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Die Reise
Der Himmel färbt sich im Osten bereits rot, als Jan meine Reisetasche in den Peugeot hievt. Überquellende Autobahnen sind mir ein Graus, darum breche ich frühzeitig auf. Er zieht mich noch einmal fest an sich. Weiße Atemwolken steigen aus seinem Mund, als er mir eine gute Reise und viel Erfolg wünscht. Beides kann ich gebrauchen, doch ich könnte nicht definieren, was Erfolg in meinem Falle bedeutet. Egal, was immer wir erfahren werden, wir haben die richtige Entscheidung getroffen. Ich freue mich auf meine kleine Schwester, Sabrina. Und ich spüre die Erleichterung darüber, dass wir Geschwister uns wieder nahe sind. Auch wenn ich in Babelsberg lebe, treffen wir uns häufiger als in den Jahren zuvor. Was uns einst trennte, verbindet uns heutzutage. Und es sieht so aus, als hätten wir in all den Jahren nur in den Startlöchern auf die Chance gelauert, über die Sache mit Vater zu reden.
Bei Muttis Siebzigstem vor zwei Jahren hatten wir uns wieder mal die Köpfe heiß diskutiert und spekuliert. Als Sabrina das Wort Akteneinsicht aussprach, herrschte für einen Augenblick Schweigen.
„Nicht dein Ernst? Horch und Guck?“, fragte Robert dann.
„Warum nicht?“, sagte sie ruhig. „Ich denke, wir brauchen Klarheit.“
„Klarheit?“ Er lachte bitter und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was willst‘n finden, Schwesterchen, wenn der Fall nie aufgeklärt wurde.“
„Irgendwas“, sagte Sabrina und zuckte die Schultern. „Alles ist besser als das Rätselraten.“
„Bringt doch nichts, das Buddeln im Morast, Mensch Leute. Gibt bloß Mord und Totschlag, wenn du liest, dass dein bester Freund dich bespitzelt hat“, sagte Robert.
Ich schaltete mich ein. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Du bist doch derjenige, der immer vermutet hat, dass man uns nach Strich und Faden verarscht hat.“
„Kinder!“, sagte Mutti, „irgendwann muss es doch auch mal gut sein.“ Bisher hatte sie still
dabeigesessen. „Die alten Wunden aufreißen, was soll das denn bringen?“
Sabrinas Augen blitzten, als sie Rehabilitation sagte, ganz langsam, jede Silbe betonend. Sie hatte recht, wir sollten endlich etwas tun, anstatt in Endlosschleifen zu palavern.
„Fast dreißig Jahre ist das jetzt her“, sagte ich. „Und die Leute zeigen immer noch mit Fingern auf uns. Das klebt doch an uns wie Hundescheiße.“
Mutti warf mir einen tadelnden Blick zu.
„Macht doch, was ihr wollt“, sagte Robert.
Und das taten wir auch. Sabrina und ich stellten einen Antrag an die Birthler-Behörde.
Das Verkehrsaufkommen auf dem Berliner Ring ist erträglich. Nachdem ich am Dreieck Potsdam auf die A9 aufgefahren bin, versuche ich mich zu entspannen, löse meine klebrigen Finger vom Lenkrad. Das ist ein Teil der Strecke, die er zweimal die Woche fuhr. Hier kannte er jeden Baum, jedes Gebäude, jedes Schlagloch. Er erschien mir immer beschwingt, wenn er auf Tour ging, so als würde eine Last von ihm abfallen.
Das Autoradio dudelt vor sich hin. In den Nachrichten geht es um Chile. Die Erde hat schon wieder gebebt. 7,2 auf der Richterskala. Die Berliner Polizei steht kurz vor der Aufklärung des Raubüberfalls auf das Pokerturnier im Hyatt. Ich drehe die Lautstärke höher. Am Wochenende haben bewaffnete und maskierte Männer eine Viertelmillion Euro erbeutet. Nicht zu fassen, wie dilettantisch sich die Gangster angestellt haben. Einer läuft ohne Sturmhaube direkt in eine Überwachungskamera. Ein Augenzeuge im Rollstuhl notiert sich das Kennzeichen des Fluchtfahrzeugs.
