang, sie rannten aufs Ufer, sie rannten über den See, und als sie ganz atemlos den Berg hinaufliefen, fielen die ersten orangegoldenen Sonnenstrahlen auf die Wipfel der Fichten auf dem Gipfel.
Sie waren ganz außer Atem als sie kurz darauf auf ihrem Platz stehen blieben, und sie kicherten genauso aufgeregt wie du und dein Bruder, wenn ihr wild gewesen seid. Und kaum waren sie stehen geblieben, da berührte schon der erste Sonnenstrahl ihre Köpfe, und sie waren wieder ein ganz normaler Schneemann und eine ganz normale Schneefrau.
So standen sie den ganzen Tag und es geschah nichts weiter. Aber als die Sonne untergegangen war, kam der Mond, fast so rund wie am Tag zuvor, und gab ihnen ein Bussi, und sie erwachten zum Leben, und der Schneemann verneigte sich vor seiner Schneefrau, und die Schneefrau machte einen Knicks und sie tanzten wieder die ganze Nacht.
Aber weil sie wussten, wie knapp es am Vortag gewesen war, passten sie ein bisschen auf beim Tanzen, und als sie merkten, dass es heller wurde, tanzten sie zurück. Dann standen sie noch ein bisschen auf ihren Plätzen, atemlos, lachten und plauderten. Und als die Sonne aufging, war der Zauber gebrochen, und sie wurden wieder ein ganz normaler Schneemann und eine ganz normale Schneefrau.
Und als es Abend wurde, und der Mond kam, war er etwas dünner geworden, und die beiden tanzten wieder die ganze Nacht.
So ging es immer weiter: Am Tag war nichts ungewöhnliches zu bemerken, aber wenn der immer dünner werdende Mond sie küsste, erwachten die beiden und tanzten.
Allerdings veränderte sich nicht nur der Mond: Die Nächte schienen kürzer zu werden, die Sonne schien immer länger, und sie begann Spuren zu hinterlassen. Der Schneemann verlor irgendwann einen Arm, die Schneefrau verlor einige Knöpfe und schließlich ein Auge.
Aber jede Nacht kam der Mond, mittlerweile schon sehr abgemagert, und erweckte sie zum Leben. Und sie tanzten immer noch, aber meistens nur noch zum See hinunter, und dann gingen sie langsam den Berg hinauf und stützen sich gegenseitig dabei.
Irgendwann waren die beiden kaum noch zu erkennen. Jeden Abend, wenn sie erwachten, waren sie unter der immer länger scheinenden Sonne etwas geschmolzen.
Und als schließlich der Mond ganz verschwunden war, wachten sie nicht auf, weil sie ja niemand geküsst hatte.
Am nächsten Abend kam der Mond wieder, eine hauchdünne Sichel, kaum da. Und er küsste die beiden.
Sie erwachten zum Leben. Aber es gab kein Verneigen und kein Knicksen. Stattdessen blickten sie den Mond an. "Was ist? Wollt ihr nicht tanzen?" –„Nein, danke. Wir haben genug getanzt. Wir sind sehr müde und wollen eigentlich nur noch schlafen.", sagten die beiden. "Wie ihr wollt!", sagte der Mond, beugte sich zu ihnen herunter, und gab ihnen wieder ein Bussi und sie wurden wieder ein ganz normaler – wenn auch schon sehr ramponierter - Schneemann, und eine ganz normale –wenn auch ziemlich ramponierte – Schneefrau.
Und sie wachten nie wieder auf.
Und als die Sonne aufging, war sie warm und schön, und dann kamen der Regen und der Südwind, und sie wuschen den alten Schnee weg. Die Nächte wurden kürzer, der Mond wieder voller, die Tage länger und wärmer. Von den Schneeleuten waren nur noch zwei matschige Pfützen zu sehen, und als der Regen aufhörte, und die Sonne mit ihren Strahlen die Wiese wach küsste, dann öffneten sich leise, leise die ersten Schneeglöckchen. Und der Südwind streichelte sie sanft, und sie schienen zu tanzen.