Da hatten die Täter, die '79 in die Spedition einbrachen, in der unser Vater arbeitete, schon mehr Glück. Die Beute: Lohngelder und Valutamittel. Verbrecherischer Diebstahl von Volkseigentum. Ein spektakuläres Ereignis für den Kreis, das schnell die Runde machte. Eine eigenartige Mischung aus Sensationsgier, Empörung und Bewunderung hatte die Menschen erfasst. Als wären sie zutiefst dankbar dafür, dass endlich etwas Verruchtes passierte, das sie aus ihrer Lethargie riss und die Fantasie beflügelte.
Meine Eltern hatten die Küchentür hinter sich geschlossen. Zum ersten Mal bedauerte ich, dass anstelle der Mauerdurchbrüche echte Türen vorhanden waren. Nun zog es zwar nicht mehr im Anbau, doch von den interessanten Unterhaltungen wurde ich ausgesperrt. Durch die Milchglasscheibe konnte ich die Schemen der beiden erkennen. Vater redete mit den Händen, ab und zu stand er auf, lief zwei, drei Schritte, setzte sich wieder.
Als ich die Küche betrat, hörte ich ihn gerade noch sagen: „… mein Bier auch Daheim trinken können. So eine verfluchte Scheiße.“
Er sah mich an, als hätte ich ihn bei etwas Verbotenem ertappt, und leckte an der Fingerspitze. Dann blätterte er weiter Scheine auf die Wachstuchdecke, einige Hunderter, stopfte den Packen in seine Zweitbrieftasche, die für die Kundengelder. Die Leute aus der Umgebung rannten uns die Bude ein. Er gefiel sich in der Rolle. Herbert Knaup, der Retter all der Vergessenen im Süden der Republik. Ein Robin Hood in der real existierenden Mangelwirtschaft, der in der Hauptstadt Konsumgüter beschaffte und mit dem betriebseigenen LKW beförderte.
„Man muss nur die richtigen Leute kennen“, sagte er immer. „Und gute Argumente haben.“ Dabei rieb er Daumen und Zeigefinger aneinander und lachte, sodass sein Goldzahn blitzte.
Ich überlegte, ob ich das Thema überhaupt anschneiden sollte. „Der Einbruch sorgt ja tüchtig für Wirbel. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was auf Arbeit und im Bus los war.“
Mutti murmelte: „Die übertrumpfen sich gegenseitig. Was der eine nicht weiß …“
Vater nickte abwesend und sagte wie zu sich selbst: „Tja, da ham se tatsächlich eingebrochen. Die verdammten Schweine.“
„Weiß man denn schon was Genaues?“, fragte ich und dachte sofort, dass ich keinen Deut besser war als all die übrigen Neugierdsnasen.
„Uns informiert man wohl?“ Vater lachte bitter. „Jeder Kollege soll vernommen werden. Die Kripo dreht jeden Stein um, das sag ich euch … bis sie was finden.“ Er knetete und rieb seine Hände, betrachtete sie, als wüsste er nicht, was er nun mit ihnen anfangen sollte. „Die Brüder haben sich ausgekannt. Wahrscheinlich Betriebsangehörige.“
Mutti war immer noch damit beschäftigt, Vaters Reiseproviant vorzubereiten. „Wo tu ich denn den Bohnensalat hin?“ Sie stellte die Frage so, als hinge von der Antwort der Weltfrieden ab.
Normalerweise würde Vater jetzt sagen: „Oh, jedes Böhnchen ein Tönchen“, und dazu meckern wie eine junge Ziege. „Lass dir was einfallen!“, war alles, was er brummte.
Dann stand er abrupt auf. Wir hörten ihn die Treppe hochpoltern und schauten uns verständnislos an.
Umgezogen, glatt rasiert und mit streng nach hinten gekämmten Haaren kam er zurück. Eine Rasierwasserwolke umgab ihn. Plötzlich hatte er es eilig. Er schnappte sich die Aktentasche aus speckigem Leder, mit der er immer aussah wie ein abgehalfterter Buchhalter.
„Na, dann. Bis Donnerstag.“ Vater stieg in seinen Jelcz, die Hauptstadt rief.
Mein Christophorus, der Schutzpatron der Autofahrer, ist ein blauer Affe aus Lapislazuli. Er schaukelt am Innenspiegel. Es ist der, der sich die Augen zuhält. Komischerweise werde ich das Gefühl nicht los, dass er mich beobachtet und sich über mich lustig macht. Ich gebe ihm einen Schubs und er taumelt betrunken um die eigene Achse.
Eine Woche später saßen wir um Omas Küchentisch. Sie hatte Kiefernscheite nachgelegt und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Die Herdplatte glühte und ich zog meine Strickjacke aus, weil die Hitze unerträglich wurde. So wie das Schweigen. Ich wollte schreien und wäre es nur, um überhaupt einen menschlichen Laut zu hören.
„Iss was!“, sagte Oma und deutet mit der Messerspitze auf die Büchse Leberwurst, die sie geöffnet hatte. „Von Schuberts, Hausschlachtung.“
In dem alten Steinkrug hatte sie ein Pilsner mit Zucker und Ei verquirlt und goss die bauchigen Senfgläser voll. Zum Glück schmeckte die trübe Brühe besser, als sie aussah. „Also noch immer nix?“, fragte Oma.
Mutti schüttelte den Kopf, ganz vorsichtig, als hätte sie Angst, ihre sortierten Gedanken könnten wieder durcheinandergeraten.
„Was der Kerl sich nur denkt?“, nuschelte Oma mit vollem Mund und schnitt sich noch ein Dreieck vom Leberwurstbrot ab. „Nach’m Westen abhaun, zuzutrauen wär‘s ihm ja.“
„Hör auf, Mutter!“, sagte Mutti leise. Nur die steile Falte zwischen den Augen verriet ihren Ärger. „Da muss etwas passiert sein, sonst wär er längst zurück.“
Es lief eine Fahndung nach unserem Vater. Gefahr der Republikflucht. Natürlich vermutete nicht nur die Kripo, sein Verschwinden könnte etwas mit dem Einbruch zu tun haben. Seit Tagen lebten wir in einer Blase, in der die einzige Gewissheit die Ungewissheit war. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem es keine Rolle spielte, welche Nachricht überbracht wurde, Hauptsache, es wurde überhaupt eine überbracht. Und ich schämte mich dafür.
Wir schauten uns erschrocken an, als es klingelte. Ich lief zur Haustür. Zwei fremde Männer standen vor mir. Gut gekleidet. Ernster Blick.
Mutti war mir gefolgt, schob mich sanft zur Seite. „Geh wieder rein!“
„Guten Abend. Frau Knaup?“, hörte ich einen der beiden in meinem Rücken sagen. „Wir müssen Ihnen …"
Ich lehnte mich von innen gegen die Küchentür. Meine Knie zitterten und ich fiel kopfüber in ein tiefes schwarzes Loch.
Die Abfahrt Coswig kommt näher. Sechs Buchstaben auf der Ankündigungstafel, die für einen atemlosen Moment sorgen. Wie jedes Mal, wenn ich diese Stelle passiere. Nie bin ich vorbereitet. Nie werde ich vorbereitet sein. Hier irgendwo in den Wäldern ist es geschehen. Die Bilder in meinem Kopf sind schlagartig da, lassen sich nicht vertreiben. Es nieselt. Novemberkälte. Stille im Wald. Nur ab und zu knackt ein Ast unter Vaters Sohlen, als er sich durch das Dickicht schiebt. Er kennt sich in der Gegend nicht aus. Er hat sich überhaupt nicht mehr ausgekannt. Und wir auch nicht.
Mutti verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie war nachmittags von einer Befragung oder Zeugenvernehmung, oder wie immer sie das nannten, nach Hause gekommen.
„Hier! Lies!“ Sie sah mich mit geröteten Augen an, schob das Stück Papier über den Tisch und putzte sich die Nase. Dann schaute sie aus dem Fenster in den regnerischen Tag, folgte den Spuren der Regentropfen, die über die Scheibe rannen, und schüttelte ununterbrochen den Kopf.
Wortlos nahm ich das Blatt, das aussah wie aus einem Schulheft gerissen. Der Abschiedsbrief. Eine Kopie. Das Original wurde sicherlich graphologisch bewertet. Für mich gab es keinen Zweifel, unverkennbar die Schönschrift unseres Vaters. Als hätte es noch eines allerletzten Beweises bedurft, dass er nicht zurückkommen würde.
Mein Herz hämmerte laut an den Brustkorb, als ich die Zeilen überflog. Ich las ein zweites Mal, konzentrierter, analytischer. Das waren also seine letzten Gedanken, sein letzter Wille. Wie hilflos muss er sich gefühlt haben, alleine in der Fahrerkabine, auf dem einsamen Parkplatz. Der Wortlaut gibt Rätsel auf, in den abgebrochenen Sätzen, zwischen den Zeilen steckt so viel Verzweiflung. Ich bin unschuldig … habe mit dem Einbruch nichts zu tun. Haltet zusammen … Verzeiht mir … will keine Verhöre auf mein Gewissen laden. Das sollte also die Erklärung dafür sein, dass er Mutti mit einem Berg Schulden und dem Nesthäkchen Sabrina sitzen ließ. Die geneigten Buchstaben wurden spitz und scharf wie Reißzähne, schnappten zu, bissen sich fest in meinem Verstand. Das war doch nicht der kampflustige Vater, wie ich ihn kannte, der Vater, der gerne mal aneckte, der lauthals hinausposaunte: „Alles Lumpen und Verbrecher.“ Hier schrieb doch ein erbärmlicher Feigling mit Muffensausen.
„Aber, wenn er unschuldig ist, wieso fürchtet er die Verhöre?“, fragte ich.
„Wer ist schon unschuldig?“, murmelte Mutti.
Mehr würde ich von ihr nicht erfahren.
Nach einer Weile zuckte sie mit den Schultern und sagte: „Nichts weiß ich, gar nichts.“
Willkommen im Freistaat Thüringen. Ich bin froh, als ich endlich am Kreuz Erfurt auf die A71 auffahre. Es ist mir die liebste, irgendwie wirkt sie so unberührt, wie frisch gewaschen. Die Gegend wird hügelig und bewaldet. Als ich die Scheibe herunterlasse, riecht der Fahrtwind nach Schnee und Heimat.
Das Schöne an Tunneln ist, dass sie irgendwann zu Ende sind. Doch der nächste liegt vor mir. Beinahe achttausend Meter Röhre. Ich drossle die Geschwindigkeit und starre auf die beiden Höhleneingänge, die wie die Augen eines lauernden Tieres zurückglotzen. Während ich in den Tunnel eintauche, glaube ich zu ersticken, lebendig begraben zu werden.
Sabrina und ich flankierten Mutti auf dem Weg zur Leichenhalle, in der der Verräter aufgebahrt lag. Kies knirschte unter unseren Sohlen.
„Wollt ihr ihn noch mal sehen, Abschied nehmen?“, fragte Mutti und sah durch Sabrina und mich hindurch.
„Nee, lieber nicht“, sagte Sabrina scheu.
Ich schüttelte den Kopf.
„Vielleicht besser so. Behaltet ihn so in Erinnerung …“
Nach der Obduktion hatte die Staatsanwaltschaft den Leichnam endlich frei gegeben, allerdings nur zur Erdbestattung. Angeblich konnte keine Fremdeinwirkung festgestellt werden. Doch Robert und Mutti klammerten sich an die Hoffnung, dass auch Gerichtsmediziner irren können.
Muttis Lippen zitterten, doch sie ging aufrecht die Stufen nach oben. Ich bewunderte ihre Stärke und fragte mich, wie sie es schaffte, nicht die Kontrolle zu verlieren.
Mir hatte sie zwei Faustan verabreicht. Der Schmerz verlor für kurze Zeit seine scharfen Kanten. Und so stand ich aufrecht wie ein Soldat vor dem Kiefernsarg und schaute mit trockenen, brennenden Augen in die Gesichter, bis sie zu einer bleichen Masse verschwammen.
Der Trauerredner sprach über den Mann im Sarg, als hätte er ihn zu Lebzeiten persönlich gekannt. Er pries seine Vorzüge: ein hilfsbereiter Kollege, ein fürsorglicher Familienvater. Kein Wort über Feigheit oder Schuld, kein Wort über den Strick um seinen Hals.
Suhl ist mir fremd, so als wäre ich noch nie hier gewesen. Es hat sich einiges verändert in den letzten zwei Jahrzehnten. Wenn ich das Navi nicht hätte, wäre ich verloren. Eingepfercht in den engen Talkessel wirkt die Stadt, als wolle sie ausbrechen aus dem Korsett. Heute sind es Discounter, die eine Nummer zu groß wirken, damals sozialistische Vorzeigebauten, eifrig aus dem Boden gestampft. Selbstüberschätzung im Großen wie im Kleinen.
Das Trauma meiner Jugend hat mich gerade eingeholt. Ich stehe inmitten des Chaos und schmecke den Mörtelstaub auf der Zunge. Vater hat große Pläne mit dem Elternhaus von Mutti. Anbauen. Modernisieren. Wir hausen zu fünft in einer provisorischen Küche und zugigen Schlafzimmern. Auf den Möbeln liegt eine permanente Staubschicht. Es geht nicht vorwärts, irgendetwas fehlt immer: Estrich, Fliesen, Türen, Fenster, Geld. Beinahe nicht vorstellbar, denn wenn jemand in der Lage ist, das Notwendige zu organisieren, dann unser Vater mit seiner florierenden Ich-AG, am Rande der Legalität. Mein Mund ist trocken und ich nehme die Flasche vom Beifahrersitz. Das Wasser schmeckt nach Zement.
Sie haben Ihr Ziel erreicht, verkündet das Navi erneut, als ich in der Parkbucht zum Stehen komme. Eine halbe Stunde zu früh. Um den Kopfschmerz zu lindern, massiere ich die Schläfen. Es hat zu schneien begonnen, keine Seltenheit für Anfang März in dieser Höhe. Pulverschnee legt sich auf die Frontscheibe, sodass die Umrisse des nüchternen, einfallslosen Sechzigerjahrebaus verwischen. Das perfekte Gebäude für die Aufbewahrung von brisantem Material. Zweckdienlich, klinisch kalt.
Und mit einem Mal sitze ich wieder im Wartburg, der auf dem kleinen Platz zwischen dem Gemüseladen und der Mohren-Apotheke steht. Wie jeden Freitag hole ich Mutti von der Arbeit ab, um gemeinsam zum Wochenendeinkauf zu fahren. Allmählich kriecht mir die Kälte in die Knochen. Gerade als ich nachschauen will, wo sie bleibt, öffnet sie die Wagentür.
„Musstest lange warten, heute, was?“, sagt sie abgehetzt, als hätte sie einen Hundert-Meter-Lauf hinter sich, doch sie lächelt. Die Windschutzscheibe ist von der Atemluft beschlagen, mit der bloßen Hand wischt Mutti über das Glas und schaut hinaus. Ich reiche ihr einen Baumwolllappen.
„Siehst du? Da drüben, den hellen Wartburg?“ Mutti macht eine Bewegung mit dem Kopf.
Gegenüber entlang des Bürgersteigs parkt eine Reihe Autos, nichts Ungewöhnliches.
„Na und“, sage ich, „wer soll das sein?“
„Na, wer wohl? Meine Schutzengel.“
„Die Kripo?“
„Nicht direkt“, sagt Mutti.
Es dauerte eine Weile, bis der Groschen bei mir fällt. „Die Stasi? Was wollen die denn von dir?“ Mir wurde heiß und ich trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad. „Und das erwähnst du mal so ganz nebenbei?“
Mutti lässt sich mit der Antwort Zeit. „Ich soll darüber nicht sprechen. Außerdem sag ich’s dir ja gerade.“
„Die denken tatsächlich immer noch, wir haben das Geld.“ Mein Lachen hörte sich an wie das Schnauben einer aufgeregten Stute.
„Die stecken fest“, sagt sie hilflos, als wäre es ihr Mitverschulden, und sie wirkt, als würde sie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben.
„Acht Jahre“, sage ich, „acht Jahre fischen die schon im Trüben. Und den Pappnasen fällt nix Besseres ein, als wehrlosen Witwen aufzulauern.“
„Die kommen aus Suhl“, erzählt Mutti ruhig weiter, als wäre das ein Grund, der die Observation rechtfertigen würde. „Manchmal fahren sie einfach im Schritttempo neben mir her, manchmal, wenn sie noch Fragen haben, bringen sie mich auch zum Bahnhof.“
„Das glaub ich jetzt nicht.“ Ich schüttle den Kopf. Das Gespräch erscheint mir unwirklich, fast wie ein böser Traum. Ich bin nicht sicher, was mich mehr aufbringt, Muttis Gleichmut oder die allgegenwärtige Präsenz und die unverhohlene Drohung: Irgendwann kriegen wir euch!
Es klopft an die Seitenscheibe und ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Sabrina steht neben dem Fahrzeug, ganz in Pudertönen. Die blonde Kurzhaarfrisur frech gestylt. Sie ist das junge, helle Pendant zu mir. An mir ist alles dunkel. Siehst gut aus, kleine Schwester, denke ich zärtlich. Während ich aussteige, merke ich, wie verspannt meine Arme und Beine sind.
„Wie war die Fahrt?“, fragt Sabrina. Sie hält einen Schirm über mich. Bei unserer Umarmung ist er im Wege. Wir lachen.
„Ganz okay.“
„Meine auch.“
Sie hakt sich bei mir unter und sagt unvermittelt: „Erzähl mir was von Papa!“
Damit habe ich nicht gerechnet und ich suche den Boden ab, als könnte ich die Antwort zwischen den Schneekristallen finden.
„Mm, er war … er war unglaublich. Von einer Sekunde zur anderen konnte seine Stimmung ins Gegenteil umschlagen. Na ja, ein Choleriker halt. Er hat mir den vollen Suppenteller aufgesetzt, als ich mich geweigert habe, die eklige Kartoffelsuppe zu essen. Da war ich vier oder fünf.“
„Wusst ich’s doch. Dass du die Nummer bringst“, sagt sie und grinst mich an. „So, und jetzt was Schönes!“
Ich muss lächeln. „Gut. Kennste die?“, sage ich und stupse sie am Oberarm. „Als ich vierzehn war, und Robert elf …“
„Logisch war er elf“, unterbricht sie mich.
„Ja, also, … Robert elf, da fanden wir auf dem Dachboden ein Versteck. Stangenweise Ernte 23 und Marlboro, kartonweise Dujardin und Jägermeister. Namen, die wir damals nur aus der Fernsehwerbung kannten, aber nicht von den Tausend Tele-Tips.“
„Westware“, sagt Sabrina.
„Klar. Robert behauptet, aus ‘nem Intershop an der Autobahn. Auf jeden Fall hat Robert sich reichlich bedient und mit seinen Freunden geteilt. Die haben gequalmt wie die Stadtsoldaten. Glaub es oder nicht! Zu meiner Jugendweihe standen dann Schnaps und Zigaretten in rauen Mengen auf den Tischen, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.“
„Heiße Ware, ganz schön riskant“, sagt Sabrina.
„Denke schon. Vielleicht brauchte Vater den Nervenkitzel. Wird seine stille, private Rebellion gegen das System gewesen sein, wollte es schädigen. Was weiß ich.“
„Idiotisch. Und dann hat er Schiss vor den Verhören?“
„Ja, der Rebell tritt die Flucht an, bringt seine Familie in Teufels Küche“, sage ich und der Zorn grummelt wieder in meinen Eingeweiden.
„Na, dann komm! Es wird Zeit. Vielleicht finden wir ein paar Hinweise.“
Sie schließt den Schirm, schüttelt den Schnee ab, während ich die Pendeltür festhalte. Vielleicht bekommen wir eine Ahnung, wer der Mann war, den wir Vater nennen.
Sabrina schaut mich eindringlich an, legt ihre Hand auf meinen Arm. „Bereit?“, fragt sie.
Bilder tauchen auf, schieben sich vor das Gebirge meiner Wut. Wir umringen stumm das offene Grab. Robert balanciert eine Schubkarre voll Mörtel über die wackelige Bohle, strauchelt kurz. Vater lacht, sein Goldzahn blitzt in der Sonne. „Los weiter! Keine Schwachheiten spüren lassen, Großer!“ Wir wandern durch den Wald. Vater hat einen Arm um Muttis Schulter gelegt, mit der anderen Hand schlenkert er einen Dederonbeutel, in dem Sabrinas Töpfchen steckt. Wir schreien die Bäume an: „Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?“ Sabrina plappert alles nach. Robert und ich dürfen auf der Pritsche des LKW mitfahren, obwohl das verboten ist. Doch darum schert sich Vater einen feuchten Kehricht. Wir schieben die Plane zur Seite, stecken unsere Köpfe nach draußen und winken, wenn wir einen Passanten sehen. Ich spaziere zwischen meinen Eltern, sie halten meine Hände. „Flieg, Engelchen flieg“, ruft Papa vergnügt. Ich jauchze, mir wachsen Flügel und schon schwebe ich durch die Luft.
Ich schließe die Augen. Ich bin bereit.
- Verwendete Wörter
- Kopfüber, Zeuge, Rollstuhl, Lapislazuli, Flügel